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A m nächsten Mittag waren außer Camilla und Wolfgang Niemand von dem gestrigen Besuch auf Schloß Rheinfelden. Zwar wurde die Präsidentin, die mit den Andern in die Stadt gefahren war, auf den Abend zurückerwartet; aber es war ja klar, daß sie nur als dame d'honneur ihrer schönen Töchter figurirte und daß die Einladung im Grunde nur dieser letzteren galt. So hatte auch die Präsidentin die Sache angesehen. Sie hatte noch gestern Abend ihre liebe Camilla mit Thränen in den Augen umarmt und ihr zu dem günstigen Eindruck, den sie offenbar auf den Großonkel gemacht habe, gratulirt. Auch der Stadtrath war nach einer zweiten Unterredung mit dem General sehr aufgeregt zu seinem Sohne, der mit den Damen im Garten promenirte, gekommen, hatte ihn auf die Seite gezogen und ihm mitgetheilt: seine Aussöhnung mit dem Großonkel sei vollkommen; er (der Stadtrath) knüpfe an dies freudige Ereigniß – das er übrigens nach dem verbindlichen Einladungsschreiben erwartet habe – die frohesten Hoffnungen für die Zukunft. Der General wünsche den Großneffen, den er nicht ganz ohne seine Schuld – denke Dir, Wolfgang! – so spät kennen gelernt habe, noch ein paar Tage bei sich zu behalten. »Das kann zu etwas führen,« sagte der Stadtrath, indem er sich vergnügt die Hände rieb. »Thu's mir zu Liebe, Wolf!« sagte die Mutter, die unterdessen hinzugetreten war und bemerkt hatte, wie ihres Sohnes Gesicht sich bei des Vaters Worten immer mehr verdüsterte. – Eine Stunde später waren die Präsidentin und Aurelie, Arthur und Margarethe in dem großen Staatswagen des Generals abgefahren, und Wolfgang und Camilla hatten, vor der Hausthür stehend, dem Wagen nachgesehen, bis derselbe aus dem großen Thor des Schloßhofes hinaus war. Madame, die in ganz besonders gnädiger Laune den Herrschaften in den Wagen geholfen hatte, war in's Haus getreten, und die jungen Leute blickten einander an. Wolfgang fing an zu lachen.
»Wenn ich nicht zufällig wüßte, daß dies Wirklichkeit wäre, so würde ich glauben, ich träumte es nur, oder läse es in einem Roman.«
Camilla senkte die seidenen Wimpern: »Komme ich Ihnen wie eine Romanprinzessin vor?«
»Das nicht; aber diese ganze Umgebung steht in so gar keiner Verbindung mit meinem sonstigen Leben, Thun und Treiben, daß ich mir wie in einer fremden Welt vorkomme. Wie lange gedenken Sie denn eigentlich hier zu bleiben?«
»Ich weiß nicht, was der Großonkel und Mama darüber bestimmt haben. Und Sie?«
»Ich weiß es wahrhaftig auch nicht; nicht zu lange, hoffentlich; ich bin so schon in grausamer Verlegenheit, wie ich die paar Tage, die ich der Grille des Großonkels wohl werde opfern müssen, hinbringen soll.«
»Das ist sehr ungalant, Vetter,« sagte Camilla mit einem schelmischen Blick der sanften, braunen Augen.
»Warum?« erwiderte der junge Mann in ungekünstelter Verwunderung.
»Ich muß in's Haus, mit Madame über mein Zimmer zu sprechen. Entschuldigen Sie mich.«
Camilla nickte vornehm mit dem Kopfe – eine Kunst, in welcher die junge Dame excellirte – und ging in's Haus.
Wolfgang schaute ihr ein paar Augenblicke nach. Er hatte das unbestimmte Gefühl, die junge Dame beleidigt zu haben; aber er war mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigt, um sich die Sache sehr zu Herzen zu nehmen.
Er schlenderte in den Park – was sollte er anders thun? – und irrte auf's Gerathewohl in den verwilderten Gängen umher. Die Situation, in welche er sich so plötzlich und so ganz ohne sein Zuthun, ja im Grunde gegen seinen Wunsch und seine Neigung versetzt sah, war so eigenthümlich, daß er lange über jenen traumartigen Zustand, den er gegen Camilla angedeutet, nicht hinauskommen konnte. – Dies war also das Haus seines Großonkels, von welchem seine Eltern so oft gesprochen – das Haus, welches ihm immer als das Muster aller »verwunschenen« Schlösser erschienen war, wohin er alle gräulichen Geschichten von Blaubart und dem Jungen, der ausging, das Gruseln zu lernen, verlegt hatte. Und sah es nicht beinahe so aus, wie das Schloß seiner Knabenphantasien? War ihm nicht heute Morgen schon der Gedanke gekommen, als er mit der übrigen Gesellschaft unter Madames Führung durch das Haus gewandert war, und die lange Flucht der Zimmer mit der verschossenen Pracht der Damastmeubel und den gemalten Geßner'schen Idyllen sich seinen erstaunten Blicken erschlossen hatte? zuletzt die Rüstkammer, die der Großonkel in früheren rüstigeren Jahren angelegt hatte, ein ganzer Saal voll von Gewaffen aus alten und neuen Zeiten: römische Schwerter, die in Rheinfelden selbst bei einer Fundamentlegung ausgegraben waren, Hellebarden, Morgensterne, Streitäxte, Streitkolben, zweihändige Schwerter, Türkensäbel, lange und kurze Dolche und sonstige Mordwerkzeuge, unter anderen eine vollständige und sehr werthvolle Sammlung aller Arten von Büchsen, Flinten, Karabinern und Pistolen, die während der Befreiungskriege in den verschiedenen Armeen der kämpfenden Völker im Gebrauch gewesen waren. – Und nun gar dieser Park, der in seiner Verwüstung noch älter und wunderlicher aussah, als das Schloß, weil der Gegensatz der ausgelebten, verschnörkelten Formen der ursprünglichen Anlage mit der ewig jungen, ungebundenen Kraft der Natur um so deutlicher hervortrat. Seit einem Jahrzehnt schien keine ordnende Menschenhand hier thätig gewesen zu sein. In dem trocknen Laub, das so viele Herbststürme unter den breitkronigen Kastanienbäumen zusammengeweht, hätte sich Odysseus mit allen seinen Genossen verbergen können. Ein stattliches Gewächshaus in der Nähe des Schlosses war eine öde, mit Topfscherben, faulenden Brettern und wucherndem Unkraut angefüllte Ruine, in welcher die eben ausgeflogene erste Brut unzähliger Spatzennester lärmte. Nicht viel besser war es einem kleinen, von hohen Bäumen überschatteten Tempel ergangen, welcher, wie eine kaum noch leserliche Inschrift besagte, von dem Erbauer »der Freundschaft« gewidmet war. Zwischen den Trümmern des zum größten Theil eingestürzten Kuppeldaches, das in seinem Fall die pausbäckigen Genien von den Postamenten geschlagen hatte und jetzt den Boden fußhoch bedeckte, mußten, nach den umhergestreuten Federn und abgenagten Vogelknochen zu schließen, Füchse und Marder ihre blutigen Banquets halten. Ueberall in den Gängen des Parks schoß frisches Unkraut lustig zwischen dem vermodernden Wildwuchs so vieler Sommer hervor; hier und da blickten aus wüstem Gestrüpp verwitterte Statuen aus Sandstein, von denen die wenigsten noch mit Kopf und Armen versehen waren, empor.
Je weiter Wolfgang in die Wildniß drang, desto wunderlicher und traumhafter wurde ihm zu Sinnen. In dieser Wüstenei, wo Alles, was des Menschen Hand geschaffen, dem Verfall und der Vernichtung preisgegeben war, hatte selbst der helle, warme Nachmittagssonnenschein etwas Geisterhaftes, und das Zwitschern und Singen der nesterbauenden Vögel klang wie verhallende Stimmen aus der fernen Jugendzeit.
Er setzte sich auf eine Bank, die in einer mit Epheu dicht übersponnenen Nische aus Tuffsteinen stand. Der kleine Platz vor ihm, der früher ein Ziergärtchen gewesen sein mochte, war rings umher von einer Wand dunkelgrünen Nadelholzes eingeschlossen. Die ganze Welt schien um ihn versunken, und wie er so, den Kopf in die Hand gestützt, dasaß, verfiel er in jenen Zustand, der nicht Schlafen und nicht Wachen, sondern ein Mittelding zwischen beiden ist, wo die Bilder unserer Phantasie traumhafte Deutlichkeit gewinnen, ohne daß der Faden des Denkens dadurch zerrissen würde.
Er sah sich als kleinen, schmächtigen Knaben mit dem Ränzelchen auf dem Rücken durch die engen, vielfach gewundenen Straßen der altehrwürdigen Rheinstadt zur Schule wandern. Der Morgensonnenschein liegt so lieblich auf den Giebeln der Häuser und all das verworrene Geräusch einer volkreichen Handelsstadt von dem Bim-Bam der Glocken in den Thürmen der hohen Kathedralen bis zu den gellenden Stimmen der Höckerinnen, die ihre Waaren ausschreien; und das bunte Treiben der geschäftigen Menge: rollende Wagen, sich drängende Fußgänger, unter Trommel- und Pfeifenklang vorbeimarschirende Soldaten mit blitzenden Gewehren, plärrende Processionen mit flatternden Kirchenfahnen – wie das Alles an den frischen Sinnen des Kindes, verworren im Ganzen und Großen, und im Einzelnen so unendlich klar, vorüberzieht! – Und dann sitzt er in dem langen, schmalen Schulraum unter einem Heer von kleinen Knaben, die alle entsetzlich mit den scharfen Federn in den Schreibbüchern kritzeln, und er blickt unterdessen nach der hohen gewölbten Decke, wo der Widerschein der Sonne in dem Glase Wasser des Herrn Lehrers auf dem Katheder in goldenen Ringen und Streifen tanzt, und plötzlich faßt eine grobe Hand an sein Ohr und eine grobe Stimme ruft: »Ist das eine A, ist das eine B, verflixter Bube?« – Und zwischen all den großen Freuden und kleinen Leiden seiner Kinder- und Knabenjahre sieht er immer ein schönes, liebes, blasses Gesicht; und je älter und verständiger er wird, desto öfter sieht er es und desto schöner und lieber erscheint es ihm. Er sieht es sich über ihn beugen, wenn er krank im Bette liegt; er sieht es über seine Schulter auf seine Schularbeit blicken; er sieht es holdselig lächeln, wenn er von all den Heldenthaten phantasirt, die er im Leben noch auszuführen gedenkt; er sieht es von Thränen überflossen, wenn er in wilder knabenhafter Heftigkeit die beste, gütigste der Mütter erschreckt hat. Doch das kommt selten vor, denn der Knabe liebt seine Mutter, ja er betet sie an. Sie ist ihm der Inbegriff von Allem, was schön und gut auf Erden ist; mit ihr zu leben, ihr Alles mitzutheilen, was sein junges, volles Herz bewegt, ist ihm unabweisliches Bedürfniß, um so mehr, als er niemals weder Brüder noch Schwestern gehabt hat, denen er von seiner Liebe hätte abgeben müssen. Die Mutter ist seine beste, seine einzige Vertraute, und es kommt bald die Zeit, wo er auch der Vertraute der Mutter ist. Die Mutter ist oft krank, und da sitzt er dann, während seine Kameraden vor den Fenstern ihrer Schönen Parade machen, oder in Winkelkneipen bei einem verstohlenen Kruge Wein dem strengen Verbote der Schule Trotz bieten, stundenlang an ihrem Bett und hält die schmale weiße Hand in der seinen oder legt seine Hand auf die brennenden Schläfe der von Schmerzen Gepeinigten, und ist glücklich, wenn ihre leiseren, ruhigeren Atemzüge die magnetische Wirkung, welche die Mutter in dieser Berührung gefunden haben will, zu bewahrheiten scheinen. In schmerzensfreien Stunden dann kommt die Mutter oft auf ihre Verhältnisse zu sprechen. Sie bedauert den Vater, den sie durch die Heirath mit ihr, dem armen Bürgermädchen, um die glänzende Zukunft betrogen habe, die ihm, dem Officier, durch seine adlige Geburt, seine vornehme Verwandtschaft, ja selbst durch seine Schönheit und seine vielfachen Talente gesichert schien. Durch diese Heirath sei er aus seiner Carrière gerissen, mit allen seinen Verwandten zerfallen, vorzüglich mit der alten Excellenz auf Rheinfelden, der es nur ein Wort koste, um den Vater aus all den Verlegenheiten zu reißen, in die er, der zum Geschäftsmann gewordene Cavalier, bei seiner erklärlichen Unbeholfenheit im Handel und Wandel, nothwendig gerathen mußte. – Diese Verlegenheiten des Vaters, in die der scharfsinnige Knabe durch die Mitteilungen seiner Mutter, durch manche häusliche Scenen, deren unfreiwilliger Zeuge er ist, nur zu früh und doch nur unvollständig eingeweiht wird, sind wie eine dunkle Wolke, die ihren Schatten über das sonnige Land seiner Jugend wirft und ihn zu einer Zeit, wo der Horizont anderer Knaben nicht über das Haus und die Schule hinausreicht, über die ernsten Conflicte des Lebens nachzudenken zwingt. Anderes kommt hinzu, den früh geweckten Hang zum Grübeln wach zu erhalten. Die Nachbarskinder verspotten ihn wegen seiner gewählteren Sprache und seiner besseren Manieren, und werfen ihm vor, daß er ein »Herr von« sei, und die jungen Adligen in der Schule rümpfen die Nase über ihn, weil sein Vater »an der Börse speculire.« Der vornehmen Verwandten seines Vaters, die er kaum von Ansehen kennt, die seinen Vater, seine Mutter, ihn selbst vollständig verleugnen, hört er mit größerer Achtung erwähnen, als der plebejischen Verwandten seiner Mutter, von denen er selbst stets nur Gutes und Liebes erfahren hat, von denen er weiß, daß sie seinen Vater vielfach mit Rath und That unterstützt haben. So wühlt der Zweifel an dem Werth der bestehenden Verhältnisse immer tiefer in ihm; aber an diesem Zweifel, der sich manchmal zu einer völligen Verzweiflung steigert, erstarkt der Charakter des Knaben, festigt sich der Entschluß des Jünglings: für seine Person das Rechte zu thun und, soviel an ihm ist, dafür zu wirken, daß Recht und Gerechtigkeit auf Erden geübt werde.
In dieser Richtung seines Geistes bestärkt ihn vor allem der vertraute Verkehr mit einem seiner früheren Lehrer, den der Conflict, in welchen seine Freisinnigkeit mit den im Staate herrschenden Grundsätzen gerathen ist, sein Lehramt niederzulegen gezwungen hat, und der schon seit Jahren in Zeitungen und Journalen das führt, was die vormärzlichen Büreaukraten und Dunkelmänner »eine scharfe Feder« zu nennen liebten. – Armer Münzer! nicht umsonst hat Dir das Schicksal einen so verhängnisvollen Namen gegeben! Wie Dein unglücklicher Namensvetter aus den Bauernkriegen hast auch Du Dich durch den Wust theologischer Scholastik hindurcharbeiten müssen zur Religion der Freiheit! Und Bauernblut ist es, das so feurig in Deinen Adern fließt, und Bauernmark ist es, das Deinem mächtigen Leibe die stolze Kraft giebt, die ein Menschenalter der Noth, des zum Theil verzweifelten Kampfes um das tägliche Brot, der unausgesetzten, aufreibenden Arbeit nicht haben erschüttern können. – Was Du wohl sagtest, edelster, bester meiner Freunde, wenn Du mich, Deinen Schüler und Zögling, jetzt hier sähest in Mitten dieses stolzen Parkes, den aristokratische Prunksucht einst geschaffen und aristokratische Laune jetzt verwildern läßt! mich hier träumend fändest m dieser Zeit, wo die ganze Welt aus den Fugen ist, und tüchtige Mannesarbeit im Preise steigt!…
Es fiel Wolfgang ein, daß zu dieser Stunde eine große Studentenversammlung in der Aula des Universitätsgebäudes tagte, in der über die in Anregung gebrachte Bildung eines bewaffneten Studentencorps Beschluß gefaßt werden sollte. Er hatte sich für einen Gedanken, der ihm mit so viel unlautern Elementen kindischer Eitelkeit und hohler Prahlerei versetzt schien, nicht begeistern können. Er dachte darüber nach, wie wohl Münzer die Sache auffassen, und was wohl Münzer bei einer solchen Gelegenheit sprechen würde. Er sah im Geist auf der Rednerbühne den gewaltigen Mann stehen; er glaubte seine tiefe, weiche Stimme zu hören, undeutlich erst, dann deutlicher und immer deutlicher, zuletzt jedes Wort, wie es von den beredten Lippen über die athemlose Menge zuckte: »O, glaubt es nicht, was eure Gegner sagen! Es ist kein leeres Spiel, was ihr da treiben wollt, und keine eitle Ehre ist es, die ihr erstrebt. Mögen Weisere, als ihr, bestimmen, was Recht ist, und berathen, was Noth thut; aber um ihren Beschlüssen Nachdruck zu verschaffen, um zu bewirken, daß die Stimme des Senats nicht ungehört verhalle auf dem brausenden Forum, dazu bedarf's der jungen, rüstigen Kraft, bedarf's solcher, die den Muth haben, zu handeln, ja – und auch gelegentlich einmal drein zu schlagen, wenn es mit Guten denn gar nicht gehen will. Oder glaubt ihr, der Freiheit goldenes Samenkorn werde sein, wie der Weizen, der auf das gute Land fiel und Früchte brachte hundertfältig und tausendfältig? Glaubt ihr, daß dumpfe Philisterseelen auf einmal begreifen werden, was die Freiheit ist? daß hochmüthige Aristokratenherzen so ohne Weiteres für Gleichheit schlagen können? daß Pfaffen und Pfaffenknechte, nachdem sie Jahrhunderte lang die Andersgläubigen verketzert und excommunicirt, so ohne Uebergang sich für Brüderlichkeit begeistern werden? Nein! und abermals nein! Ich sage euch: noch gilt Gewalt für Recht, und darum muß das Recht gewaltig sein, gewaltiger als die Gewalt. Das ist der tiefe Sinn des Waffenspiels, das euren Gegnern so kindisch scheint. Die Menschenrechte in der einen und das Schwert in der andern Hand – so und nicht anders wird die Freiheit ihren Weg durch die Nationen machen …«
»Und doch steht geschrieben: wer das Schwert erhebt, soll durch das Schwert umkommen,« sagte eine sanfte Stimme unmittelbar in Wolfgangs Nähe.
»Wer ist da?« rief der Jüngling, sich bestürzt von der Bank erhebend und um sich blickend.
»Ich bin's!« sagte die sanfte Stimme; und ein Mann, der unbemerkt von Wolfgang durch den Park dahergekommen war, trat hinter der Tuffsteinmauer hervor, zog die Mütze vom Kopf und verbeugte sich mehremals in einer seltsam linkischen Weise.
Voller Verwunderung betrachtete Wolfgang die wunderliche Gestalt. Sein erster Eindruck war, daß er es mit einem jener Unglücklichen zu thun habe, deren Geist in der Nacht des Wahnsinns trostlos umherirrt; aber ein zweiter Blick in das hagere, friedliche Gesicht, aus dem die tiefklaren Augen so kindlich fromm hervorschauten, belehrte ihn eines Andern, und den demüthigen Gruß des Mannes freundlich erwidernd, fragte er:
»Mit wem …«
»Ich heiße Schmalhans,« sagte der Mann schnell, »Balthasar Schmalhans. Ich habe den Herrn in einem Selbstgespräch gestört und bitte submissest um Entschuldigung; aber ich konnte nicht unterlassen, als ich den Herrn sagen hörte, was ich nach meiner unmaßgeblichen Meinung – bitte tausendmal um Entschuldigung!«
Und Balthasar, der unter dem prüfenden Blick des jungen Mannes mit jedem Worte verlegener geworden war, und den irdenen Henkeltopf, den er in der Hand trug, immer heftiger mit dem einen Flügel seines Fracks gescheuert hatte, verbeugte sich und wollte sich eiligst entfernen; aber Wolfgang hielt ihn zurück.
»Sie wollen vermuthlich nach dem Schlosse; können wir nicht zusammen gehen?«
»O, nein, nein! bitte dringend! ich hatte ganz vergessen, daß ich bestimmten Befehl habe, mich vor den Herrschaften nicht sehen zu lassen; mein Weg führt nicht nach dem Schlosse, im Gegentheil.«
Wolfgangs Neugier war durch das sonderbare Benehmen und die wirren Reden des Mannes auf's höchste erregt. Wer war dieser Caspar Hauser, der sich vor den Besuchern des Schlosses nicht sehen lassen durfte?
»Bestimmten Befehl? von wem?« fragte er, an Balthasars Seite hergehend.
»Von ihr;« erwiderte dieser, einen scheuen Blick nach der Richtung werfend, in welcher das Schloß lag.
»Von ihr? wer ist das? Der Drache von Haushälterin etwa?«
»Ja, von meiner Frau;« sagte Balthasar, seine Schritte beschleunigend.
»Das Ihre Frau?« rief Wolfgang, unwillkürlich in ein Gelächter ausbrechend; »ja freilich, nun begreife ich Ihre Abneigung vor dem Schlosse vollkommen.«
»Nicht wahr?« erwiderte Balthasar; »Sie begreifen das? Ich bin ein friedlicher Mann; ich habe keinen Wunsch, als mit Jedem in Ruhe und Freundschaft zu leben; weshalb soll ich mich ohne Noth ihrem Zorne aussetzen? lieber gehe ich einmal mehr in meinem Leben hungrig zu Bette.«
Ein Flattern und Zirpen in der Hecke, an der sie hinschritten, erregte Balthasars Aufmerksamkeit. Er bog die Zweige vorsichtig auseinander und schaute hinein.
»O, sehen Sie nur!« sagte er leise, sich mit freudestrahlendem Gesicht zu Wolfgang wendend; »sehen Sie nur!«
In einem Nestchen lagen drei oder vier mit weichem Flaum bedeckte Vögelchen, die mit gereckten Hälsen die gelben Schnäbel weit aufsperrten.
»Arme Thierchen! sind hungrig;« sagte Balthasar, die Zweige wieder zusammenlegend. Dann fing er an in seinen Taschen zu suchen, bis er zwischen Endchen Bindfaden, vertrockneten Pflanzen und anderem Kram glücklich eine Brodrinde entdeckt hatte, die er zerbröckelte und neben der Hecke auf die Erde streute. »Das soll ihnen gut bekommen. Jetzt schnell fort, damit wir die Alten nicht verschüchtern. Da sitzen sie und schauen uns mit den dummklugen hellen Aeugelchen halb neugierig und halb erschrocken an.«
Balthasar nahm den leeren Topf, den er während dessen auf den Boden gestellt hatte, wieder zur Hand.
»Sie scheinen ein warmer Freund der Natur;« sagte Wolfgang, während sie weiter schritten.
»Wer wäre das nicht, der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören; ja, und auch eine Nase zum Riechen hat!« erwiderte Balthasar, und wie er so sprach, stieg eine zarte Röthe auf seinen blassen Wangen auf. »Ich sitze oft hier unter den Bäumen zwischen den Büschen, und wenn ich so eine Zeit gesessen und die Herrlichkeit mit allen Sinnen eingesogen habe, – da weiß ich oft nicht mehr, ob ich das weiße Wölkchen bin, das über mir am blauen Himmel hinsegelt, oder das Vögelchen, das neben mir in dem Busche schlägt, oder das frische junge Laub, das rings um mich her so würzigen Wohlgeruch ausströmt.«
»Sie sind ein Dichter, Herr!« rief Wolfgang, der nicht wenig verwundert war, von diesem unscheinbaren, armseligen Wesen solche Gedanken und noch dazu in so gewählter Sprache zu vernehmen.
»Ach nein!« erwiderte Balthasar zaghaft; »sagen Sie das nicht! Ich habe es auch wohl manchmal gedacht; aber nur in eitlen, hochmüthigen Augenblicken, deren ich mich nachher immer recht herzlich schäme. Wie käme ich unwissender Mensch dazu, mich mit den Weisesten und besten Menschen zu vergleichen! Ich habe in meinem Leben so wenig Gelegenheit gehabt, etwas Ordentliches zu lernen, denn was man auf dem Seminar lernt, du lieber Himmel! das ist wenig genug und das Wenige ist auch meistens nur dummes Zeug.«
Balthasar hielt erschrocken inne und sah bittend zu seinem Begleiter empor.
»Es fuhr mir nur so heraus,« sagte er, »Sie nehmen's nicht für ungut, nicht wahr?«
»O, keineswegs!« erwiderte Wolfgang lächelnd; »im Gegentheil, ich glaube, daß Sie nur zu sehr Recht haben. Sie sind also der Aristoteles der Dorfjugend?«
»Aristoteles der Dorfjugend,« sagte Balthasar; »das ist hübsch gesagt! O, ich weiß ganz gut, wer Aristoteles gewesen ist! ein großer heidnischer Philosoph, der den König Alexander von Macedonien unterrichtete. Sein Name kommt oft in Lessing's Schriften vor. Lieben Sie Lessing auch?«
»Gewiß, er gehört zu den großen Geistern unserer Nation, die ich am meisten verehre.«
»Nicht wahr?« rief Balthasar in freudiger Erregung. »Das ist ein Mann! wie der schreibt! so klar, daß man gleich bis auf den Grund sehen kann und so tief, daß es manchmal gar nicht zu ermessen ist. Kennen Sie seinen Nathan? Darin kommt eine wunderschöne Stelle vor, die ich mir alle Mal hersage, wenn ich fühle, daß mein Herz verstockt ist, und nicht mehr warm für die Menschenbrüder schlagen will!
›Wohlan!
Es eifre jeder seiner unbestochnen
Von Vorurtheilen freien Liebe nach!‹
Ich habe schon zwanzig Jahre über diese Stelle gegrübelt und habe gefunden, daß sie Alles sagt, was der Mensch, insofern er ein Mensch unter Menschen ist, ja auch allen andern Wesen gegenüber, zu thun hat. Wenn die Menschen dies Wort begriffen und übten, dann brauchten wir keine Polizei und keine Landgensd'armen, keine Gefängnisse und keine Armenhäuser; ja, lieber junger Herr, dann gäb' es eine Freiheit, die nicht das Schwert in der einen Hand zu halten braucht, während sie mit der andern Hand den Menschen ihre Wohlthaten reicht.
»Aber Sie wissen, Herr Schmalhans, was Saladin, der praktische, kluge, von der Höhe seines Thrones die Welt mit einem Blick umfassende Saladin auf des Weisen Mahnungen antwortete: ›Die tausend, tausend Jahre deines Richters sind noch nicht um;‹ ich meine: sie sind es auch jetzt noch nicht.«
»Meinen Sie das wirklich?« fragte Balthasar, und seine milden Augen ruhten ängstlich fragend auf seines Begleiters Antlitz; »sollte auch jetzt noch keine Hoffnung sein? jetzt, wo sie in Frankreich die Republik der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausgerufen haben? wo auch bei uns der Frühling eingezogen ist nicht blos in Busch und Wald und Feld, sondern auch in die Herzen der Menschen? wo Freudenfeuer des Nachts von den Höhen brennen und kein Schiff den Rhein hinabfährt, das nicht mit bunten Wimpeln festlich beflagget wäre? und doch noch immer keine Hoffnung?«
»Ich fürchte, nein;« sagte Wolfgang; ich kann mir z. B. gleich nicht denken, daß der alte General dort im Schloß für Freiheit und Gleichheit sehr empfänglich sein sollte.«
»Ach nein,« sagte Balthasar mit einem kläglichen Gesicht, »das ist ein furchtbarer Herr.«
Die Beiden hatten das Ende des Buchenganges erreicht und standen vor der halb zerfallenen, mit Schlingpflanzen aller Art überwucherten Parkmauer, durch welche an dieser Stelle ein eisernes Pförtchen, das nur noch in einer Angel hing, in's Freie führte.
Balthasar zog seine Mütze ab und sagte im leisen, bittenden Tone: »Nicht wahr, Sie sagen ihr nicht, daß
Sie mich hier im Park getroffen haben? Sie wollte mir das Essen ins Dorf schicken, hat's aber wohl vergessen; nun, das thut ja nichts; die alte Ursel giebt mir schon ein Bischen. Sagen Sie ja nichts! und gehe es Ihnen wohl, lieber junger Herr! gehe es Ihnen wohl!«
Der wunderliche Mann quetschte sich eiligst durch die enge Pforte, schaute noch einmal hinein, rief: »Gehe es Ihnen wohl!« und war verschwunden.
»Nun, das ist eine seltsame Bekanntschaft,« sprach Wolfgang bei sich selbst, während er nach dem Schlosse zurückschritt, »wahrhaftig, der Wunsch, daß es einem in diesem verwünschten Schlosse wohl ergehen möge, scheint keine leere Phrase.«