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Der Verwalter hatte recht gehabt: die Wege waren jämmerlich; in den Schluchten, die passiert werden mußten, lag der Schnee an einigen Stellen mehrere Fuß hoch. Seine beiden besten Ackerpferde, die Herr Naumann hatte einspannen lassen – die Kutschpferde waren bei der Frau Baronin in der Stadt – mußten ihre ganze Kraft hergeben, den leichten Jagdwagen durch die schwierigen Passagen zu bringen. Mehr als einmal waren Knecht und Herr herabgestiegen und hatten die Schultern an die Räder gestemmt. Etwas besser ging es in dem verhältnismäßig ebenen Terrain, das man nach Durchquerung der Waldhügelkette erreichte, nur daß sich hier der Wind entgegenlegte, der im Walde durch das kahle Gezweig der Buchen und die Wipfel der Tannen gesaust war. Und trotz aller Anstrengungen war man noch zwanzig Minuten von dem Rendezvous am Nödaer Loch, als Astolfs Uhr auf neun wies.
Der Herzog war, von einer andern Seite kommend, fünf Minuten nach neun erschienen und hatte den Oberförster, die Förster, die Piqueure mit der Meute und die drei befohlenen Herren: Rittmeister von Helmsdorf, Kabinettsrat von Thiele, Kammerjunker von Rörlach zur Stelle gefunden. Er sah, ganz gegen seine Gewohnheit, wenn es zur Jagd ging, sehr ernst aus. Auf des Kabinettsrats Frage nach dem Befinden von Hoheit, der Frau Herzogin, erwiderte er:
»Es geht heute leider gar nicht gut. Seit gestern abend hat sich ein Fieber eingestellt, das heute morgen noch neununddreißig Grad hatte. Vogelein sagt: es hat nichts zu bedeuten; aber wer kann sich denn auf die Herren Aerzte verlassen! Ich stand schon im Begriff, die Jagd abzusagen und hätte es gethan, wäre es nicht um Baron Vachta, der auch kommen wird, und den ich notwendig zu sprechen habe.«
Er hatte sich zum Oberförster gewandt, der seinen Rapport abstattete. Die drei Herren blickten einander verwundert an. Kein Mensch hatte von des Barons Rückkehr gehört. Dafür cirkulierte bereits seit mehreren Tagen ein immer dreister auftretendes Gerücht: zwischen ihm und dem Herzog habe, nachdem ihre Entente den denkbar höchsten Grad erstiegen und des Barons Ernennung zum Minister schon ausgefertigt im Kabinett gelegen, ein plötzlicher irreparabel schroffer Bruch stattgefunden. Einige meinten: gelegentlich des politischen Programms, das Vachta gemäßigt liberal, Hoheit streng konservativ gewünscht habe; andre wollten von persönlichen Mißhelligkeiten wissen, deren letzter Grund natürlich bei den Damen zu suchen sei. Für letztere Ansicht war besonders hartnäckig Herr von Brenken eingetreten, der immer mehr wußte als andre Leute, und schien der Umstand zu sprechen, daß die Baronin sich völlig zurückgezogen hielt, während die Herzogin, nach Fräulein von Merbachs Versicherung, während aller dieser Tage nicht ein einziges Mal nach ihr sich erkundigt hatte.
»Wir haben uns doch geirrt,« flüsterte der Kabinettsrat.
»Scheint so,« flüsterte der Rittmeister zurück.
»Es ist noch nicht aller Tage Abend,« murmelte der Kammerjunker, sich bückend und die langen Ohren eines der Schweißhunde durch seine Finger ziehend.
Der Herzog, nachdem er noch kurz die Meute gemustert und einer Lieblingsbracke, die an ihn heransprang, den Kopf getätschelt hatte, war wieder zu den Herren getreten.
»Was ist die Uhr?«
»Zehn Minuten über neun, Hoheit.«
»Vachta pflegt sonst die Pünktlichkeit selbst zu sein.«
Der Oberförster erlaubte sich, aus respektvoller Entfernung zu bemerken:
»Der Weg ist sehr schlecht, Hoheit.«
»So?«
»Ich habe ihn gestern selbst gemacht. Er war da kaum schon passierbar.«
»So glauben Sie, daß der Baron gar nicht kommen wird?«
Der Herzog, der zu dem Oberförster über die Schulter gesprochen hatte, wandte sich schnell.
»Das möchte ich nicht gesagt haben, Hoheit.«
»Es ist verdrießlich,« sagte der Herzog.
Sein Gesicht, das sich für einen Moment aufgehellt hatte, war wieder finster geworden.
»Da kommt der Herr Baron!« rief einer von den Förstern.
Astolfs Wagen war aus dem Walde aufgetaucht und kam auf hier ziemlich ebenem Wege schnell heran. Die ganze Jagdgesellschaft geriet in Bewegung: die Herren, die Förster, die Forstläufer sahen nach ihren Büchsen; die Hunde winselten und heulten leise; der Herzog sprach bald zu diesem, bald zu jenem Herrn, ohne eine Antwort abzuwarten; rief dem Oberförster Befehle zu, die dieser nicht verstand; schalt die Piqueure, welche die Meute wieder einmal miserabel gekoppelt hatten – seine Nervosität vor und oft genug auch während der Jagd war berüchtigt – so seltsam aufgeregt hatte man ihn noch niemals gesehen.
»Das wird heute schlimm,« raunte der Kabinettsrat dem Rittmeister zu.
»Scheint so,« murmelte der Rittmeister.
»Schönstens willkommen!« rief der Herzog, auf Astolf, der aus dem Wagen gesprungen war, mit ausgestreckter Hand zugehend. Bevor Astolf die dargebotene Hand hätte ergreifen können, stolperte Hoheit und wäre gefallen, wäre nicht einer der Förster herzugesprungen.
»Die verdammten Wurzeln!« rief der Herzog. »Na, Siebel, lassen Sie nur! Das bißchen Schnee wird mir nichts schaden. Wie geht's, Astolf? Was macht – na, wir sprechen uns noch hernach. Wollen jetzt machen, daß wir zu Holze kommen. Es weht hier ein verdammt scharfer Wind. Also was werden Sie zuerst vornehmen, Giesebrecht?«
»Wie Hoheit befohlen haben,« erwiderte der Oberförster. »Zuerst ein offenes Treiben durch die Gründe vom Hexenstein bis zur großen Schneise.«
»Gut! Gut! Die Treiber sind auf ihren Posten?«
»Alles in Ordnung, Hoheit.«
»Die Stände für die Herren haben Sie ausgesucht?«
»Zu Befehl, Hoheit.«
»Dann also vorwärts! vorwärts, meine Herren!«
Er hatte den Pelz abgeworfen, die Herren waren seinem Beispiele gefolgt. Die Wagen mit den Dienern fuhren auf einem andern Wege in den Wald nach einer vorausbezeichneten Stelle, wo die Herren wieder einsteigen sollten. Der Herzog, mit dem Oberförster zur Seite, hatte die Spitze genommen. Er ging mit raschen Schritten, eifrig sprechend und dabei heftig gestikulierend. Der Oberförster schien etwas versehen zu haben. Die Herren hinter ihm hatten schier Mühe, nicht zu weit zurückzubleiben, kamen auch auf dem schlimmen, von gefrorenen Geleisen der Holzwagen arg verwüsteten Wege bald auseinander.
»Haben Sie den sonderbaren Empfang des Barons beobachtet?« sagte der Kabinettsrat zu dem Rittmeister.
»War kurios,« erwiderte der Rittmeister.
»Nicht wahr? Es sah beinahe so aus, als ob Hoheit absichtlich stolperte, um ihm nicht die Hand geben zu müssen. Wozu hat er ihn dann aber eingeladen?«
»Wenn ich das wüßte!«
»Glauben Sie mir, da liegt etwas in der Luft.«
»Scheint so.«
Es war eine langgestreckte, mehrfach gewundene, von Buschwerk und plötzlichen Versenkungen coupierte Mulde, in welcher die Schützen von dem Oberförster ihre Aufstellung erhielten: mit dem Rücken nach dem Hochwald, an dessen Lisière sie postiert waren; den Blick frei eine Strecke die Mulde hinauf und hinab; sich gegenüber ein niedriges Gehölz, durch das man hie und da in das flachere Land sah. Nicht eben weit. Die Luft war grau und dick. Der Frost schien in Tauwetter umsetzen zu wollen. Vereinzelte wunderlich große Schneeflocken wirbelten umher und zerrannen, wenn sie am Boden auf eine freie Stelle trafen. Aus dem Walde heraus, die Mulde hinab strich der Wind in langgezogenen klagenden Tönen; über den Häuptern der Schützen in den kahlen Kronen der Buchen und Eichen knackten und knarrten die Aeste.
Sonst tiefe Stille; dann aus dem Walde, noch aus der Ferne, dumpfer Lärm der Treiber, langsam näher kommend; dann der erste Schuß. Natürlich von links her, vom ersten Stande: dem seiner Hoheit! Hoheit hatten wieder einmal kein Jagdglück: das Stück, auf das er geschossen, ein junger Keiler, kam in vollem Lauf die Mulde herab und wurde erst am dritten Stande, vom Rittmeister von Helmsdorf, erlegt.
Bald war das Treiben in prächtigem Gange. Die Tiere kamen zu zweien, dreien, zu vieren angeprescht; Schuß folgte auf Schuß von Stand eins bis vier. Der Kabinettsrat auf Stand vier bemerkte zu seiner Verwunderung, daß auf Stand fünf, dem des Baron Vachta, kein einziges Mal geschossen wurde, trotzdem die Durchgänger, deren eine beträchtliche Zahl war, an ihm vorbei mußten.
Nach einer halben Stunde wurde das Treiben abgeblasen; es tauchten auch schon hie und da Treiber aus dem Walde hervor, denen bald mehr und mehr folgten; die Schützen, die nach dem Stand des Herzogs eilten, mußten sich hie und da ordentlich durch die Leute drängen. Der Herzog kam ihnen entgegen; schon von weitem sah man an seinen heftigen Gebärden, daß er in der schlechtesten Laune war. Kein Wunder! die Förster meldeten nur vierzehn Stück zur Strecke! Vierzehn Stück bei einem solchen kapitalen Treiben! Und kein Hauptschwein darunter! Nun, das eine, ein alter Eber, könne höchstens noch fünfhundert Schritt in den Wald zurückgelaufen sein. Er habe es zu gründlich gezeichnet. Die Meute solle sofort gelöst und auf die Spur gesetzt werden. Zwischen ihm und dem Herrn Rittmeister sei es durchgegangen. Der Herr Rittmeister müsse es doch gesehen haben!
»Gewiß, Hoheit!« versicherte der Rittmeister. »Ein prachtvoller Kerl. Ich wollte noch hinterherschießen, aber ich meinte, er hätte genug.«
»Sehen Sie! Sehen Sie!« rief der Herzog eifrig. »Nun, Giesebrecht, werden wir endlich die Hunde los haben.«
Das Tier hatte stark geschweißt; in einer Minute war die Meute auf die Fährte gebracht und stürzte sich, dem führenden Schweißhund nach, kläffend, bellend, heulend in den Wald. Das aufregende Schauspiel, das zu erwarten stand, wollten selbst die Treiber mitansehen. Alles rannte hinterher. Die Herren zögerten noch um den Herzog, der mit Baron Vachta, welcher eben erst herangetreten war, leise sprach und, sich dann zu ihnen wendend, rief: »Bitte die Herren vorauszugehen! Ich habe noch mit Baron Vachta ein paar Worte zu sprechen. Wir folgen Ihnen gleich!«
Die Herren entfernten sich eilig.
Sie waren außer Hoheit und dem Baron die letzten auf dem Platz gewesen. Die beiden waren allein.
Eine Minute standen sie sich schweigend gegenüber, bis ein paar Leute, die noch in der Nahe herumlungerten, auf ein »Macht, daß ihr fortkommt!« des Herzogs in dem Wald verschwunden waren.
»Astolf!« sagte er jetzt mit dumpfer Stimme.
Und als keine Antwort kam: »Astolf, als du aus dem Wagen stiegst, bei dem ersten Blick habe ich es gesehen: Du weißt alles – durch Brenken – du schüttelst den Kopf – also nicht durch Brenken – es wäre auch zu schändlich, nachdem ich ihn – Astolf, ich wollte dir wenigstens das eine ersparen, weil ich wußte, daß es dich fürchterlich schmerzen würde – wir waren immer so gute Freunde, so treue Kameraden gewesen, und ich – ich schwöre dir, Astolf, – geschehen ist nun einmal doch geschehen – ich kann's nicht mehr ändern, und wenn ich mein Herzogtum drum gäbe – ich will ja alles thun, was nur irgend in meinen Kräften steht, daß du über die Geschichte wegkommst –«
Er hatte alles atemlos herausgestoßen, kaum wissend, was er sagte. Das Gesicht des Mannes ihm gegenüber, in das er von Zeit zu Zeit einen scheuen Blick warf, war so furchtbar in seiner ehernen Ruhe, und bei seinen letzten Worten das entsetzliche Lächeln in dem ehernen Gesicht!
Das Lächeln war, blitzschnell, wie es gekommen, verschwunden.
»Ueber die Geschichte bin ich soweit weg. Es fehlt nur noch eines: daß ich an dem, der sie mir bereitet und mich zu einem Menschen gemacht hat, der den elendesten Bettler beneidet, – daß ich an dem die Strafe vollziehe, die ihm zukommt.«
Er hatte seine Hand an den Griff des Hirschfängers gelegt.
Der Herzog taumelte einen Schritt zurück. Sein Gesicht war erdfahl geworden.
»Du bist wahnsinnig,« stammelte er; »du kannst doch unmöglich wollen, daß ich mich mit dir schlage?«
»Willst du lieber einfach erschlagen sein? Ein Drittes gibt es nicht – bei dem ewigen Gott über uns!«
Er hatte den Hirschfänger herausgerissen. Der Herzog stand da, leichenblaß, mit starren, glasigen Augen.
»Wehre dich, Memme! oder, beim Himmel, ich –«
In ihrer fürchterlichen Aufregung waren sie beide taub gewesen gegen das wütende Geheul und Gebell der Hunde gar nicht weit von ihnen im Walde und das Geschrei, das die Jäger und Treiber erhoben, als der angeschossene Eber, den die Meute verbellt hatte, rechts und links seine Angreifer mit zerfetzten Leibern von sich schleudernd, flüchtig wurde, mit ungeheurer Schnelle durch Gestrüpp und Büsche brechend, nach dem Saume des Waldes zu.
Gerade auf den Herzog zu.
Astolf sah das Tier zuerst, keine dreißig Schritte mehr entfernt.
Der Herzog rührte sich nicht. Hatte ihn, was vorausgegangen und der Schrecken jetzt paralysiert – er war ein verlorener Mann.
Mit der Schnelligkeit des Blitzes hatte sich Astolf zwischen ihn und das heranstürmende Tier geworfen, auf die Kniee, den Hirschfänger weidmannsgerecht vorgestemmt.
Aber hatte er nicht seine scharfen Sinne, seine mächtige Kraft, seine Kaltblütigkeit von sonst beisammen gehabt: der Stoß hatte das wütende Tier nur gestreift; den struppigen Riesenkopf gesenkt, stürmte es über ihn weg, die Thalmulde durcheilend, drüben im Stangenholz verschwindend; hinter ihm her die heulende Meute, die schreienden Männer.
Die meisten stürzten wie toll und blind vorüber. Einige hatten es doch gesehen und waren entsetzt stehen geblieben: den Herzog an der Seite eines Mannes knieend, der lang hingestreckt auf dem Boden lag und aus dessen breiter Brust, von der der Herzog mit krampfhaften Händen die Kleider riß, das Blut strömte.
»Mein Gott, kommt mir denn keiner zu Hilfe!« schrie der Herzog.
Wer sollte da helfen?
Der Oberförster, einer der Jäger, der im Kriege von siebzig Krankenträger oft genug gewesen, versuchten es wohl, vom ersten Moment, als sie die entsetzliche Wunde sahen, überzeugt, daß hier kein geschicktester Arzt mehr Rettung bringen könne. Die halbe Brust war herausgerissen; das Blut ergoß sich in Bächen; der Tod mußte in kürzester Frist eintreten.
Der Herzog kniete noch immer an der Seite, Mit beiden Händen hatte er den Kopf des Sterbenden gefaßt; unverwandt starrten seine Augen auf die bleichen Züge, durch die plötzlich ein schauerliches Zucken ging.
Der Herzog konnte es nicht länger ertragen. Den Kopf loslassend, wandte er sich auf den Knieen um, die Hände in das Gesicht drückend.
Der Oberförster trat an ihn heran.
»Hoheit – Hoheit! Es ist vorbei!«
Der Herzog schwankte von den Knieen empor, einen scheuen Blick hinter sich werfend auf die mächtige ausgestreckte Gestalt, welche die Förster mit Tannenzweigen zuzudecken begannen.
Seine starren Augen irrten über den dichten Kreis von Menschen, der herumstand: Herren, Jäger, Treiber, alle durcheinander, alle auf ihn blickend.
Er besann sich, daß er der Herzog sei, irgend etwas thun, etwas sagen müsse, was sich für den Moment schickte.
Der Kabinettsrat war zunächst bei ihm.
Er breitete gegen ihn die Arme aus, zog ihn an sich, lehnte den Kopf schluchzend auf seine Schulter; stand so eine Weile, während der Kabinettsrat ein sehr gerührtes Gesicht machte; hob dann das Gesicht wieder und rief laut genug, daß es alle Umstehenden vernehmen konnten:
»Lieber Thiele! Meine Herren! Weinen Sie mit mir! Er ist für mich gestorben!«
Dann hatte er das Gesicht wieder auf die Schulter des Kabinettsrats gesenkt.