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Es wollte am andern Morgen nicht Tag werden. Aus den Bergwäldern waren die Nebel hervorgequollen und hatten sich, ein graues Leilach, über das flache Land gebreitet. Als Lisette gegen elf Uhr der gnädigen Frau die Schokolade an das Bett brachte und die seidenen Fenstervorhänge zurückschlug, wurde es in dem Schlafgemach kaum um ein weniges heller. Lisette war gleich mit einer Botschaft gekommen: Herr Sommer habe herübersagen lassen, die gnädige Frau möge heute nicht zu der Sitzung erscheinen; das Licht sei zu schlecht.
Susi war es nicht recht. Es lag ihr daran, daß das Bild fertig wurde. Einmal versprach es wirklich sehr schön zu werden, und man mußte doch auch Astolf, wenn er zurückkam, zeigen, wie fleißig man inzwischen gewesen war. Auch wäre es interessant gewesen, zu sehen, ob man sich auf ein von dem Herzog gegebenes Wort verlassen konnte.
Susi war, ihre Schokolade schlürfend, bis zu diesem Schluß gelangt, als Lisette wieder eintrat, die sich nebenan von dem Hoffourier das Programm des Tages hatte sagen lassen: Um zwölf Uhr Kavaliertafel; um vier Fahrt der höchsten Herrschaften und der Hofstaaten in sechs Wagen nach Burg Rosenstein zur Besichtigung der Sammlungen, Rückfahrt viertel sechs; um sechs Galatafel, zu der auch die benachbarten herzoglichen Hoheiten zugesagt hatten; viertel auf acht théâtre paré: das Glöcklein des Eremiten und Ballett; nach dem Theater Thee im blauen Salon.
»Der Fourier wartet noch?« fragte Susi, sich auf dem Ellbogen halb aufrichtend.
»Gewiß, gnädige Frau.«
»Sagen Sie ihm, ich ließe die Herrschaften um Entschuldigung bitten: ich müßte unverzüglich – verstehen Sie! unverzüglich – nach Vachta hinaus und würde erst morgen zur Sitzung wieder hereinkommen.«
»Aber, gnädige Frau – Verzeihung! – das ist doch ganz unmöglich.«
»Melden Sie dem Herrn Fourier, was ich Ihnen gesagt habe – wörtlich! –«
Und Susi ließ sich auf das Kissen zurücksinken.
Der Einfall war ihr eben erst gekommen: sie mußte ihre Unabhängigkeit auf eine eklatante Weise demonstrieren, gleichviel, was dabei aus der Etikette wurde.
Sodann: sie war auch gestern nicht in Vachta gewesen, hatte seit drei Tagen nicht nach dem Kinde gesehen. Das konnte von der Herzogin übel vermerkt sein. Auch würde es sich gut machen, wenn sie die Antwort auf Wolfs Brief nicht vom Schlosse, sondern von Vachta datierte.
Lisette, die ihr beim Anziehen geholfen, war entlassen. Sie schloß hinter ihr ab; nahm eines von den Lichtern am Spiegel aus dem Sockel, entzündete es und ging damit nach der Wand im dämmerigen Hintergründe des Zimmers, von der in der Nacht das verdächtige Geräusch gekommen war. Es standen hier nur wenige Möbel, und sie brauchte, an den freien Stellen hin- und herleuchtend, nicht eben lange zu suchen. In dem Gobelingewebe, das eine Kampfscene darstellte – lotrecht durch den Leib eines sich bäumenden Schimmels, zwei oder drei Fuß rechts davon durch den Hals des Tiers, weiter abwärts durch einen gefallenen Krieger – liefen zwei parallele, scharf ausgeprägte Furchen; nur wenig höher als sie selbst – durch die Brust des Reiters – eine dritte, wagerecht.
Und plötzlich besann sie sich auf den närrischen Einfall, der ihr in der Nacht vor dem Einschlafen gekommen war: daß hier hinten eine Thür sei, die sich öffnete, und –
Der Mann war Wachs in ihrer Hand – wie sie alle.
Um ihre Lippen spielte ein triumphierendes Lächeln, während sie zu dem Spiegel zurückging und die ausgelöschte Kerze an ihre Stelle steckte.
Eine Stunde später war sie in Vachta nach einer melancholischen Fahrt auf der Chaussee, wo es zu tröpfeln begann; durch die Wiesen, über die der Regen sprühte; die Waldberge hinauf, in deren Schluchten es goß. Und melancholisch zum Verzweifeln war es auf dem verödeten Schlößchen in den dunkeln kalten Zimmern zwischen den verhängten Spiegeln und eingewickelten Möbeln. Wenn Frau Poltrok die Gnädige heute hätte erwarten können! Aber nachdem die Gnädige drei Tage lang –
Es war keine Gnädige, welche die alte Getreue ersuchte, sich jeder Kritik über ihr Thun und Lassen zu enthalten, dafür nach dem Feuer im Kamin zu sehen, das demnächst wieder ausgehen werde, und für das Frühstück zu sorgen, während sie sich Baby in der Kinderstube zeigen lassen wolle.
Ihr Aufenthalt in der Kinderstube hatte nicht lange gedauert: der säuerliche Geruch, der da herrschte, war ihrem Geruchssinn, ein bißchen Kinderwäsche, das an dem eisernen Ofen gewärmt wurde, ihren Augen ein Greuel. Und von Babies sieht eines aus wie das andre, schreit eines wie das andre. Sich Nase, Augen und Ohren beleidigen zu lassen, wenn man so schon übler Laune ist, kann man von keinem vernünftigen Menschen verlangen.
Susi war in der übelsten Laune. Hatte sie doch am Ende nicht eine große Dummheit begangen, als sie der momentanen Eingebung folgte und sich einen ganzen Tag von Hof absentierte? Die Herzogin freilich würde leicht zu beschwichtigen sein, wenn sie ihr von der Erfüllung ihrer Mutterpflichten und sonstigen Sentimentalitäten das Nötige vorredete; der Herzog fühlte sich zweifellos aufs tiefste beleidigt; wie ihr jetzt scheinen wollte: mit Recht. Er hatte ihr gegenüber eine Fügsamkeit und doch auch Ritterlichkeit bewiesen, die man ihm sonst nicht zutraute, und sie selbst ihm nicht zugetraut hatte. Leute, wie er, wollen sich für ihre Tugenden belohnt sehen. Nun erntete er statt des Lohnes Undank. Und wenn er sie auch bis zur Raserei liebte – ein zu straff gespannter Bogen bricht.
Und zu der ärgerlichen Stimmung das entsetzliche Wetter! Wie der Regen gegen die Fenster klatschte und der Wind mit den Jalousieen klapperte! Wie er draußen die Wipfel der Bäume zerzauste und die braunen Blätter in Wolken von den Zweigen fegte! Zu denken, daß man an einem solchen Tage da hinten in dem ostpreußischen Sibirien säße, hundert Meilen weit von einem Menschen, um den es sich des Anziehens verlohnte! ohne die entfernteste Möglichkeit auch nur der harmlosesten Flirtation, geschweige denn einer pikanten Scene wie heute nacht!
Aber ums Himmelswillen davon in dem Briefe an Astolf nichts merken lassen! Und ebenso nicht zu weit auf seinen Unsinn eingehen! Also ein zärtlicher Brief mit dem obligaten »geliebtes Herz«, »einziger Schatz«, nach dessen Lektüre er so klug war wie vorher.
Während sie in ihrer zierlichen Hand, jeden Ausdruck sorgfältig erwägend, das Schreiben abfaßte, hatte sich ihre Laune einigermaßen gehoben. Als sie es überlas, erschien es ihr als ein diplomatisches Meisterstück. Besonders einen Zug fand sie gelungen. Sie hatte sich, solange sie jetzt bei Hofe war, nicht ein einzigesmal nach ihrem Stadthause umgesehen. In dem Briefe aber stand: »Bei einem Besuche gestern in unsrer Wohnung kam mir unser liebes trautes Heim so verödet und verlassen vor, daß ich mich erst eine Viertelstunde hinsetzen und rechtschaffen ausweinen mußte. Und dann faßte ich den Entschluß, sofort ans Werk zu gehen und sie in Ordnung zu bringen, so daß, wenn Du zurückkommst, alles zu Deinem Empfang bereit ist. Sorge nicht, daß ich mir zu viel zumute: Deine kleine Frau ist kräftiger, als Du denkst. Und dann, Herz, es ist eine Zerstreuung, die Du mir gönnen kannst, bei der fürchterlichen Langenweile und Herzenseinsamkeit, in der ich trotz all dem Hoftrubel lebe, aus dem ich mich heute in unser stilles Vachta geflüchtet habe. Es regnet, was vom Himmel will; aber mit unsrer süßen Alix neben mir und einem gewissen Jemand, den ich nicht nennen will, im Herzen, fühle ich mich so wohl wie der Fisch im Wasser.«
Mit dem in einer Ledertasche wohl verwahrten Briefe hatte sogleich ein Reitender in die Stadt gemußt. Dann hatte sie Frau Poltrok einige Möbel bezeichnet, die sie morgen hineingeschickt haben wollte; aber mit alledem war es erst drei Uhr geworden, und sie saß im Salon vor dem Kaminfeuer, fröstelnd, und dachte mit Schaudern an den unendlichen Abend, der nun hereindrohte. Daß man sich so selbst im Licht stehen kann, dem glänzenden Licht, das heute wieder in dem Blauen Zimmer auf so viele Herren in Uniform und Damen in großer Toilette fallen würde: Herren, die ihr trotz der anwesenden Fürstlichkeiten als Königin huldigten, Damen, von denen ihr jede, die Fürstlichkeiten eingeschlossen, ihren Triumph beneideten! Auch die Fahrt nach Rosenstein würde sicher sehr interessant werden. Es gab da so viel zu sehen, und der Herzog war ein so vortrefflicher Cicerone! Und in dem alten Gemäuer mit seinen mittelalterlich engen, von unten bis oben mit Sachen vollgestopften Räumen und den halsbrechenden steinernen Treppen hinauf und hinab fand sich so mancher lauschige Winkel, in dem sich ein vertraulich-zärtliches Wort sprechen, eine Aufklärung geben, eine Verständigung herbeiführen ließ, die doch endlich einmal stattfinden mußte, oder die ganze schöne unwiederbringliche Zeit war zwecklos verthan. Sollte sie anspannen lassen und hineinfahren? Sie kam dann noch eben recht zu dem Ausflüge nach dem Rosenstein. Um sich vom Herzog sagen zu lassen: ich wußte, daß Sie sich besinnen würden! Das durfte sie nicht. Lieber hier vor Langerweile sterben.
War das nicht das Knirschen von Rädern in dem nassen Sande auf dem Vorplatz? Hielt da nicht ein Wagen vor dem Portale still? Ein nachbarlicher Besuch konnte es nicht sein. Also jemand aus der Stadt. Sollte er wirklich –
Susi hatte sich in ihrer Aufregung erhoben, Friedrich entgegen, der angepocht hatte und auf ein Herein, das ihr halb in der Kehle stecken blieb, eingetreten war:
»Herr von Brenken lasse fragen, ob er die gnädige Frau in einer wichtigen Angelegenheit auf eine Minute sprechen dürfe.«
Also nicht er selbst; nur sein Abgesandter!
»Bitten Sie den Herrn, sich heraufzubemühen!«
Susi war wieder vollkommen ruhig. Herrn von Brenken gegenüber durfte man nicht nervös sein.
»Was in aller Welt führt Sie, lieber Freund, zu mir einsamem Waldvogel heraus?«
Brenken, der in kleiner Kammerherrnuniform war, hatte ihr die Hand geküßt und, ihrem Winke folgend, auf einem Sessel in ihrer Nähe Platz genommen. War es das fahle Licht, war es Aufregung, er sah noch blasser aus als gewöhnlich und mußte offenbar erst zu Atem kommen, um sprechen zu können.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Thee anbieten?« fragte Susi mit ihrer kühlen sanften Stimme.
»Gnädige Frau –«
»Mit Arak oder Rum? Es ist beides im Hause.«
»Gnädige Frau – verzeihen Sie! – aber warum haben Sie das gethan?«
»Was gethan?«
»Der Herzog ist einfach außer sich.«
»Weil eine Mutter einmal nach ihrem Kinde sehen wollte, das sie nur zu lange schon sträflich vernachlässigt hat?«
»Ein sehr plausibler Grund und für den auch Hoheit heute bei der Frühstückstafel der höchsten Herrschaften auf das lebhafteste eingetreten ist. Aber das hindert nicht, daß er sich Ihre so plötzliche Entfernung anders deutet und – tranchons le mot, darin eine Flucht sieht.«
»Vor wem?«
»Gnädige Frau, weshalb mich aus einer Verlegenheit in die andre treiben? Wir sind doch unter uns!«
»Die Flucht also zugegeben – sind Sie nicht der Ansicht, daß eine ehrbare Frau in gewissen Lagen dazu greifen muß?«
»Zweifellos, nur daß die Betreffende auch dann noch immer den rechten Augenblick wählen sollte. Verzeihen Sie, gnädige Frau, wenn ich als Ihr wahrer Freund, der ich, bei Gott, bin, offen sage: Sie hätten keinen weniger passenden wählen können. Bedenken Sie: die Anwesenheit der königlichen Hoheiten, denen wir doch alle, die wir zum Hofe gehören –«
»Ich gehöre nicht zum Hofe, Herr von Brenken; ich bin die freie Herrin über meine Entschlüsse und Handlungen.«
»Niemand zweifelt daran. Aber Sie waren der Gast – der gefeierte Gast des Hofes, gestern noch von den königlichen Hoheiten auf das glänzendste ausgezeichnet. Man versteht es einfach nicht, daß Sie sich gerade in einem solchen Momente von uns entfernen. Es erscheint das – gnädige Frau müssen mir schon das Wort verzeihen! – als eine Rücksichtslosigkeit gegen die königlichen Hoheiten. Vielmehr, es würde so erscheinen, wenn man nicht wüßte, daß die Baronin von Vachta einer solchen unfähig ist, und man so dahin geführt wird, nach dem wahren Grund zu suchen und ihn dann natürlich auch zu finden – ein Etwas, das doch, gerade im Interesse der gnädigen Frau, um jeden Preis vermieden werden muß.«
»Also was verlangt man von mir?«
»Man verlangt nichts; man wünscht, man bittet Sie, fleht Sie nur an, zurückzukommen.«
Susi schien in tiefes Nachdenken versunken.
»Gut,« sagte sie, »ich habe gegen die königlichen Hoheiten nicht rücksichtslos sein wollen. Ich werde zur Tafel erscheinen.«
Sie erhob sich zum Zeichen, daß die Unterredung zu Ende sein solle; Brenken war ebenfalls aufgestanden.
»Dann thun die gnädige Frau ein Uebriges,« sagte er, jetzt in einem viel freieren Ton; »fahren Sie sofort mit mir nach dem Rosenstein!«
»Mich vor aller Welt lächerlich zu machen?«
»Vor niemand, am wenigsten vor den königlichen Hoheiten. Der Prinz war zugegen, als Hoheit mich mit meiner Mission betrauten. ›Aber daß Sie nicht, ohne unsern Verzug mitzubringen, in Rosenstein wieder antreten!‹ rief er mir nach, als ich schon halb zur Thür hinaus war.«
»Viertel auf vier. Wenn gnädige Frau die Liebenswürdigkeit haben wollten, sich ein wenig mit der Toilette zu beeilen, kämen wir gerade noch zur rechten Zeit.«
»Also in fünf Minuten.«
»Sagen wir: zehn! Sie sind ein Engel, gnädige Frau.«