Friedrich Spielhagen
Susi
Friedrich Spielhagen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Zu Ehren der erlauchten Gäste hatte das Hoffest heute abend länger gewährt als wohl sonst. Es war beinahe elf Uhr geworden, bevor die Herrschaften sich zurückzogen, die übrige Gesellschaft, welche dann nur noch wenige Minuten beisammenblieb, sich ebenfalls trennte und Susi ihre Gemächer aufsuchen durfte.

Sie empfand kein Bedürfnis des Schlafes, hatte sich von Lisette nur so weit entkleiden lassen, um in den seidenen Schlafrock schlüpfen zu können, und schritt nun in dem Dämmerschein der beiden Kerzen, welche die Zofe auf dem Schreibtisch hatte brennen lassen müssen, hin und her durch das weite Gemach, die Ereignisse des Abends überdenkend.

Ein interessanter Abend war es gewesen; zu sehen und zu hören hatte es vollauf gegeben. Die königlichen Hoheiten hatten sie bei dem Cercle vor der Tafel durch längere Ansprache ausgezeichnet, besonders seine Hoheit, in dessen unmittelbarer Nähe sie auch bei der Tafel placiert war, die heute in dem ganzen prachtvollen Schmuck der herzoglichen Silberkammer prangte. Nach der Tafel, als man sich wieder in dem großen blauen Salon befand und das Band der Etikette sich gelockert hatte, war der Prinz sofort abermals zu ihr getreten und hatte mit ihr in seiner liebenswürdigen harmlosen Weise geplaudert: von ihrem Vater, den er seinen würdigen Freund nannte; von ihrer verstorbenen Mutter, deren auch noch im frauenhaften Alter entzückende Schönheit er in den wärmsten Ausdrücken pries; von Astolf, dessen Abwesenheit er höchlich bedauerte und dem er es nie vergeben werde, daß er sich aus dem Dienst seines Staates, dem es an unabhängigen, freisinnigen und doch loyalen Edelleuten so bitter fehle, nach den wenigen Jahren habe loslösen mögen.

Und während seine königliche Hoheit kein Ende finden konnte, hatte sie die neidvollen Blicke aufgefangen, mit denen ein paar Dutzend Augen an der Stelle hafteten, auf der sie unter dem Kronleuchter mit dem Prinzen stand, und den Herzog beobachtet, der in einiger Entfernung mit ihrer königlichen Hoheit ein Gespräch führte, das nichts weniger als interessant schien, wenn sie aus seiner übertriebenen Munterkeit und der Ungeduld, mit der er sich bald auf einen, bald auf den andern Fuß stellte, einen Schluß ziehen durfte.

Das hatte so lange gewährt, bis in dem Saale nebenan das Konzert begann, zu welchem der Prinz ihr seinen Arm bot, so daß sie unmittelbar neben den Fauteuils für die höchsten Herrschaften in der ersten Reihe der Stühle zu sitzen kam. Da die Herzogin nicht erschienen war, fehlte es freilich an einer fürstlichen Partnerin für den hohen Gast; aber in der Gesellschaft fanden sich mehrere Damen, die ihr, der jetzigen einfachen Freifrau, im Rang vorangingen. So war dies wiederum eine Auszeichnung, wie sie schmeichelhafter nicht gedacht werden konnte und die zur Erhöhung ihrer guten Laune nicht wenig beitrug.

Dann hatte das Konzert selbst einen noch ganz besonders pikanten Reiz für sie gehabt.

Diese große, bereits stark abgeblühte Person mit den über die Schönheitslinie hinaus üppigen Formen, dem dunklen, tief in die Stirn hineingewachsenen überreichen Haar, der Adlernase und den stechenden Augen unter den fast ineinanderlaufenden finstern Brauen, die da im schwarzen Atlaskleide am Flügel stand und mit einer Stimme sang, welche einst schön gewesen sein mußte, jetzt aber, besonders in dem höheren Register, einen für ein feineres Ohr beleidigend scharfen Klang hatte – das war also nun bereits seit drei Jahren seine Geliebte gewesen! Und er wußte, daß sie es wußte, wie die ganze Stadt, wie das ganze Land! Und mußte sie hier nun vor ihr produzieren, der, wenn noch nicht sein Mund, so doch seine Blicke, sein ganzes Betragen längst gesagt hatten, daß er sie liebe, anbete!

Wenn das nicht pikant war!

Und noch pikanter wurde durch die Wahl der vorgetragenen Piecen! Der gute Oberhofmarschall, ohne dessen Sanktion sie doch nicht getroffen sein konnte, hatte, da er vor dem Verdacht der Bouffonerie völlig sicher war, offenbar sein bißchen Verstand verloren. Die Jeremiade der Elvira aus dem Don Juan! Und wie die Person das »Mich verläßt der Undankbare« herausschmetterte! Wenn das sein Herz nicht rührte! Aber auch das Gesicht, das er dazu gemacht hatte! Ja, mein hoher Herr, wenn man den Unbefangenen spielen will, darf man nicht mit so nervösen Fingern an der Quaste des Fauteuils nesteln und alle paar Minuten die Oberlippe zwischen die Zähne klemmen! – schließlich so übertrieben eifrig applaudieren!

Oder wartet wenigstens damit, bis Hasse die große Leporello-Arie singt. Da weiß man doch schon eher wo und wie: – »Schöne Donna, dieses kleine Register.« – Aber Hoheit, wenn man in einem Hause von Glas wohnt! – »Und dann jede preiszugeben!« – Aber Hoheit, das könnte doch wirklich eine tugendhafte junge Frau, die Sie mit Ihrer Huld beehren, stutzig machen! – »Er ist eures Zorns nicht wert!« – Ich versichere, Hoheit, ich bin gar nicht zornig. Tot könnte ich mich lachen – noch jetzt!

Und Susi warf sich auf eine Chaiselongue und lachte hell auf, worüber sie sich selbst wunderte: sie pflegte, auch wenn sie allein war und sich unbelauscht wußte, nur zu lächeln. Sie hatte so selten schöne Gesichter gesehen, die beim Lachen schön blieben.

Ihre Lustigkeit währte auch nur wenige Momente, dann lag sie, die Augen zum Plafond emporgerichtet, wo die rosenspendenden Horen Apollo auf seinem von den Sonnenrossen gezogenen goldenen Wagen vorausschwebten, mit unter den Kopf gelegten flachen Händen, ausgestreckt. Der Abend war mit dem Konzert nicht zu Ende gewesen. Es hatte sich noch einiges ereignet, über das ernsthaft nachzudenken sich der Mühe verlohnte.

Hier kam es auf die Details, auf die einzelnen Worte an; den Ton, in dem sie gesagt, den Blick, mit dem sie begleitet waren.

Sie würde es schon wieder zusammenbringen. Als man den Musiksaal verließ, hatte nicht der Prinz, der – offenbar seine Unschicklichkeit von vorhin gut zu machen – der alten Gräfin Bartenstein die Ehre erwies, sondern Hans von Rörlach sie in den blauen Salon zurückgeführt. Während Kuchen und der berühmte Punsch herumgereicht wurden, dessen Rezept das ausschließliche Geheimnis des Hofkonditors war, und Rörlach ihr Jagd- und Turfanekdoten erzählte, hatte sie, nur mit halbem Ohre hinhörend, Muße genug, was im Saal vorging, zu beobachten. Der Herzog war schnell auf den Oberhofmarschall zugetreten und hatte ihm leise ein paar Worte gesagt, die mehr als ungnädig sein mußten. Die Excellenz war förmlich zusammengezuckt mit einer Miene, als sähe er eben den Plafond auf sich und die höchsten Herrschaften herabstürzen. Aber der Herzog hatte dem alten Manne nicht einmal die Gnade der Möglichkeit einer Erwiderung gewährt, sondern sich auf den Hacken umgewandt und Brenken zu sich gewinkt. Jedenfalls die Fortsetzung der Kratereruption; nur daß Brenken nicht so leicht aus der Fassung zu bringen war – konnte den Mann überhaupt etwas aus der Fassung bringen? – darin hatte er doch eigentlich eine frappante Aehnlichkeit mit ihr – er wäre gewiß nicht so mit dem kleinen Finger zu lenken, wie Astolf, aber er böte einem doch eine Aufgabe, bei der sich noch etwas lernen ließe und vielleicht sogar sehr viel. Und zu genieren brauchte man sich gegenseitig auch nicht –

Susis Gedanken waren abgeschweift; sie brachte sie wieder auf das Thema zurück.

Brenken hatte Zeit zu einer Entgegnung gehabt oder sich, so oder so, verschafft und was er gesagt, konnte dem Herzog keine Freude bereitet haben, wenn er die kurze Unterredung auch mit einem Lachen, das etwas forciert klang, und einem scheinbar gnädigen Kopfnicken abgebrochen hatte. Denn als er jetzt, nachdem er sich mit einem Blick versichert, daß der Prinz und die Prinzessin sich an entfernteren Stellen des Salons eifrig unterhielten, raschen Schrittes auf sie zukam, lag auf seiner Stirn noch der Rest einer Zornesröte, der dann freilich bereits geschwunden war, noch ehe er vor ihr stand.

Es war das erste Mal wahrend des ganzen Abends, daß er sie direkt angeredet hatte. Rörlach war, als der Herzog sich näherte, mit einer Verbeugung zurückgetreten; auch die wenigen, die noch in der Nähe standen, hatten diskret Raum gegeben; es war ein Tête-a-tête, wenigstens ohne Ohrenzeugen!

War ihr von der wunderlichen Unterredung alles in Erinnerung geblieben?

»Hoheit blicken nicht heiter.«

»Freilich ein schweres Unrecht in dem ersten freundlichen Augenblick dieses miserablen Tages.«

»Die höchsten Herrschaften sind die Liebenswürdigkeit selbst.«

»Zweifellos; und Sie haben davon die Hülle und Fülle gehabt. Der Prinz konnte sich gar nicht von Ihnen trennen.«

»Weshalb ich denn auch jetzt nicht mehr für ihn existiere.«

»Mein Gott, gnädige Frau, andre Leute wollen auch leben! Und ich lebe nur, wenn –«

Hier hatte er einem Diener, der mit einer Tablette Punschgläser herantrat, so unwillig abgewinkt, daß sie sich ein Lächeln verstatten mußte. Er hatte es natürlich falsch gedeutet.

»Ja, gnädige Frau, lächeln Sie immerhin! Es ist die reine Wahrheit: ich lebe nur, wenn ich in Ihrer Nähe bin; lebe nur noch durch Sie!«

»Was soll ich Hoheit darauf erwidern?«

»Daß Sie die Qualen eines Mannes begreifen, der nach dem süßen Trank der Liebe verschmachtet –«

»Wie der Graf Almaviva vorhin in dem Duett mit Susi – pardon: Susanne.«

Der Herzog hatte sich verfärbt. Nun ja, die Anspielung war ein wenig sehr boshaft; aber es gehörte schlechterdings zu ihrer Aufgabe. Sie hätte sonst keinen Uebergang gehabt zu dem, was nun folgen mußte.

»Hoheit, ich habe eine große Bitte.«

Er hatte die Anspielung noch nicht verwunden; für jemand, der nur durch sie lebte, war sein Blick nichts weniger als zärtlich.

»Wenn Hoheit die Gnade hätten, den letzten Sitzungen, die ich noch bei Herrn Sommer habe, nicht beiwohnen zu wollen!«

Er biß sich auf die Unterlippe. Sie kannte das; der Sturm war im Anzüge.

»Darf ich fragen, gnädige Frau, ob das von Ihnen kommt?«

Sie hätte den Maler und die Merbach preisgeben können; aber das würde für ihren Zweck nichts genützt haben.

»Ja, Hoheit.«

»Und weiter fragen, was diese – dies Verbot zu bedeuten hat?«

»Daß ich hier von Neidern und Spähern umgeben bin, die mir jede Gnade, durch welche Hoheit und Hoheit die Frau Herzogin mich auszeichnen, zum Verbrechen anrechnen. Als eine solche Gnade sieht man auch das lebhafte Interesse an, welches Hoheit für das Fortschreiten der Arbeit des Herrn Sommer an den Tag legen.«

»Also Cancan – Altweibergeschwätz – man kennt das! Ueber solche Misere sollten wir beide doch erhaben sein.«

»Hoheit – ja; – ich – nein.«

»Ah bah! Das ist nur so eine hypochondrische Grille von Ihnen, die morgen schon verflogen ist.«

»Ich muß Hoheit anheimstellen, ob Sie meine Bitte gewähren wollen.«

»Ich habe große Lust, sie Ihnen nicht zu gewähren.«

»Dann würde mir nur eines bleiben: mich morgen nach der Sitzung bei Hoheit, der Frau Herzogin, zu verabschieden.«

»Das werden Sie nicht thun!«

»Nur, wenn Hoheit mich dazu zwingen.«

»Zwang auszuüben – vollends gegen eine Dame – widerstrebt meiner innersten Natur. Die gnädige Frau wird also in Zukunft von mir unbelästigt bleiben.«

»Hoheit weiß recht gut, daß es mir keine Last gewesen ist; dennoch danke ich Eurer Hoheit.«

Das war das letzte Wort gewesen; der Herzog hatte abbrechen müssen: die Prinzessin war, an der Reihe der Damen hin, von denen sie eine und die andre mit einem gnädigen Wort beehrte, in zu große Nähe gekommen.

Eine Kraftprobe also, und sie war die Stärkere gewesen!

Und dies das Ende vom Liede?

Unmöglich war es nicht. Sein letzter Blick auf sie, bevor er sich zur Prinzessin wandte, ließ vielerlei Deutung zu. Hatte sie den Bogen zu straff gespannt? War es zu einem definitiven Bruch gekommen? Den hatte sie nicht gewollt. Der Spaß sollte ja jetzt erst angehen. Die alberne Gans von Merbach! Was hatte sie ihre spitze Nase dazwischen zu stecken gehabt! Und wenn es ein Bruch war, wie sollte man es Astolf beibringen, ohne sich als Gänschen von Buchenau in seinen Augen lächerlich zu machen, oder den Herzog bloßzustellen? Er würde natürlich alles aufbieten, die Sache wieder einzurenken. Das konnte dann, wenn es gelang, erst recht amüsant werden; man würde dann doppelt freies Spiel haben. Aber wenn es nicht gelang, der Herzog in seiner Eitelkeit zu tief verletzt war, die erlittene Niederlage nicht verschmerzte, weiter zürnte, und sie sich auf Vachta mit ihrem Astolf zu Tode langweilen mochte!

Sie nahm die Hände hinter dem Kopfe hervor und drückte sie, sich aufrichtend und die Füße von dem Sitz herabgleiten lassend, in die Augen.

O, der Langenweile auf dem einsamen Nest da draußen zwischen den dummen Bergen und den gähnenden Wäldern! O, der insipiden Ehe mit ihrem idealen Schlagododro! Mein Gott, ja, sie war achtzehn Jahr gewesen; aber das war doch für sie keine Entschuldigung! Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? So große Eile hatte es doch nicht gehabt, und sie hatte doch zwanzigmal reichere haben können! Es mußte das Meer gewesen sein mit seiner gräßlichen Monotonie, das sie so gedankenlos gemacht hatte. Und dann die kindische Reminiscenz von damals, als sie mit den Eltern hier gewesen war – das alte romantische Schloß mit den weiten Sälen und all den Prunkgemächern! Und die schattigen Parks, durch die es sich so prächtig auf den federnden Equipagen fuhr, während die Kavaliere auf den Rassepferden nebenhersprengten! Und in dem lustigen tollen Treiben als junge Frau des besten Freundes von Serenissimus eine Rolle zu spielen, die erste Rolle, – die sie nun verscherzt hatte!

Sie war aufgesprungen.

So! Jetzt war sie in der rechten Laune, seinen sentimentalen Brief zu beantworten.

Sie hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, die Mappe aufgeschlagen, seinen letzten Brief – acht Briefe in acht Tagen! – herausgenommen, Papier zurechtgelegt und die Feder eingetaucht.

Aber was hatte er denn eigentlich geschrieben? Er beklagte sich immer, daß sie seine Fragen nicht beantwortete. Als ob einer all die gleichgültigen Fragen beantworten könne! Diesmal mußte sie wohl ein übriges thun. Also, was war es?

»Geliebte Susi! Dem Himmel sei Dank! Eine Woche ist beinahe herum! Ich zähle die Tage und die Stunden« – u.s.w.! u.s.w.! – »Der Papa übertrifft sich selbst in seiner Liebenswürdigkeit« – das hat er nun bereits dreimal geschrieben. Er muß furchtbar viel Zeit haben. Und dabei diese gräßliche Hand – kaum zu lesen! Wo war es doch? Ach, hier – »Es stellt sich jetzt mit Evidenz heraus, daß es ein eigentlicher Schlaganfall gewesen ist. Ein leichter nur – Gott sei Dank – aber es hat ihm doch die alte Sicherheit geraubt. Er fühlt sich seiner allerdings recht großen Aufgabe nicht mehr gewachsen. Nun weißt du, geliebtes Herz, wie die Dinge liegen. Dein Bruder ist kein Landmann, hat keine Spur von administrativem Talent. Es wäre eine thörichte Grausamkeit, ihm einen Beruf aufzwingen zu wollen, zu dem er schlechterdings sich nicht schickt, nachdem man ihn aus einem gerissen, für den er eigens geboren scheint. Offiziere habt ihr genug in der Familie gehabt, aber noch keinen Feldmarschall! Elimar schwört auf die Ehre eines Second« – wenn er nur seine Witze lassen wollte! Immer wie ein Bär, der tanzen will! – »Da bleibt denn freilich, faute d'un meilleur, nur ich. Der Papa trägt sich schon längst mit dem Gedanken; er hat ihn mir heute direkt ausgesprochen; ich kann dir nicht sagen, mit welcher Wärme, welcher Dringlichkeit! Es hätte dessen kaum bedurft. Ich habe, wie jeder ordentliche Mensch, das zwingende Verlangen, etwas Rechtschaffenes zu leisten. Mit dem preußischen Staatsdienst, in dem ich es wohl gekonnt hätte, habe ich es verschüttet. Und in unsern kleinlichen Verhältnissen finde ich keinen Ellbogenraum, um so weniger, als mich der Herzog nicht in der Verwaltung sehen will. Unsre paar Morgen Wald und Feld in Vachta – du lieber Himmel, daran ist nicht viel zu administrieren. Hier fände ich einen Wirkungskreis, den, würdig auszufüllen, einen ganzen Mann erfordert. Der Herzog würde es sehr ungnädig aufnehmen – gewiß. Indessen ich bliebe doch immer sein Landeskind und getreuer Vasall, und es hinderte uns nichts, jedes Jahr ein paar Wochen auf Vachta und in seiner Nähe zuzubringen.

Du siehst, geliebte Seele, ich bin bereits mehr als halb für die Idee gewonnen und wäre es ganz, wüßte ich, daß sie Deinen Beifall hätte. Aber warum sollte sie es nicht? Du liebst Deinen Papa, wie er es so vollauf verdient, und wirst ihm gern den Abend seines Lebens verschönern wollen. Du liebst mich – nicht wahr, ganz unter uns darf ich das große Wort aussprechen? – und wirst mir treulich helfen, das trübselige Gefühl der Nutzlosigkeit, unter dem ich so schwer leide, endlich einmal los zu werden. Schließlich: Du kehrst in Deine alte Heimat zurück aus Verhältnissen, in die, Dich einzuleben, Du kaum Zeit gehabt hast und die Dir infolgedessen nicht viel geboten haben können, auch wenn sie in Wirklichkeit mehr zu bieten hätten.

Selbstverständlich beschließe ich nichts ohne Dich. Das verlangt der Papa auch gar nicht.

Dafür verlangt mich herzinnig nach einem recht, recht ausführlichen Brief, in dem mir meine geliebte, angebetete Susi ihre volle, aufrichtige Meinung über ›die große Wasserfrage‹ sagt und, wenn sie recht gut und lieb sein will, mir all die andern Fragen meiner früheren Briefe beantwortet, die klein scheinen mögen, aber es einem liebenden Gatten- und Vaterherzen doch nicht sind.

P.S. Wie ein Kind auf Weihnachten freue ich mich auf die Stunde, die mir meine Susi wiedergibt.«

Der letzte Teil des Briefes war so interessant für sie gewesen, daß sie ihn, ohne etwas zu überschlagen, bis zu Ende gelesen hatte, selbst die sentimentale Schlußphrase. Seltsam, sie erinnerte sich von dem allen keiner Silbe. Oder war sie heute morgen über die drei ersten Zeilen nicht hinausgekommen? Wahrscheinlich.

Und das mutete er ihr zu? Sich lebendig begraben lassen zu sollen da hinten an der russischen Grenze zwischen den unendlichen versumpften Wäldern, in dem dumpfen Schlosse, wo es an hellem Tage spukte, nur daß sie keinen einzigen hellen Tag da erlebt hatte? Niemand zur Gesellschaft als den hypochondrischen Papa, der nicht den kleinsten Spaß verstand, und stupide Krautjunker, die nach dem Pferdestall rochen? Astolf mußte toll geworden sein.

Morgen! Heut nacht wollte sie sich über den Unsinn den Kopf nicht weiter zerbrechen.

Sie warf den Brief in die Mappe, die sie verschloß, und blickte nach der Stutzuhr vor ihr auf dem Schreibtisch: fünf Minuten vor zwölf. Hatte denn die Uhr immer da gestanden? Vermutlich. Uebrigens eine prachtvolle Arbeit in schneeweißem Alabaster, die Nachbildung en miniature irgend eines berühmten Werkes zweifellos. Richtig: der Perseus und Andromedagruppe des – wie hieß er doch noch gleich? – aus dem Louvre. Warum der Mann die Andromeda nur so puppenhaft klein gemacht hatte im Vergleich zu dem Gardegrenadier von Perseus? Es war ihr damals schon aufgefallen. Wahrscheinlich lieben große Männer kleine Frauen, hatte sie sich in ihrem vierzehnjährigen Kopfe die Sache zurechtgelegt. Würde wohl das Richtige gewesen sein. Der Herzog war ja auch ein ungewöhnlich großer Mann, nur in den Schultern nicht so breit wie Astolf.

Sie gähnte ein wenig, löschte die Lichter auf dem Schreibtisch aus und begab sich in das Schlafgemach, wo vor dem großen Stellspiegel noch zwei Kerzen brannten und auf dem Nachttische vor dem Bett in ihrer Glocke aus rosa Glas die Lampe, ohne deren Schein sie nicht schlafen konnte. Vor dem Stellspiegel in dem weichen Fauteuil dehnte sie sich noch ein paar Minuten, lässig einige Mienen und Attitüden probierend, und wollte eben einen energischen Entschluß fassen, das lächerlich große Lager aufzusuchen, als sie plötzlich aus ihrem Halbschlummer jäh in die Höhe fuhr.

Was war das gewesen? War jemand außer ihr im Zimmer?

Mit klopfendem Herzen stand sie da, aufgerichtet, atemlos, lauschend.

Da war es wieder, deutlicher als vorhin. Aber im Zimmer konnte es nicht sein. Es hatte keinen Eingang außer durch den Salon. Auch hinter ihrem Rücken, während sie am Schreibtisch saß, hatte sich niemand einschleichen können: sie hatte schon vorher die einzige Thür nach dem Korridor abgeschlossen und ebenso die aus dem Salon nach dem Empfangszimmer, Es klang auch nicht, als ob es in dem Gemache selbst sei, sondern wie aus einem Nebenraume, der dann allerdings nur durch eine dünne Bretterwand von diesem getrennt sein konnte, oder durch eine Thür. Aber dies waren dicke Steinwände, durch die sie noch nie einen Ton gehört hatte, und eine zweite Thür gab es nicht.

Da zum drittenmal, wieder näher, wieder deutlicher!

Es mußte an der Wand, dem Spiegel gegenüber, sein.

Sie stand noch eine Weile – jetzt vollkommen ruhig – während sich das Geräusch abermals hören ließ: andauernd diesmal, nur mit jedem Moment schwächer werdend, als ob etwas eine Treppe hinabsteige.

Dann war es fort.

Sie mochte ruhig zu Bett gehen.

Und ruhig schlafen.

Eben als sie einschlafen wollte, kam ihr ein närrischer Einfall, daß sie lachen mußte.

Sie wußte aber nicht, was es gewesen war.

So legte sie sich auf die andre Seite, ballte das seidene Kopfkissen, ihrer Gewohnheit gemäß, zu einem weichen bequemen Knäuel und schlief ruhig bis in den andern Morgen.


 << zurück weiter >>