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11.

I n einer der langen schmalen Gassen, die in der altehrwürdigen Rheinstadt von der Landungsbrücke der Dampfboote bis in die Nähe des großen Domes mit dem Ufer des Flusses parallel laufen, stand im Jahre achtzehnhundertachtundvierzig (und steht vielleicht noch) ein Haus, das sich vor den kleinen und meistentheils recht schäbigen Häusern der Nachbarschaft gewissermaßen auszeichnete. Nicht daß das Haus besonders schön und groß gewesen wäre, durchaus nicht! es mochte, als es eben fertig war, recht stattlich ausgesehen, und der ehrenfeste Bürger, der es sich hatte bauen lassen, und der Baumeister, der es gebaut, mochten Beide ihre rechte Freude daran gehabt haben. Jetzt aber waren die Tage seiner schmucken Jugend längst dahin, und die drei- oder vierhundert Jahre, in denen es dem Wind und dem Wetter getrotzt hatte, waren keineswegs, ohne Spuren zu hinterlassen, an ihm vorübergezogen. Die einzelnen übereinander vorspringenden Stockwerke, deren es ohne den spitzen schmalen Giebel drei zählte, hatten sich hier nach rechts, dort nach links, und hier wieder in der Mitte gesenkt, so daß so ziemlich sämmtliche Fenster mehr oder weniger schielten; die Schnitzereien an den Balkenköpfen waren sehr stumpf geworden, zum Theil kaum noch erkennbar, ebenso wie das aus Stein gehauene Wappen über der mächtigen eichenen Thür, die stets offen stand und durch die man auf einen sehr geräumigen Flur blickte, um welchen eine nach den inneren Gemächern führende Gallerie herumlief. Mit einem Worte: das Haus war, wie es auch früher damit beschaffen sein mochte, jetzt nur noch, was die Leute einen »merkwürdigen alten Kasten« zu nennen pflegen, und wenn der dermalige Besitzer, der Drucker und Zeitungsverleger Peter Schmitz, dennoch seine Freude daran hatte und es mit keinem Palast der Welt hätte vertauschen mögen, so war es vielleicht deshalb, weil es schon so lange im Besitz seiner Familie gewesen war, daß seine Schwester Bella sich in schwachen Stunden einbildete, das arg verstümmelte adlige Wappen über der Hausthür sei das Wappen ihrer – der Schmitz'schen – Familie. Das war nun aber nicht der Fall. Die Familie Schmitz war, wie schon der Namen zeigte, bürgerlich, sehr bürgerlich. Peter Schmitz selbst war nicht gut auf den Adel zu sprechen und nannte seine Schwester, wenn sie von dem Schmitz'schen Wappen sprach, lachend eine alte Närrin. In der That hatten die Schmitz nach den gewöhnlichen Begriffen gar keine Ursache zum Stolzsein. Es war ihnen Generationen hindurch ziemlich kümmerlich gegangen, und wenn es Peter Schmitz durch seine Energie und Intelligenz dahin gebracht hatte, daß die alten Pressen im Hintergebäude jetzt wieder rüstig arbeiteten, so erinnerte er sich doch recht wohl der Zeit, wo dieselben still standen und die ganze Existenz der Familie von dem Gedeihen eines kleinen Ladens abhing, aus welchem sich die Nachbarschaft mit Papier, Federn, Siegellack und mit Tinte versorgte, die nach eigenen geheimen Recepten des alten Anton Schmitz bereitet wurde. Ja, Peter Schmitz behauptete, daß seine Hände, seitdem er damals als Knabe dem Vater bei der Fabrikation der Tinte helfen mußte, niemals wieder ganz rein geworden seien, wie er denn überhaupt diese ganze Periode »einen Klex in der Familiengeschichte der Schmitz« zu nennen beliebte, »den alles Wasser des Stromes, welches seitdem vorübergeflossen, nicht wieder habe heraus waschen können.«

Wenn der sanguinische, breitschultrige, kleine Peter Schmitz auf dieses Thema kam – was übrigens äußerst selten geschah – pflegte ihn die gewöhnliche zuckende Lebhaftigkeit zu verlassen. Er konnte dann sogar auf einige Minuten melancholisch werden – freilich auch nur auf einige Minuten, denn Peter Schmitz hatte wenig Zeit zu dergleichen Luxusstimmungen. Er fuhr sich dann ein paar Mal mit der Hand durch sein starres, schon jetzt – obgleich er erst im Anfang der vierziger Jahre stand – stark ergrauendes Haar, pfiff die drei oder vier ersten Takte eines Liedes und ging wieder an die Arbeit.

Mit dem Klex in der Schmitz'schen Familiengeschichte verhielt es sich aber folgendermaßen:

Als der alte Anton Schmitz vor nun etwa dreißig Jahren aus Mangel an Beschäftigung und Geld seine Pressen zum Stillstand brachte und über den Fenstern links von der Hausthür, wo jetzt: »Expedition des Volksboten« zu lesen war, ein Schild mit der Aufschrift: »Schreibmaterialien-Handlung von Anton Schmitz« aufhing, war der arme Mann nicht mehr in der Lage, für die Erziehung seiner heranwachsenden Kinder, so wie er wohl wollte, sorgen zu können. Der sechszehnjährige Eugen wurde aus der Secunda seines Gymnasiums nach Thüringen in eine Maschinenbauwerkstatt geschickt, und die um zwei Jahre ältere Bella auf's Land in eine Gutsbesitzerfamilie, wo sie die Wirtschaft erlernen sollte. Die beiden jüngeren, Peter und Margarethe, blieben freilich zu Hause, aber auch sie mußten, so weit es eben ging, in dem neugegründeten Geschäfte thätig sein. Peter half dem Vater in den Hinterräumen, wo die Pressen still standen, Tinte fabriciren; die zwölfjährige Margareth mußte der kränklichen Mutter vorn im Laden bei dem Verkauf zur Seite bleiben. Es waren schlimme Jahre diese Jahre der Tintenfabrikation. Die Nachbarschaft war lange nicht so schreiblustig, wie es die Interessen der Familie Schmitz erforderten; die Mutter kränkelte und kränkelte und starb; die Kinder hatten in der Fremde weder Glück noch Stern. Eugen mußte Soldat werden, konnte sich mit seinem leichtlebigen, rheinischen Naturell in das Kamaschenthum des Garnisondienstes in einer thüringischen Festung nicht finden, beleidigte seinen Lieutenant und wurde kriegsgerichtlich zu einer mehrjährigen Festungshaft verurtheilt. Bella, ein hübsches, geistvolles Mädchen, traf es in einer Condition immer schlechter als in der andern, und verkümmerte in der rohen Umgebung. Das Gemüth des alten Anton Schmitz, der einer von den schwachen Menschen war, die weder das Glück, noch das Unglück so recht ertragen können, wurde durch all' dies Leid so bitter, wie die Galläpfel, die er zu seiner Tinte gebrauchte, und der arme Peter hinter seinem Destillirkolben und die arme Margareth hinter ihrem Ladentisch führten in dem düstern, verfallenden Hause, in welches schon seit Jahr und Tag kein Miether mehr einziehen wollte, ein sehr freudloses Leben. Und doch meinte es der alte Vater herzensgut mit allen seinen Kindern, vorzüglich mit der Margareth, seiner jüngsten, die von je sein Liebling gewesen war. Es würde aber auch Jedem schwer gefallen sein, die Margareth nicht lieb zu haben, denn sie war in der That ein wunderbar liebliches Geschöpf. Dunkelhaarig und dunkeläugig, wie alle Schmitz, von schlankem Wuchs, mit einem zarten aristokratischen Gesicht, das ein eigenthümlicher melancholischer Zug noch vornehmer machte, hätte sie mit achtzehn Jahren einen Bildhauer oder Maler zu einer Psyche oder Muse begeistern können. Wer nur in ihre Nähe kam, empfand den Zauber dieser anmuthigen Erscheinung; die ganze Nachbarschaft war gewissermaßen stolz auf sie und nannte sie schlechtweg »die schöne Margareth.« Niemand aber war auf die Margareth stolzer und Niemand fand sie schöner, als ihr eigener Bruder Peter. Sie war ihm der Inbegriff aller Poesie; sie war sein Trost, sein Labsal bei all' den Leiden, die sein stürmisches Herz zu erdulden hatte; ein Lächeln von ihr, ein freundliches: »Du lieber, armer Peter!« aus ihrem Munde, war der Lohn, um den er die mürrische Laune des Vaters, die harte, freudlose, prosaische Arbeit willig ertrug; die Hoffnung, sie dermaleinst aus dieser niederen Sphäre zu Glanz und Reichthum zu erheben, war der Traum seiner jungen Jahre, das Licht des Pharos, das ihm die Kraft gab, das rauhe Leben durchzuwettern. Und die nachhaltige Kraft des breitschultrigen, jungen Mannes mit den klugen, dunkeln Augen unter den dichten Brauen, und der festen, geraden, niedrigen Stirn unter dem schwarzen, starren Haupthaar stemmten sich nicht vergebens gegen das Rad des Wagens. Sein scharfer Verstand fand bald heraus, daß die ungeschickte Weise, wie der Vater das Geschäft eingerichtet hatte, das Haupthinderniß eines glücklichen Gedeihens war. Er entwarf einen neuen Plan, dem der grämliche Vater wider seinen Willen zustimmen mußte. Denn es fiel ihm ein, daß bei der Tintenfabrikation im besten Falle nicht viel herauskäme, und ob sich nicht bei einer rationellen Behandlung der Lumpen ein billigeres und besseres Papier erzielen lasse. Er studirte mit einem rastlosen Eifer bei einem kümmerlichen Talglicht, in einem kalten Zimmer Chemie, Physik, Mechanik, und es dauerte nicht allzulange, als er ein neues System erfunden hatte, dessen vielversprechende Zweckmäßigkeit die Regierung mit einem Patente auf die Dauer von zehn Jahren anerkannte. Jetzt handelte es sich nur um die Herbeischaffung eines Kapitals, um den mit fiebernden Schläfen und brennender Stirn erzeugten Gedanken praktisch auszubeuten, und auch das Kapital fand sich. Dem alten gebrochenen Vater hatte Keiner einen Groschen leihen mögen, dem jungen Manne mit den kleinen klugen Augen und den festgeschlossenen Lippen, die dann auch wieder so überzeugend zu reden wußten, bot man mit Freuden Tausende von Thalern. Der alte Mann konnte den Glanz des neuen Sternes, der über seinem verfallenen Hause aufging, nicht ertragen. Es wollte ihm nicht zu Sinne, daß das so heiß erstrebte Ziel nicht auf dem von ihm angebahnten und betretenen Wege erreicht werden sollte. Von dem Tage, wo die neuen Maschinen im Hintergebäude aufgestellt wurden, kam er nicht mehr in die Geschäftsräume. Er schloß sich in sein Zimmer, brummte über die Eier, die klüger sein wollten, als die Henne, über die Bäume, die in den Himmel wachsen wollten. Zuletzt legte er sich hin, sprach viel von verdorrtem Gras, das umgehauen und in den Ofen geworfen werden müßte, und es dauerte nicht lange, so war er todt, obgleich es selbst den Aerzten nicht leicht wurde, zu sagen, woran er denn eigentlich gestorben sei. Peter meinte in späteren Jahren ganz ernsthaft: an den neuen Maschinen. Damals aber hatte er keine Zeit, lange über die Ursache von seines Vaters Tod, obgleich er den alten Mann stets sehr geehrt und geliebt hatte, zu grübeln, denn die Einrichtung und der Betrieb seiner Fabrik nahmen seine Zeit und seine Kraft vollauf in Anspruch. Das Eisen lag auf dem Ambos, und Peter Schmitz war der Mann, es zu schmieden, so lange es glühte. Jetzt endlich sah er eine Möglichkeit, etwas für die Seinigen zu thun, für den armen Bruder Eugen, dem eben ein glückliches Ereigniß in der regierenden Familie nach fünf Leidensjahren die Begnadigung eines Vergehens gebracht hatte, das mit fünf Tagen Arrest überreichlich bestraft gewesen wäre; für seine Schwester Bella, bevor sie in ihrer trostlosen Umgebung den letzten Rest ihrer Munterkeit und Gesundheit einbüßte; und endlich und vor Allem für seine jüngste, geliebteste Schwester Margareth. Aber sonderbar! je rosiger Peter jetzt die Welt sah, je heiterer sein ehrliches Gesicht von Hoffnung und Schaffenslust strahlte, desto sichtbarer welkten die Rosen auf der schönen Margareth Wangen, desto deutlicher trat der melancholische Zug auf ihrem reizenden Gesicht hervor.

Peter Schmitz wußte lange Zeit nicht, wie er sich diesen Zustand der Schwester, der ihn tief bekümmerte, deuten sollte. Anfangs nahm er an, daß es Trauer um den Vater sei, dann aber fiel ihm ein, daß sie schon vor des Vaters Tode dieselbe Bekümmerniß gezeigt habe. Er meinte nun: es sei die Einsamkeit in dem freudlosen Hause, und er schlug Margareth vor, Schwester Bella, wie es schon lange seine Absicht gewesen war, kommen zu lassen; aber seltsamer Weise wollte Margareth gar nichts davon wissen; Bella befinde sich in ihrer jetzigen Stellung sehr wohl und sie (Margareth) wünsche nichts dringender, als allein zu sein, ganz allein, und wie sie das sagte, füllten sich ihre schönen Augen mit Thränen. Peter rieth hin und her, aber er kam nicht auf die rechte Spur, vermuthlich deshalb, weil dieselbe von dem Wege, den er mit solcher Energie verfolgte, ziemlich weit ablag. Er hatte in seinem harten Leben so sehr wenig Zeit gehabt, an das zu denken, was jungen Leuten zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren gemeiniglich als die Hauptsache erscheint. Verliebt war Peter nur einmal gewesen und zwar als zehnjähriger Bube in ein kleines Mädchen mit rothen Wangen und blonden Haaren, das mit ihm in eine Schule ging., und mit dem er seine Schulsemmeln und seine Aepfel immer redlich getheilt hatte. Seitdem war die einzige Angelegenheit seines Herzens die Liebe zu seiner Schwester Margareth gewesen, und wie denn das so zu gehen pflegt, er hatte sich immer eingebildet, daß dies Verhältniß auf Gegenseitigkeit beruhe, und hatte auf alle Bewerber um die Gunst seiner Schwester mit jener absoluten Sicherheit herabgesehen, in welcher sich Brüder, die ihre Schwester anbeten, so gern wiegen. Seine schöne Margareth, verliebt in ein ganz gewöhnliches, biertrinkendes, tabakrauchendes, kegelschiebendes, Comptoir-Arbeiten verrichtendes Menschenkind! Das war ja ganz undenkbar, vollkommen lächerlich, und Peter hatte über die jungen Leute, die sich ersichtliche Mühe gaben, seiner Schwester zu gefallen, gelacht, wie über Kinder, die mit Muscheln einen Leuchtthurm einwerfen zu können meinen. Aber das Lachen war nicht mehr auf seiner Seite, als ihm eines Tages einer von eben diesen jungen Leuten zu verstehen gab, er glaube den Grund von Margareths Sprödigkeit ganz gut zu kennen; es sei freilich nichts, worüber sich zu freuen der Bruder besondere Ursache habe. Peter brauste auf, wie das bei seinem heftigen Temperament und der großen Liebe, die er für seine Schwester hegte, natürlich war, und verlangte heftig, daß der junge Mann, wolle er nicht von ihm für einen ehrlosen Lügner angesehen werden, sofort seine Worte zurücknehmen, oder mit der Sprache herausrücken solle. So bedrängt blieb dem Letzteren nichts übrig, als Petern zu entdecken, daß seine Schwester – nicht seit heute oder gestern, sondern schon seit geraumer Zeit – einen Liebeshandel habe, und zwar mit einem Offizier, dem Lieutenant Arthur von Hohenstein. Peter versuchte zu lachen, aber es wollte damit nicht recht gehen. Der junge Mann, der ihm die Mittheilung machte, war ein Schulfreund von ihm, und er kannte denselben als einen durchaus ehrenwerthen, tüchtigen Menschen, der sich zur Verläumdung eines Mädchens schwerlich herbeilassen würde. Ueberdies war derselbe Zahlmeister in dem Regiment des Lieutenants, wußte als solcher um die Verhältnisse der Offiziere recht gut Bescheid, und was das Schlimmste war, er brachte für seine Behauptung Belege vor, gegen deren überzeugende Kraft Peter, wenn er nicht geflissentlich blind sein wollte, die Augen nicht wohl verschließen konnte. Nach dem Bericht des Zahlmeisters war Margareths Liebeshandel gar kein Geheinmiß mehr; die halbe Nachbarschaft, wenn nicht die ganze, wußte davon, und die Offiziere von des Lieutenants Regiment tranken bei ihren Gelagen auf das Wohl der »Ballade« – so hatte ein geistreicher Kamerad des Herrn von Hohenstein, der in die »Affaire« speciell eingeweiht war, das schöne Bürgermädchen wegen ihrer melancholischen dunkeln Augen getauft.

Der arme Peter gerieth durch diese Mittheilungen in eine Verzweiflung, im Vergleich mit welcher die bittersten Thränen, die er als Knabe in seine Tintentöpfe geweint hatte, Freudenthränen gewesen waren. Sein erster Gedanke war, eine alte verrostete Reiter-Pistole, die er einst in einem Winkel des Hintergebäudes gefunden, und die jetzt über seinem Bett hing, herabzunehmen und den Verführer seiner Schwester niederzuschießen wie einen tollen Hund. Sein zweiter: daß er vor allen Dingen erst von Margareth die Bestätigung dessen, was unter den Leuten über sie circulirte, haben müsse; denn Peter war ein rechtlicher Mensch und es widerstrebte seinem Gefühl, Jemanden zu verdammen, bevor er ihn selbst seine Sache hatte vertheidigen hören. So ging er denn – mit schwerem, schwerem Herzen und mit Angsttropfen auf seiner ehrlichen Stirn – so wie er von der Unterredung mit dem Zahlmeister kam, zu Margareth auf's Zimmer, trat zu ihr, die in der tiefen Fensternische hinter dem Epheugitter saß und – wie das Grethchen im Faust – die Abendwolken über die Giebel der Nachbarhäuser ziehen sah, und sagte mit sanfter trauriger Stimme: »Margareth, was habe ich Dir gethan, daß Du mir nicht vertrauen kannst?«

Er wollte noch mehr sagen, aber er vermochte nicht weiter zu sprechen und warf sich, das Gesicht in den Händen verbergend, Margareth gegenüber, in den alten Lehnstuhl. Margareth hörte aus dem ersten Worte, das Peter gesprochen, und sah mit dem ersten Blick in sein gramzerrissenes Herz, daß er Alles wisse. Das Bewußtsein ihrer Undankbarkeit gegen diesen besten, zärtlichsten aller Brüder durchfuhr ihre Seele wie ein zweischneidig Schwert; sie stürzte sich zu seinen Füßen, umfaßte seine Kniee und schluchzte: »Peter, Peter, verzeih mir, ich konnte nicht anders!« Diese geliebte, klagende Stimme brachte Peter wieder zu sich. Er fühlte, daß es an ihm sei: zu sehen, zu urtheilen und zu handeln, und daß er dazu seine ganze Mannhaftigkeit nöthig habe. So wischte er denn schnell, wie er die Hände von dem Gesicht zog, mit den Fingern über die Augen, zog die weinende Margareth zu sich auf den Schooß und ließ sie den ersten Sturm ihrer Empfindung an seiner treuen Brust ausweinen. Dann, als ihre Thränen sanfter flossen und ihr Busen nicht mehr so ungestüm wogte, fing er an zu ihr zu sprechen, lieb und gut, und er bat sie bei dem Andenken an ihre gemeinsame Jugendzeit, an alles Leid, das sie schon zusammen ertragen, auch dies Leid mit ihm zu theilen und ihm zu sagen, was, wie er wohl wisse, sie nicht dem Geistlichen in dem Beichtstuhl vertrauen würde, ihm aber anvertrauen könne, dessen Herz, so lange er denken könne, für sie und nur für sie geschlagen habe. Und Margareth erzählte unter manchen Thränen und manchem Stocken den Roman ihres Lebens.

Sie erzählte, wie sie vor nun bald einem Jahre Arthur von Hohenstein kennen gelernt habe, als er eines Morgens in den Laden kam, sich ein Cigarrenetui zu kaufen; wie er dann häufiger bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande wieder gekommen sei, und wie sie lange Zeit keine Ahnung davon gehabt, daß er nur ihrethalben komme, bis er ihr einmal ein Briefchen in die Hände gespielt, in welchem er ihr seine Liebe gestand. »Ich wollte Dir den Brief geben«, fuhr sie fort; »aber ich konnte es nicht, denn ich – ich liebte ihn, wie er mich liebte.«

Peter zuckte zusammen, wie ein Mensch, der plötzlich die Spitze eines Dolches gegen seine Brust gekehrt sieht, aber er blieb ruhig und ruhig sagte er: »Was geschah dann, Margareth?«

»Ich sah ihn darauf eine Zeit lang nicht, denn er hatte mir in dem Briefe geschrieben, daß, wenn ich ihm nicht auch gut wäre, ich ihm lieber gar nicht antworten solle, und ich antwortete ihm nicht und er kam nicht wieder, das heißt nicht in den Laden, denn am Hause vorübergehen sah ich ihn beinahe jeden Tag. Endlich während des Carnevals – ich hatte Dich und die Andern in dem Gedränge verloren – war er plötzlich an meiner Seite. Wie er mich unter all' den Menschen heraus gefunden, weiß ich nicht, aber er faßte meinen Arm und ich ließ es geschehen; ich wußte nicht, was ich in meiner Verwirrung that, ich fühlte nur, daß wenn er mich jetzt wieder frage, ob ich ihn liebe, ich ja antworten müßte, und er fragte mich und ich sagte: Ja, in Ewigkeit!«

»Und was geschah dann, Margareth?«

»Dann habe ich ihn bei meiner Freundin Elise, deren Bruder, wie Du weißt, Assistenzarzt in dem Militairlazareth ist, wiederholt gesehen, und er hat mich ein paar Mal nach Haus gebracht.«

»Ist das Alles, Margareth?«

»Ja, so wahr Gott mir helfe!«

»Und was glaubst Du nun, daß geschehen wird?«

Margareth fing wieder an zu weinen. »Ich weiß es nicht,« schluchzte sie, »ich habe nie daran gedacht.«

»Doch Margareth,« sagte Peter sanft, »Du hast daran gedacht, und eben, weil Du nicht wußtest, wie dies enden sollte, bist Du so traurig gewesen. Du hast vielleicht auch manchmal gemeint: er werde Dich heirathen; aber das wird nicht geschehen. Er kann kein armes Bürgermädchen zur Frau nehmen, denn er ist Offizier und darf nicht heirathen, wie er will, selbst wenn er Dich heirathen wollte, und daran zweifle ich sehr.«

»Arthur liebt mich; er ist über unsere Lage eben so unglücklich, wie ich!« rief Margareth schwärmerisch.

»Das werden wir sehen,« sagte Peter, sich von seinem Sitze erhebend.

»Was hast Du vor, Peter?« fragte die Schwester angstvoll, denn sie erschrak vor dem entschlossenen Ausdruck in ihres Bruders männlichem Gesicht.

»Nichts weiter, als zu ihm zu gehen, und Deine Angelegenheit mit ihm zu ordnen.«

»Ich werde ihn nie verlassen, er wird mich nie verlassen,« rief Margareth, und wie sie das sagte, fiel ein letzter Abendsonnenstrahl durch die in Blei gefaßten halb erblindeten Fenster und verklärte ihr schönes Antlitz, das jetzt mit den glühenden Wangen und den in Thränen erglänzenden Augen doppelt schön erschien. »Armes, armes Kind,« seufzte Peter. Er zog Margareth an sich und drückte einen Kuß auf ihre Stirn.

»Sei ruhig, Margareth,« sagte er, »ich werde nicht vergessen, daß Du keinen Vater und keine Mutter mehr hast.«

Dann ging er mit gesenktem Haupte, langsamen, ruhigen, festen Schritts aus dem Zimmer.

Peter fand Arthur von Hohenstein nicht in seiner Wohnung. Er kam am nächsten Morgen – es war ein Sonntag – vor der Parade wieder. Der Lieutenant war schon in voller Uniform, und Peter, der ihn noch nicht gesehen hatte, war von der großen Schönheit des jungen Mannes überrascht, trotzdem er wahrlich nicht in der Stimmung war, auf dergleichen in diesem Augenblicke zu achten. Freilich entging ihm auch nicht ein gewisser Ausdruck von Übersättigung oder Schlaffheit, der in den großen mattglänzenden braunen Augen des Lieutenants und um die Winkel der weichen, mit einem zarten schwarzen Bärtchen gezierten Lippen allerdings ziemlich ausgeprägt war.

Arthur empfing den Bruder seiner Geliebten mit einer so ausgesuchten Höflichkeit, mit so viel anmuthiger Bescheidenheit in Blick, Haltung und Rede, daß Peter Schmitz seine ganze Kraft zusammennehmen mußte, um seinem Vorsatz nicht untreu zu werden. So hörte er denn des Lieutenants Betheuerungen von der Ehrlichkeit seiner Absichten, von der großen Liebe, die er zu Margareth hege, von der Verzweiflung, mit welcher ihn seine unglückliche, nach allen Seiten hin gebundene Stellung erfülle, ruhig an und sagte dann: »Das Alles, oder wenigstens das Meiste davon hätten Sie bedenken sollen, Herr von Hohenstein, ehe Sie den Ruf eines unbescholtenen Mädchens zum Gespräch ihres Offiziertisches machten. Jetzt handelt es sich darum: was gedenken Sie in der Folge zu thun? Heirathen können Sie meine Schwester nicht.«

»Ich fürchte, nein,« sagte Arthur kleinlaut.

»Denn,« fuhr Peter fort, »ich kann meiner Schwester nicht zwölftausend Thaler – so viel müßte sie ja wohl haben? – mitgeben, und Sie haben, so viel ich weiß, kein Vermögen, dafür aber, wenn anders der Ruf die Wahrheit sagt, mancherlei Verpflichtungen, denen Sie aus diesem oder jenem Grunde nicht immer gerecht werden können.«

Der Lieutenant war bei diesen letzten Worten sehr roth geworden und hatte mit einem »mein Herr –« auffahren wollen, aber in Peters Auge lag eine Entschlossenheit, die jeden Versuch der Einschüchterung hoffnungslos erscheinen ließ.

»Wie dem auch sein mag,« fuhr Peter abermals fort, »so viel steht also fest: Sie können sie nicht heirathen. Da Sie das aber nicht können, und meine Schwester zum Gespött der Leute zu gut ist, so verlange ich von Ihnen Ihr Ehrenwort, daß Sie sich weder schriftlich, noch mündlich, weder durch Zeichen, noch Worte – achten Sie wohl darauf, Herr von Hohenstein! – meiner Schwester je wieder zu nähern versuchen, und daß Sie auf jede Ihnen irgend mögliche Weise dazu beitragen, die verletzte Ehre meiner Schwester wiederherzustellen, indem sie bei jeder Gelegenheit, wo es erforderlich ist, ohne Rückhalt die offene oder versteckte Andeutung eines Verhältnisses zwischen Ihnen und meiner Schwester für eine Lüge erklären.«

Arthur von Hohenstein hatte, den Kopf in die Hand gestützt, nachdenklich zugehört. Jetzt blickte er wieder auf:

»Ich kann darauf mein Ehrenwort nicht geben,« sagte er, »ich kann es nicht, denn ich liebe Margareth – ich kann nicht von ihr lassen, wie sie nicht von mir. – O, Herr Schmitz,« fuhr der junge Mann fort, indem er mit einer hinreißenden Anmuth Peters beide Hände erfaßte und fest hielt, »haben Sie Mitleid mit Ihrer Schwester, haben Sie Mitleid mit uns! Seien Sie nicht hartherziger als meine Gläubiger! Stellen Sie mir eine Frist! Geben Sie mir eine Bedenkzeit! Ist es denn nicht hart genug, daß unser Einer das Opfer eines engherzigen Kastengeistes, mit Leib und Seele sich dem Moloch eines falschen Ehrbegriffs zu opfern gezwungen ist? Müßt Ihr andern Glücklichen, die Ihr draußen steht und frei dem Zuge Eures Herzens folgen könnt, anstatt uns unsere Last tragen zu helfen, unser glänzendes Elend durch Euer feindseliges Mißtrauen, durch Eure Lieblosigkeit noch elender machen?«

Peter Schmitz' Ohr und Herz waren für die Gründe, mit denen Jemand seine Sache führen zu können glaubte, stets offen, und er fühlte, daß die Klagen des Lieutenants nicht so ganz unbegründet seien. Auf der anderen Seite war er sich bewußt, mit einem eifersüchtigen Haß zu dem Geliebten seiner Schwester gekommen zu sein, und daß er deshalb doppelt vorsichtig gegen sich selbst sein müsse. Er sagte daher dem Lieutenant, daß er ihm, weil derselbe es wünsche und weil er auch den Schein der Gehässigkeit von sich selbst entfernen möchte, acht Tage Zeit zu einer definitiven Antwort lassen wolle, und ging – nicht leichteren Herzens, als er gekommen war.

In den nächsten acht Tagen trat ein Ereigniß ein, welches auf die Stellung des Lieutenants und mithin auch auf seinen zu fassenden Entschluß von. großem Einfluß sein mußte. Sein Vater nämlich, der Oberpräsident, starb ganz plötzlich am Schlage und es stellte sich alsbald heraus, was bei der verschwenderischen Lebensart des Vaters und seiner vier Söhne eben nicht überraschen konnte und auch Niemand überraschte, nämlich: daß der Würdenträger trotz seiner sehr beträchtlichen Einkünfte mit Hinterlassung noch viel beträchtlicherer Schulden gestorben war. Die Hoffnung, mit welcher sich die armen betrogenen Gläubiger oft getröstet hatten, und auf welche sie von ihrem hochgestellten Schuldner auch wohl manchmal direct vertröstet worden waren: des Verstorbenen kinderloser und unverheiratheter Bruder, der General auf Rheinfelden, werde seine milde Hand aufthun, erwies sich als trügerisch. Die Hand des Generals war so wenig mild, als seine Sprechweise. Er sagte den sich an ihn wendenden Gläubigern: »sie sollten sich zum Teufel scheeren«, und seinen Neffen: »sie hätten dem Alten die Suppe einbrocken und essen helfen, nun möchten sie auch allein damit fertig werden.« Da dies aber leichter gesagt, als gethan war, eine Familie aber von so altem Adel, die das Land mit unzähligen Majors, Obristen, Generalen, hin und wieder auch mit geheimen und andern Räthen beschenkt hatte, doch unmöglich die Folgen ihres Leichtsinns allein tragen konnte, wie andere Menschen, so trat der Regent des Landes zwischen sie und die offenstehende Pforte des Schuldthurms und bezahlte die Gläubiger aus seiner Privat-Chatouille, wobei er denn allerdings den Beschenkten zu verstehen gab, daß dies das letzte Mal sei, wo er Gnade für Recht ergehen lasse. Die beiden älteren Brüder, Guisbert, der jetzige Obrist, damals Hauptmann, und Philipp, der Präsident, damals Assessor, jener in seiner Vaterstadt, dieser in der Residenz, ließen sich den allerhöchsten Wink nicht vergebens angediehen sein. Sie verlobten sich, sobald es nur irgend die Schicklichkeit erlaubte, um den Beweis zu liefern, wie es ihre ernstliche Absicht sei, mit der Vergangenheit zu brechen; der jüngste, Ernst, der wildeste der ganzen Schaar und das enfant terrible der Familie, Lieutenant wie sein Bruder Arthur, ließ sich den Abschied geben und ging nach Südamerika, wo man, wie er sich hatte sagen lassen, in acht Tagen General werden könne, falls man nur das nöthige Glück habe; und so blieb denn von Allen nur Arthur übrig, »der schöne Hohenstein«, von dem die Welt annahm, daß er sich seine anerkannte Schönheit und Liebenswürdigkeit zu Nutzen machen, ein reiches Mädchen heirathen und so seine, wie man sagte, trotz der fürstlichen Huld immer noch etwas derangirten Verhältnisse, vollends ordnen werde.

Aber die Sache kam wesentlich anders, als die Welt dachte.

Es waren etwa vier Monate seit dem Tode des Oberpräsidenten verflossen, ohne daß Arthur sich seines Peter Schmitz gegebenen Versprechens zu erinnern schien. Peter fand das unter den obwaltenden Verhältnissen erklärlich, und nur die Blicke seiner Margareth, die sich immer ängstlicher auf ihn richteten, je länger der Termin der Entscheidung, auf welchen sie der Bruder vertröstet hatte, verstrichen war, beunruhigten und quälten ihn. Er suchte, wenn das möglich war, durch noch liebevollere Aufmerksamkeit, wie sonst, die Schwester zu entschädigen; aber er fühlte, daß ihm das nicht gelang und gelingen konnte, und sein Herz wurde schwer und schwerer, je mehr er sich überzeugte, daß es ganz vergeblich sei, Margarethen von ihrer Leidenschaft abzubringen. Dennoch mußte es geschehen. Peter sah, so viel er auch sann, keine andere Rettung.

So saßen sie sich eines Abends in dem Wohnzimmer gegenüber. Es war im November; der Herbstwind heulte durch die enge Gasse; die kleinen in Blei gefaßten Fensterscheiben klapperten unter dem klatschenden Regen in ihren morschen Rahmen; in dem weiten Schornstein polterte und ächzte es unheimlich. Petern war das alte Haus noch nie so freudlos, so traurig erschienen, und während er von Zeit zu Zeit von seinen Rechnungen zu Margarethen hinüberblickte, die still und blaß an der andern Seite des Tisches saß und schon seit einer halben Stunde die Arbeit in den Schooß hatte sinken lassen und unverwandt vor sich nieder auf den Boden starrte, da dachte er in seiner Verzweiflung, ob es nicht besser für die Aermste wäre, sie läge todt in der kühlen, schwarzen Erde, erlöst von all' diesem Gram und Herzeleid.

In diesem Augenblicke kam die Magd, zu melden, daß draußen ein Fremder sei, der den Herrn zu sprechen wünsche. Margareth fuhr aus ihrer gebückten Stellung in die Höhe und drückte die Hand auf das Herz, während ihre Blicke angstvoll auf die Thür geheftet waren. Peter, von derselben Ahnung erfaßt, erhob sich, dem Fremden, dessen hohe Gestalt sich schon hinter der Magd zeigte, entgegenzugehen. Der Fremde trat rasch herein, zog die Thür hinter sich zu und stürzte Margarethen zu Füßen, sein Gesicht in ihrem Schooße verbergend. Margareth brach in Thränen aus, und dann, ihre Hände auf des Geliebten Haupt legend, lächelte sie glückselig und schaute, durch Thränen lächelnd, zu ihrem Bruder hinüber, als wollte sie sagen: siehst Du nun, daß ich glücklich sein kann!

So wenigstens legte sich Peter diesen Blick aus, und als jetzt Arthur von Hohenstein sich erhob und auf ihn zutrat und ihm in einer Bewegung, die vergeblich nach Worten zu ringen schien, die Hand entgegenstreckte, da faßte Peter Schmitz diese Hand, die nie in der seinen zu halten, er so fest entschlossen gewesen war.

Arthur von Hohenstein war mit seiner weltmännischen Gewandtheit zuerst im Stande, das verlegene Schweigen, das bis jetzt im Gemache geherrscht hatte, zu brechen. »Verzeihen Sie, Herr Schmitz«, sagte er, »daß ich gegen Ihre Erwartung und wohl auch gegen Ihren Wunsch Sie in Ihrer Wohnung aufsuche, aber ich konnte dem Verlangen nicht wiederstehen, Margarethen zu sehen und Ihnen zu sagen, wie ich fester als je entschlossen bin, komme was da will, nicht von Margarethen zu lassen.«

Margareth stürzte dem Geliebten in die Arme; Peter trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und nagte an der Unterlippe. Die Unmöglichkeit, ohne der Schwester wehe zu thun, mit dem Lieutenant so zu sprechen, wie er als ehrlicher Mann sprechen mußte, setzte ihn in die peinlichste Verlegenheit. Er verwünschte innerlich den Einfall des Lieutenants, den Gegner in seinem Hause aufzusuchen und dadurch den Kampf auf ein Terrain zu spielen, wo ihm Sonne und Wind so günstig waren; und doch hatte er auch wieder, wenn er Margarethen so glücklich lächeln sah, eine Empfindung, als ob ihm eine schwere, schwere Last vom Busen genommen sei. Ja, er fühlte etwas, wie Stolz, darüber, daß der Sohn eines Oberpräsidenten, der Abkömmling einer so vornehmen Familie, zu ihm, dem obskuren Bürger, als ein Bittender kam, und wenn Peter Schmitz sich dies Gefühl auch nicht klar machte, so blieb es doch nicht ohne Einfluß auf seine Haltung und seine Entschlüsse an diesem verhängnißvollen Abend.

Arthur hatte die Aufmerksamkeit gehabt, nicht in Uniform zu kommen, und Peter Schmitz äußerte im Verlauf des Gesprächs, daß er ihn so viel lieber sähe, worauf der Lieutenant lebhaft erwiderte: »Ach, glauben Sie mir, ich zöge für mein Leben gern den bunten Rock aus, der mich mehr als alles Andre hindert, Margarethen die Meine zu nennen, wenn ich nur wüßte, was ich ohne ihn anfangen sollte. Ich würde für Margarethen gern Alles lassen: Stand und Rock und Degen, – ja das Leben selbst, wenn ich sie lieben könnte, ohne zu leben.«

Er schlang seinen Arm um Margarethens schlanken Leib, und so gingen sie im dunkleren Hintergrunde des Zimmers auf und ab, während Peter bei der Lampe saß und, den Kopf in die linke Hand stützend, mit der rechten immer schneller auf dem Tisch trommelte und immer eifriger an der Unterlippe nagte. Plötzlich schaute er auf und sagte: »Herr von Hohenstein, Sie lieben also meine Schwester?«

»Ob ich sie liebe!« rief der Lieutenant mit einem Nachdruck, der vielleicht ein ganz klein wenig theatralisch war.

»Nun wohl!« sagte Peter, »ich will Ihnen die Möglichkeit verschaffen, sie zu heirathen.«

Der Lieutenant blickte mit einigem Erstaunen zu Peter hinüber, denn, offen gestanden, war ihm diese Möglichkeit heute Abend noch grade so problematisch, wie sie es ihm vor vier Wochen gewesen war.

»Freilich«, fuhr Peter fort, »gehört von Ihrer Seite einige Entsagung und einiger Muth dazu, ich meine nicht Muth von der Art, wie ihr Herren vom Militair das Wort versteht, sondern von der, welche wir Bürgersleute tagtäglich üben müssen und vielleicht deshalb mehr als die Andern zu würdigen wissen. Vermögen habe ich, wie ich Ihnen schon sagte, nicht; aber ich habe, was beinahe ebenso gut ist, Arbeit, lohnende Arbeit, und es steht nur bei Ihnen, ob Sie an dieser Arbeit Theil nehmen und an den Früchten dieser Arbeit participiren wollen. Sie sind nicht älter als ich, und Sie haben eine bessere Erziehung gehabt. Was ich in Jahren mühsam durch eignen Fleiß gelernt habe, kann ich Sie in ebensoviel Wochen lehren. Werden Sie mein Compagnon! Ich brauche Jemand, der mir arbeiten hilft und der das Geschäft nach Außen mit mehr Feinheit vertritt, als ich rauher Mensch aufbringen kann. Was Sie, wenn Sie auf meinen Vorschlag eingehen, verlieren, vermag ich freilich nicht zu berechnen; was Sie dadurch gewinnen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, denn das wissen Sie selbst.«

Des Lieutenants erste Regung bei diesem eigenthümlichen Antrage war, gerade heraus zu lachen; aber einmal wäre das eine große Unschicklichkeit gewesen, deren sich ein so feiner Mann, wie Arthur von Hohenstein – zumal unter diesen Verhältnissen – nicht wohl zu Schulden kommen lassen konnte; sodann liebte er Margarethen wirklich, und schließlich war seine Lage, trotz der seiner Familie bezeigten fürstlichen Gnade, noch immer der Art, daß er fürchten mußte, über kurz oder lang seinen Abschied nehmen zu müssen, wenn er nicht vorzog, denselben freiwillig zu nehmen. Er blickte von Peters ehrlichem Gesicht in die dunkeln Augen Margarethens, die in ängstlicher Erwartung an seinen Lippen hingen, und blickte wieder zu Peter hinüber und sagte: »Ich will Alles thun, was ich kann, um Ihnen zu zeigen, daß ich es ehrlich meine.«

Margareth warf sich jubelnd an Arthurs Brust und Peter reichte ihm die Hand – diesmal ohne Groll und Widerstreben, denn, wenn Peter Schmitz einen Entschluß gefaßt hatte, so nahm er auch alle Consequenzen desselben mit in den Kauf.

Einige Wochen später wurde die vornehme Welt der Stadt durch die Nachricht überrascht, daß »der schöne Hohenstein« seinen Abschied genommen und sich mit einem hübschen Bürgermädchen verlobt habe, nicht öffentlich – denn dazu war der Oberpräsident noch nicht lange genug todt – aber doch verlobt, alles Ernstes verlobt habe. Es ging sogar das Gerücht: der Ex-Lieutenant sei der geheime Partner seines Schwagers in spe geworden, und wolle – wie einige Witzlinge meinten – das Papier, auf welches seine Gläubiger ihre Mahnbriefe schreiben könnten, jetzt selber machen. Die vornehme Welt gerieth über diesen »Skandal« in einen Abgrund von Erstaunen und Entrüstung. Der General auf Rheinfelden äußerte, auf den von seinem Neffen erwählten Beruf anspielend, in seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Weise: »der Lump habe wohl gar bei seinen Unternehmungen auf ihn gerechnet, aber mit Lumpen, verarbeiteten oder unverarbeiteten, habe er nichts zu schaffen.« Die Brüder, von denen der älteste eben als Regierungsrath von der Residenz in seine Vaterstadt zurückversetzt und der zweite – vermuthlich um ihn zu seiner bevorstehenden Verbindung mit der Comtesse Selma von Düren-Lilienfelde würdiger zu machen – zum Major avancirt war, beschworen ihn, einen Gedanken aufzugeben, dessen Ausführung die ganze Familie »blamiren« würde, und – wenn es nicht anders ginge – lieber dem Beispiel des jüngsten Bruders zu folgen und auszuwandern.

Es hieße von der Charakterstärke Arthurs von Hohenstein viel zu hoch denken, wolle man glauben, diese verwandtschaftlichen Mahnrufe und die Spitzreden seiner Standesgenossen seien ohne alle Wirkung auf ihn geblieben und er habe den in der Noth, dem Drang und der Ueberraschung des Augenblicks gefaßten Entschluß nicht schon vierundzwanzig Stunden darauf recht herzlich bereut, aber – was bei schwachen Charakteren so oft den Ausschlag giebt – er war schon zu weit gegangen, als daß er noch hätte umkehren können.

Peter Schmitz hatte damit angefangen, daß er mit einem Theil des Kapitals, welches er zum Betrieb des neuen Geschäftes so nothwendig brauchte, die Schulden seines Compagnons bezahlte und die Aussteuer Margarethens beschaffte. Er hatte für sich nur den Löwenantheil an der Sorge und an der Arbeit reservirt. Das Compagnongeschäft war eine Illustration zu der bekannten Fabel von dem Riesen und dem Zwerge, die zusammen auf Abenteuer auszogen. Dennoch ging das Unternehmen – Dank der unermüdlichen Thätigkeit und dem industriellen Genie Peters – verhältnißmäßig gut in den nächsten Jahren und Peter wäre ganz zufrieden gewesen, wenn er nicht die traurige Entdeckung gemacht hätte, daß der Lohn für alle Opfer, die er dem Glück und der Zufriedenheit seiner Schwester gebracht hatte, eine täglich größer werdende Entfremdung zwischen ihm und eben dieser Schwester war. Nicht, daß Margareth geflissentlich undankbar gewesen wäre! durchaus nicht; aber Liebe und Billigkeit finden selten zusammen in eines Weibes Seele Raum und wenn zwischen dem Gatten und dem Bruder Differenzen entstehen, so kann man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß eine Frau sich ohne langes Besinnen für den ersteren entscheiden wird. Und Differenzen zwischen Arthur von Hohenstein und Peter Schmitz blieben leider nicht lange aus. Der junge Edelmann hatte sich mit einer Schnelligkeit, die Alle, und Petern selbst am meisten, überraschte, in der neuen Sphäre zurecht gefunden; aber die langsame, nüchterne, stetige Arbeit behagte ihm weit weniger, als die schnelle, aufregende, mühelose Spekulation, bei der es hauptsächlich auf das trügerische Glück ankam, das er in seinem früheren Leben am Pharaotische so oft – diesmal vergeblich, und das andere Mal mit Erfolg – angerufen hatte. »Was wollen wir uns Jahre lang placken um etwas, was wir in vierundzwanzig Stunden erreichen können!« war seine ewige Rede, und unablässig drängte er seinen Schwager zu Unternehmungen, bei denen Alles zu gewinnen, freilich aber auch Alles zu verlieren war, und auf die Peter, der keinen Groschen mehr in der Tasche haben mochte, als er sich erarbeitet hatte, weder eingehen wollte noch konnte. Wenn es dann im Geschäft einmal weniger gut ging, wenn die Papierpreise fielen, oder sonst unglückliche Conjuncturen eintraten, so machte Arthur seinem Unmuth über seinen Schwager in bittern Reden gegen Margareth Luft. »Bedank Dich dafür bei Deinem Bruder, der ja durchaus ein Bettler bleiben will. Freilich: Bourgeois bleibt Bourgeois, der Muth lernt sich nicht, wie er sich nicht verlernt.«

Diese Verschiedenheit in der Auffassung des geschäftlichen Lebens führte zuletzt zu einem offenen Bruch zwischen den Compagnons, und zwar unter Umständen, die in den Augen Peter Schmitz', und auch wohl jedes rechtlich Denkenden, einen schweren Makel auf den Charakter des zum Geschäftsmann gewordenen Edelmannes warfen. Arthur hatte sich ohne Peters Wissen auf eigene Rechnung und Gefahr in eine Spekulation eingelassen, die außerordentlich glücklich ausfiel und ihn mit einem Schlage mindestens zu einem wohlhabenden Manne machte. Peter wußte von der ganzen Sache nichts und Arthur kündigte den Contract mit dem Schwager in dem Augenblicke, als er den günstigen Ausgang seines Börsenspiels erfahren, indem er eine schon seit längerer Zeit zwischen ihm und Peter schwebende Differenz geflissentlich auf die Spitze trieb, und als den ostensiblen Vorwand seines Schrittes benutzte. Der Verrath war um so schwärzer, als er in einem Augenblick ausgeführt wurde, wo in Folge der Juli-Revolution in Frankreich der Credit auch in Deutschland stark erschüttert war und die Angelegenheiten der Firma sehr schlecht standen.

Natürlich ließ die Welt den glücklichen Spieler die Unredlichkeit seiner Handlungsweise keineswegs entgelten; sondern zog in diesem, wie in jedem anderen Falle, vor dem Erfolge den Hut ab. Es dauerte nicht lange und Arthur von Hohenstein war einer der respectabelsten Männer der Stadt. Zwar die Thüren des Adels blieben ihm nach wie vor verschlossen; aber mit um so offeneren Armen wurde er von der Bourgeoisie willkommen geheißen. Der Liberalismus war damals an der Tagesordnung und indem Arthur von Hohenstein, gereizt durch die unerbittliche Härte seiner Standesgenossen und besonders durch die consequente Mißachtung, die er von seinen Brüdern erfahren mußte, eine billige Freisinnigkeit geflissentlich zur Schau trug, verschaffte er sich auf die bequemste Weise von der Welt den Ruf eines besonders wohlmeinenden, gesinnungstüchtigen Mannes. Daß Herr von Hohenstein nur aus der Noth eine Tugend gemacht habe, daran dachte man nicht; es schmeichelte dem breitschultrigen, behäbigen Bourgeois, daß sich die schmale weiche Hand eines Herrn-Von mit so warmem Druck in seine plumpen, rauhen Hände legte. Man erwählte ihn zum Stadtverordneten, und als bald darauf ein Platz im Stadtrath vakant wurde, ruhte man von Seiten der Bürgerschaft nicht eher, als bis der liebe, freundliche Mann, der es so gut mit dem Bürger meine, in die leere Stelle eintrat. Die Regierung, welche wohl wissen mochte, was von dem Liberalismus eines Herrn von Hohenstein im schlimmsten Falle zu fürchten sei, bestätigte, ohne Anstand zu nehmen, die Wahl der Bürger.

Während Arthur von Hohenstein die Kastanien der Volksgunst und einer angesehenen einträglichen Stellung verhältnißmäßig so mühelos verzehrte, plackte sich der Mann, der ihm die süßen Früchte aus dem Feuer geholt hatte, in alter Weise ohne einen andern Lohn, als den, welchen ein ruhiges Gewissen zu gewähren vermag. Peter Schmitz hatte bald nach Margarethen's Verheirathung seine Schwester Bella zu sich genommen, aber ein so treffliches, durch und durch braves Wesen Bella war, und mit so großer Liebe sie an dem über Alles geliebten Bruder hing, sie konnte ihm die Verlorene nicht ersetzen. Dazu kam, daß die Gesundheit des armen Mädchens in der vieljährigen Sclaverei, die sie hatte erdulden müssen, gänzlich erschüttert war, und Peter, anstatt einer kräftigen Stütze, deren er in seiner großen Wirtschaft so sehr bedurfte, eine Kranke in's Haus bekam, die ihrerseits der Pflege und der Schonung um so mehr bedurfte, als ihr Gemüth fast noch mehr als ihr Körper gelitten hatte. Trotz einer Menge guter, ja ausgezeichneter Eigenschaften quälte sie sich und ihre Umgebung durch ihren Pessimismus und ihre krankhafte Reizbarkeit, und den armen Peter insbesondere noch durch ihre Eifersucht. Sie konnte es dem Bruder nicht vergeben, daß sein Herz nach wie vor mit einer, in ihrer unerschütterlichen Treue rührenden Liebe an Margarethen hing. Nebenbei, um doch ja keine Ruhe zu haben, fürchtete sie fortwährend, er werde sich in seiner gutmüthigen Blindheit gelegentlich einmal von irgend einer listigen Kokette fangen lassen, und sah in jedem hübschen Mädchen der Nachbarschaft, das sich unterstand, besonders freundlich gegen ihn zu sein, eine Prätendentin auf den ersten Platz an seinem Tisch.

Der arme Peter! er hatte wahrlich auch die Zeit, auf Freiersfüßen einherzuhüpfen! hatte so gar wenig Sorgen, daß er so großes Verlangen trug, eine recht gründliche dazu auf sich zu nehmen! Bella selbst wußte am besten, wie sauer es sich Peter werden lassen mußte, um sein Geschäft im Gang zu erhalten und dabei dem Bruder Eugen in seinen Nöthen beizustehen.

Bruder Eugen nämlich hatte, nachdem er die Sträflingsjacke ausgezogen, sich seiner alten Beschäftigung, dem Maschinenbau, wieder zugewandt, war Werkführer in einer Fabrik geworden, hatte sich die Gunst seines Prinzipals und die Liebe von seines Prinzipals Tochter zu erwerben gewußt, war Theilnehmer und endlich, nach seines Schwiegervaters bald darauf erfolgendem Tode, alleiniger Inhaber des Geschäftes geworden. Aber Eugen Schmitz ging es wie »Unstern, dem guten Jungen.« Es wäre ihm Alles in der Welt gelungen, wenn nicht Alles zufällig ganz anders gekommen wäre, als es zu Eugens Heil hätte kommen müssen. Andere Maschinenbaufabriken wuchsen wie Pilze in seiner unmittelbaren Nachbarschaft in die Höhe, und Eugen, der mit einem geringeren Kapital arbeiten mußte, konnte die Konkurrenz nicht aushalten. Er kam immer mehr in seinem Geschäfte zurück und zuletzt – nun zuletzt mußte natürlich wieder der Peter d'ran. Peter schaffte Rath, Peter schaffte Geld, und wenn Eugen dem Rathe seines um Vieles intelligenteren Bruders eben so willig gefolgt wäre, als er sein Geld willig nahm, so hätte noch Alles gut gehen können. Aber Eugen war waghalsig, gutmüthig, leicht zu übervortheilen und sein Geschäft wurde für Peter zu einem Danaidenfaß, das alle seine mühsam gemachten Ersparnisse mitleidslos verschlang. Die einzige Freude, die Peter hatte, wenn ihn eine der periodisch eintretenden Calamitäten seines Bruders nach Thüringen führte, war Eugen's einziges Kind, ein liebliches, herziges Mägdelein, Ottilie mit Namen, das von dem rheinländischen Vater das dunkle Haar, von der früh verstorbenen Mutter die großen blauen, lieben deutschen Augen geerbt hatte, und dem Onkel Peter jedesmal, wenn er kam, mit ihrer leichten, schlanken Gestalt immer höher an's Herz hinauf, und mit ihrem anmuthigen, fröhlichen Wesen immer tiefer in's Herz hinein wuchs.

Die Jahre kamen und gingen mit ihrem unhörbaren Schritt, der so leise auftritt und doch so tiefe Spuren hinterläßt. Das alte Haus in der Ufergasse war zwar noch ein wenig mehr zusammengesunken und seine Scheiben waren noch – wenn das möglich war – etwas blinder geworden, sonst aber hatten die beiden letztverflossenen Jahrzehnte keine wesentliche Veränderung in ihm und an ihm hervorgebracht. Desto größer waren die Wandlungen, die mit seinen Bewohnern unterdessen vorgegangen waren. Peter Schmitz' Gesicht zeigte zwei tiefe gerade Falten, die von der Nasenwurzel perpendikulair in die gerade, niedrige Stirn hineinliefen, und verschiedene andere um die viel fester als sonst geschlossenen Lippen. Dazu war sein, noch immer mächtig starkes, starres Haupthaar ganz grau geworden. Tante Bella wurde in Folge dessen freilich etwas weniger als sonst von dem Gedanken gequält, der vierzig und einige Jahre alte Peter werde eines Tages einen Schritt thun, der ihn, nach ihrer Ueberzeugung, für die übrige Zeit seines Lebens unbedingt zum Unglücklichsten der Menschen machen müßte; aber desto mehr litt sie von rheumatischen und gichtischen Anfällen und dabei war ihre Eifersucht gegen Margarethen die alte geblieben, trotzdem schon seit geraumer Zeit die Spannung zwischen dem Stadtrath und Petern so groß war, daß die Geschwister sich kaum noch sahen, und selbst Wolfgang, der sich in dem großen alterthümlichen Hause in der Ufergasse stets sehr wohl gefühlt hatte, immer seltener kam, besonders, seitdem er in der nahen Universitätsstadt seinen Studien oblag.

Hätte Peter die Schwester ganz glücklich gewußt, er würde diese Entfremdung und Trennung nicht leicht, aber doch leichter ertragen haben; aber Peter hatte verschiedene, sehr gewichtige Gründe, an dem Glück Margarethens zu zweifeln. Erstens war und blieb er im Grunde seiner Seele der Meinung (die er freilich gegen Niemand äußerte), daß kein Mensch seine Schwester so lieben, so verstehen könne, wie er – am wenigsten aber ihr eigener Gatte. Peter konnte Alles verzeihen, nur keine Unredlichkeit, und einer solchen hatte in seinen Augen sein Schwager sich gegen ihn zu Schulden kommen lassen. Ein unredlicher Mann aber, meinte Peter, könne nicht lieben, denn Liebe und Wahrheit, meinte Peter, das sei ja im Grunde dasselbe. Und dann war seinen scharfen Augen nicht entgangen, wie der melancholische Zug in Margarethens noch immer schönem Antlitz im Laufe der Jahre deutlicher und deutlicher hervorgetreten war, und seine scharfen Ohren hatten in den seltenen Zusammenkünften mit seiner Schwester manchen jener leisen Seufzer vernommen, die dem Busen eines Jahre lang Unglücklichen, ohne daß er selbst es weiß, entsteigen.

Was Petern aber noch mehr als Alles das quälte, waren die schlimmen Gerüchte, die in gewissen Kreisen über die Art und Weise, wie Herr von Hohenstein seine Geschäfte betrieb, und über die schwankenden Vermögensverhältnisse desselben im Umlauf waren. Nicht daß man den Stadtrath irgend einer offenbaren Unredlichkeit geziehen hätte! aber man flüsterte sich in die Ohren, daß er sein Geld, wenn er welches hatte, oft zu sehr hohen Zinsen ausleihe, und, wenn er keins hatte und welches brauchte (was noch öfter vorkommen sollte), zu allerhand Manipulationen seine Zuflucht nehme, auf die sich ein solider Geschäftsmann ein für allemal nicht einläßt. Auch sagte man, daß er ausstehende Schulden mit großer Energie einzutreiben wisse, dabei aber mit der Bezahlung seiner Rechnungen durchaus es nicht eilig zu haben pflege. Man zuckte die Achseln, wenn man über den Stadtrath sprach, und ein jedes solches Achselzucken war ein Dolchstich in Peters Herz, denn er dachte dabei weniger an seinen Schwager, als an seine Schwester, und es war ihm jedesmal, als ob nicht über jenen, sondern über diese gerichtet würde.

So kam das Jahr achtzehnhundertachtundvierzig heran und brachte für Peter neues Leben und neue Arbeit. Er hatte von jeher, wie das bei einem so redlichen, wohlmeinenden und energischen Manne auch wohl nicht anders sein konnte, den liberalen Bestrebungen seiner Zeit von ganzem Herzen angehangen und sich schon seit Jahren mit dem Gedanken getragen, die nun schon so lange feiernden Pressen in dem Hinterhause im Dienste dieser Bestrebungen wieder in Gang zu bringen. Das Jahr achtundvierzig brachte endlich den Plan zur Ausführung. Es fanden sich jetzt mit leichter Mühe wohlhabende Männer, die doch auch etwas für die allgemeine Sache thun wollten, und in acht Tagen war durch Actien die Summe, welche Peter haben mußte, aufgebracht. Ebenso schnell fand sich ein Redacteur en chef für den »Volksboten« in der Person von Peters langjährigem Freunde, dem Doctor Bernhard Münzer. Der achtzehnte März traf Redacteure, Expedienten, Setzer, Drucker – das ganze Personal schon in voller Thätigkeit, und Peter Schmitz rieb sich vergnügt die Hände, – seit langer, langer Zeit zum ersten Male! – »weil der Volksbote nicht hinter dem großen Ereignisse hergehinkt, sondern im Gegentheil das nothwendige Eintreten desselben aller Welt voraus verkündet habe.«

Da, als Peter etwa einen Monat später, in Mitten der Wahlagitationen für Mainstadt und die Residenz, nicht wußte, wo er trotz der zwanzig Arbeitsstunden seines Tages (Petern genügten von jeher vier Stunden Schlaf) die Zeit für seine vielen Geschäfte als Zeitungsverleger, Vice-Präsident des demokratischen Vereins, Mitglied wer weiß wie vieler Comitees für wer weiß wie viel verschiedene Zwecke hernehmen sollte, kam eine Botschaft aus Thüringen, die Petern sehr erschütterte, und ihn sich eilig dorthin auf den Weg machen ließ.

Der Unstern nämlich, welcher von jeher über Bruder Eugen's Haupte hingezogen war, hatte endlich seinen Culminationspunkt erreicht und war dann plötzlich für immer untergegangen – Bruder Eugen aber leider mit. Als er eines schönen Morgens in seiner Fabrik stand und mit seinem Werkführer von dem ersichtlichen Aufschwung, den das Unternehmen schon seit einiger Zeit genommen hatte, heiter schwatzte, war er dabei einem Rade zu nahe gekommen, das ihn tückisch am Rockschooß packte und in das Werk schleuderte, das ihn in einem Umschwunge zermalmte. Ottilie war glücklicher Weise auf einige Tage bei einer Bekannten auf Besuch, als man ihres Vaters zerstückelte Gliedmaßen aus den unnahbaren Armen der Maschine loslöste. Der Werkführer – ein redlicher Mann, Rheinländer von Geburt, und Petern wohlbekannt – schrieb sogleich an diesen letzteren, theilte ihm das gräßliche Ereigniß mit und bat ihn, sobald und so schnell, als es ihm irgend möglich sei, herüber zu kommen, da seine (Peters) Anwesenheit wohl in jeder Beziehung wünschenswerth sein dürfte. Peter, der nur zu wohl wußte, was mit dem unterstrichenen »jeder« gemeint war, steckte soviel Geld zu sich, als er irgend aus seinem Geschäfte herausnehmen konnte, traf mit Dr. Münzer in aller Kürze die nöthigsten Verabredungen, sagte Schwester Bella: er hoffe in höchstens acht Tagen mit Ottilie zurückzukommen und sie möge ja dafür Sorge tragen, daß Margareth den Tod des Bruders nicht unvorbereitet erfahre. Bella weinte und beschwor Peter, auf der Reise unter keinen Umständen die flanellene Unterjacke abzulegen, auch daran zu denken, daß Ottilie sich auf der Eisenbahnfahrt recht warm anziehe, und, mit diesen Verhaltungsmaßregeln ausgerüstet, reiste Peter ab.



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