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1.

» H abe ich Ihm nicht schon tausend Mal gesagt, daß Er mir nicht aus dem Schlafe wecken soll!«

»Ich dachte, Excellenz –«

»Habe ich Ihm nicht schon tausend Mal gesagt, daß Er das Denken mir überlassen soll? Was bringt der Tölpel denn da?«

»Einen Brief,« sagte der Mann trotzig, stellte den Präsentirteller mit dem Briefe auf den Tisch, einige Schritte von der Stelle, wo der General in seinem Lehnstuhl saß, und wandte sich zu gehen.

»Ist der Dummkopf verrückt geworden« schrie der Alte und eine rothe Zorneswolke stieg an seiner hohen kahlen Stirn auf; »kann er mich nicht den Brief hierher an meinen Stuhl bringen, wie's sich gehört?«

»Damit ich wieder den Stock von Excellenz an die Beine kriege; meine Knochen schmerzen mich noch;« murmelte der Bediente und beschleunigte, ohne sich umzusehen, seine Schritte, wie Jemand, der schnell von einem Orte weg will, an welchem es ihm nicht geheuer dünkt.

Auch hatte er noch nicht die Thür hinter sich zugezogen, als ein schwerer Gegenstand hinter ihm herpolterte. Der General hatte mit einer Kraft und Sicherheit, die man seiner Gebrechlichkeit nicht zugetraut hätte, die kleine Bank, auf der seine gichtischen Füße ruhten, dem ungehorsamen Diener an den Kopf werfen wollen und statt seiner nur den Thürpfosten getroffen. Der Fehlwurf reizte seinen ohnehin schon erregten Zorn noch mehr; und wer den alten Mann jetzt gesehen hätte, wie er eine Fluth von Schimpfwörtern und Verwünschungen mit gellender Stimme kreischte, während die kleinen schwarzen Augen unter den struppigen, auf- und niederzuckenden Brauen Blitze schossen, die blauen Adern an den hohen Schläfen wie Aeste anschwollen, und alle Glieder von dem Zornfieber geschüttelt wurden – der mußte glauben, einen Tobsüchtigen vor sich zu haben, der von seinen Wärtern alsobald in die Zwangsjacke geschnürt werden würde.

Da öffnete sich die Thür, welche aus dem Gartensaal, in welchem der General saß, in das Innere des Schlosses führte, und eine kleine Frau trat rasch herein, schloß die Thür hinter sich ab, glitt rasch über den parquettirten Boden nach dem einzigen der vier Fenster, dessen Vorhänge noch nicht heruntergelassen waren, ließ auch diese herab, so daß eine grüne Dämmerung in dem schönen hohen Gemache entstand, schritt dann auf den noch immer tobenden General zu, blieb, die Fäuste fest in die Seite gestemmt, vor ihm stehen und schrie, mit dem linken Fuße schnell und heftig auf den Boden stampfend:

»Daß Dich! Daß Dich! soll das heute den ganzen Tag so gehen! soll das kein Ende nehmen!«

Der Anblick dieser Frau schien die Wuth des Generals wo möglich noch zu vermehren. Es war, als ob der boshafte Blick ihrer grünen, stechenden Augen alle Höllengeister in ihm entfesselten. Er schlug die langen, mageren Finger um die Lehnen des Stuhles, rüttelte daran, wie ein Raubthier an den Eisenstäben seines Käfigs, und kreischte in den höchsten Tönen etwas, wovon man nur die Worte: Hexe, Satan, Drache! verstehen konnte.

Solche Scenen waren in den zwanzig Jahren, seitdem Dame Brigitte Schmalhans, die Frau des wunderlichen Schullehrers unten im Dorf, das Regiment im Schloß führte, schon sehr viele vorgekommen, niemals aber häufiger als in der letzten Zeit, wo das Alter und die Gicht dem General außergewöhnlich hart zugesetzt hatten. Wenn es schon immer schwer gewesen war, mit dem jähzornigen Invaliden auszukommen, so war es in dieser Zeit für Alle unmöglich geworden – für Alle, mit alleiniger Ausnahme der Dame Brigitte. Sie nur war im Stande, den Tobenden zur Vernunft zu bringen. Die Abergläubischen behaupteten, sie vollführe dies Wunder nur mit Hülfe des Teufels, dem sie ihre Seele schon lange verschrieben habe; – eine Annahme, für deren Richtigkeit das hexenartige Aussehen der Dame einigermaßen zu sprechen schien.

»Du wirst doch noch einmal wegen Todtschlags an den Galgen gehenkt werden,« sagte der General nach einer Pause, in welcher er allmälig wieder zur Vernunft gekommen war, während Brigitte, ruhig, als sei nichts vorgefallen, die Vorhänge an den Fenstern auseinander schlug, und die Thüren nach dem Garten öffnete, so daß das freundliche Licht und die milde Luft des warmen Frühlingsabends in das Gemach strömten; und sodann das gepolsterte Fußbänkchen von der Thür zum General trug, »Du wirst an den Galgen kommen, denke an mich!«

»Wenn das nur nicht andern Leuten vor mir passirt; oder glauben Sie etwa, daß jetzt das Gras lang genug über einem gewissen Grabe gewachsen ist?« erwiderte Brigitte gelassen, indem sie sorgsam und mit großer Geschicklichkeit die Beine des Alten in die wollene Decke wickelte und auf das Bänkchen stellte.

»Hm, hm, Gitta,« sagte der General und zupfte mit einem Grinsen, das sein häßliches Gesicht nicht eben verschönte, an der Haube der vor ihm Knieenden, »bist eine kluge Person und wirst Dein Maul halten. Ich vermache Dir auch etwas Schönes in meinem Testament.«

»Glaub's nicht, bis ich's schwarz auf weiß sehe;« erwiderte die Dame, aufstehend und ihre Haube zurechtrückend; »Excellenz haben Ihr Testament schon seit zehn Jahren alle Tage machen wollen. Weshalb thun Sie es nicht?«

»Weil ich immer noch nicht weiß, wie ich es so mache, daß ich meine lieben Verwandten – verstehst Du, Gitta, Alle, Alle ohne Ausnahme – recht gründlich ärgere.«

»Vermachen Sie mir Alles, dann ärgern Sie Alle – und das gründlich,« sagte Brigitte trocken.

Der Alte fand den Spaß so gut, daß er in ein kicherndes Gelächter ausbrach, welches in einem bösen Husten endete, der ihm den Athem versetzte.

Brigitte klopfte dem Keuchenden mit der knöchernen Hand auf den langen Rücken.

»Was ist da zu lachen?« brummte sie; »es ist mein voller Ernst,« und als der General über dies Wort noch stärker zu kichern und zu husten begann, kreischte sie, ihn beim Kragen seines sammetnen Schlafrocks packend und derb schüttelnd: »geht's wieder los? soll's denn heute kein Ende nehmen?«

Dem Alten schien es Zeit, einzulenken. Er hustete noch ein paar Mal und keuchte dann begütigend:

»Bist ein Blitzmädel, Gitta, ein Blitzmädel! sollst mit mich zufrieden sein; sollst mit Deine alte Excellenz zufrieden sein. Ich mache in diesen Tagen mein Testament, auf Cavalierparole.«

»Zeit wär's,« sagte Brigitte, »denn, Sie wissen, daß Sie morgen fünfundsiebzig werden.«

»Hast recht, Gitta, ganz recht; werde morgen fünfundsiebzig, in Ehren grau geworden? he? möge mir der Herr noch viele solche Tage schenken, wie morgen die lieben Verwandten sagen werden. Hast Du denn Alles zum Empfang der lieben Gäste vorbereitet, Brigitte?«

»Alles;« erwiderte Brigitte lakonisch, indem sie sich mit einer Strickerei, dem General gegenüber, an die andere Seite des Tisches setzte.

»Die Schlafzimmer ordentlich verschlossen gehalten, daß die Luft rein und frisch ist?«

Brigitte nickte.

»Auch die Bettwäsche hübsch feucht?«

»Das können Sie glauben.«

»Nichts Neues ersonnen? Hast doch sonst einen feinen Kopf, wenn es gilt, die lieben Verwandten zu ärgern.«

»Obrist's kommen über dem Hundezwinger zu schlafen.«

»Gut! sehr gut!« kicherte der General. »Werden hoffentlich recht fest schlafen; wird Selma's Nerven gut thun. Weiter!«

»Präsident's in dem grünen Zimmer.«

»Auch gut, auch gut! ausgesprochene Vorliebe für grüne Tapeten; Arsenikvergiftung, he? sehr gut!«

Es war ein wunderliches Schauspiel, welches der Anblick der Beiden während dieser Unterredung darbot. Mit dem ganz ernsten Ton, in welchem sie sprachen, stand ihr Benehmen in einem häßlichen Widerspruch. Sie blinzelten einander schadenfroh zu; der dicke, eisgraue Schnurrbart des Generals und seine buschigen, weißen Brauen zuckten auf und nieder, die langen, knöchernen Finger trommelten vergnüglich auf der wollenen Decke, dazu klapperten die Stricknadeln Brigittens mit unheimlicher Geschäftigkeit, als wenn sie mit jeder Masche ihren Feinden einen Tag von ihrem Leben wegstricken könnte.

»Wie ist's denn? werden Arthur's kommen?« fing sie nach einer Pause wieder an.

»Hätt's, hol' mich der Teufel, beinahe vergessen:« rief der General, »der Kilian brachte ja vorhin einen Brief; wo hat er ihn denn hingelegt, der Strick? Fängt auch an, aufsässig zu werden, der Kerl; denken jetzt Alle, seitdem in der Residenz die Canaille oben auf ist, könnten mich auf der Nase herumtanzen, aber will's ihm eintränken, will's ihm eintränken.«

»Hier ist er,« sagte Brigitte, die unterdessen den Brief gefunden hatte, »soll ich ihn vorlesen?«

»Thu's, Gitta, thu's; aber hol' mir erst eine Pfeife, den alten Meerschaum, weißt Du, mit dem Weichselrohr.«

Brigitte ging, das Verlangte herbeizuschaffen. Der Alte sah ihr nach und sobald sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, machte er eine höhnische Grimasse, drohte mit der geballten Faust und murmelte: »Ich halte Euch Alle zu Narren, Alle.«

Dann ergriff er den Brief, hielt ihn – die Brille hatte er in seinem Zimmer liegen lassen – so weit als möglich von den Augen ab und entzifferte mühsam die Adresse: »Sr. Excellenz, dem General-Lieutenant a. D. von Hohenstein, Ritter p. p., auf Rheinfelden,« drehte ihn in den Händen hemm und murmelte wieder:

»Bin doch neugierig, was der Mensch schreibt; ist im Stande, abzusagen; sollte mich infam ärgern; Tausendspaß, wenn die Andern den lieben Bruder hier fänden, den sie schon so gut als von der Erbschaft ausgeschlossen sehen; sollte mich infam ärgern. – Wo bleibt denn – ach! da bist Du ja, Gittchen, na, gieb her! so ist's recht, so, nun lies, was der Taugenichts schreibt.«

Der General rückte sich in seinem Stuhl zurecht und paffte dicke Dampfwolken, während Brigitte den Brief erbrochen hatte und nun mit schnarrender Stimme und nicht eben geläufig also las:

»Theuerster, hochverehrter Herr Onkel!«

»Natürlich!« höhnte der General.

»Es wäre vergeblich, Ihnen meine und meiner armen Frau Freude über die – ich kann wohl sagen – unerwartete Einladung, mit der Sie uns in so äußerst gütigen Ausdrücken beehrt haben, schildern zu wollen. Thut doch dem, welcher sonst im Leben wenig Grund zur Zufriedenheit hat, jeder Beweis von Theilnahme, noch dazu von Seiten eines so hochverehrten Verwandten –«

»Sehr obligirt;« sagte der General, eine dicke Wolke Tabak nach der Decke zu blasend.

»Doppelt wohl. Besonders aber muß ich es Ihnen Dank wissen, daß Sie mich zu morgen zu sich befohlen haben.«

»Mir befohlen haben, wird dastehen,« meinte der General.

»Wenn Sie mich immer unterbrechen wollen, lesen Sie's selbst,« sagte Brigitte giftig; »glauben Sie denn, daß mir der Unsinn Spaß macht?«

»Mich desto mehr,« sagte der Alte; »lies nur zu!«

»Befohlen haben, zu dem Tage, welcher schon seit Jahren die übrigen Glieder der Familie unter Ihrem gastlichen Dache.«

»Hi, hi, hi,« grinzte der General.

»Vereinigt, und an welchem auch ich so oft auf dem lieben Rheinfelden gewesen bin, ehe die Ereignisse eintraten, die mich zu meinem größten Leidwesen bis heute von meinen Verwandten getrennt haben.«

»Merkst Du was?« brummte der General, »Heuchlerpack, verdammtes!«

»Doch das hat ja nun die längste Zeit gewährt. Wenn das ehrwürdige Haupt der Familie sich für mich erklärt, dürfen und werden die Glieder nicht Nein sagen. – Noch einmal, theuerster Onkel, meinen, will sagen, unsern tiefgefühlten Dank. Möge der morgende Tag Sie gesund und heiter treffen, möge –«

»Und so weiter, und so weiter!« sagte der Alte »'s ist gut, Gitta, kannst den übrigen Unsinn vor Dir behalten.«

»Hier steht noch etwas,« sagte Brigitte.

»Wir werden, wenn es Ihnen recht ist, erst morgen Nachmittag eintreffen, da meine arme Frau die scharfe Morgenluft nicht wohl vertragen kann und wir überdies unsern Wolfgang, dem ich heute sofort das fröhliche Ereigniß gemeldet habe, erst morgen früh von der Universität erwarten, um ihn dem gütigen Großonkel zuzuführen, dem er dann zum ersten, hoffentlich nicht zum letzten Male seine Ehrfurcht bezeugen wird.«

»Ja so,« rief der General, »habe gar nicht an den Bengel gedacht; aber ist ganz gut, paßt mich ganz in meinen Kram.«

Und der Alte stierte vor sich hin und lachte dann wieder, daß der dicke Schnurrbart wackelte. Die Haushälterin saß und strickte. Ihre dünnen Lippen wuchsen immer fester zusammen und ihre Stricknadeln klapperten immer unheimlicher. Plötzlich sagte sie:

»Das mit Stadtrath's ist dummes Zeug.«

»Warum Gittchen, warum? Aergern wird's die Andern doch. Das ist mich die Hauptsache.«

»Was wollen Sie mit ihnen? Ich dächte, Sie hätten schon genug Hungerleider um sich herum. Und diese werden Sie nicht so leicht los, wie die Andern; Schulden haben sie Alle, aber von den Andern wissen's nur die Gläubiger, von Arthur's weiß es alle Welt. Wenn Sie die kommen lassen, müssen Sie etwas für sie thun; und ich sage Ihnen: ich will sie nicht hier haben, sie haben noch keinen Fuß über die Schwelle gesetzt, so lange ich im Schloß bin, und sie sollen's nicht, oder ich will ihnen das Leben so sauer machen, daß sie das Wiederkommen vergessen.«

»Das wirst Du bleiben lassen,« sagte der General in einem kurzen, scharfen Ton.

Brigitte sah von ihrer Strickerei auf und die Blicke der Beiden begegneten sich. Es wäre schwer zu sagen gewesen, wessen Augen die meiste Bosheit sprühten, die schwarzen, stechenden, unter den struppigen, jetzt zu einem dicken Wulst zusammengezogenen Brauen, oder die grünen, zwinkernden Augen der Dienerin. So stierten sie sich eine Zeit lang an, wie ein paar Bestien im Käfig – ein stummer Kampf der Tücke gegen die Tücke.

Brigitte schlug zuerst die Augen nieder. »Machen Sie, was Sie wollen,« sagte sie.

»Das werde ich,« sagte der Alte, »und Du wirst die Güte haben, meinen Neffen Arthur, seine Frau und den Jungen anständig zu logiren, das heißt, in den rothen Zimmern nach dem Garten, und es ihnen an nichts fehlen lassen. – Und nun ist's gut, albernes Frauenzimmer! Schneid' keine Fratzen mehr! Komm her und gieb Deine alte Excellenz einen Kuß. Na, wird's!«

In diesem Augenblicke kam durch die offene Thür, die aus dem Saale in den Garten führte, eine wunderliche Gestalt.

Es war ein Mann, der wohl fünfzig Jahre alt sein mochte, den aber die kindische Harmlosigkeit seines glattrasirten, unbedeutenden Gesichtes viel jünger erscheinen ließ. Auf dem kleinen, fast kahl geschorenen Kopf trug er eine bis auf die großen, weitabstehenden Ohren heruntergezogene alte Tuchmütze, deren ungeheuerer Lederschirm ganz von einander gespalten war. Seinen hagern Oberkörper bedeckte ein fettglänzender, einstmals schwarz gewesener Frack mit langen spitzen Schößen, von denen der eine in der Tasche des vielfach geflickten Beinkleides von verschossenem Nankin steckte – vermuthlich, weil der Besitzer in seiner Zerstreutheit den Rockflügel für sein Taschentuch gehalten hatte. An den Füßen saßen plumpe Stiefel, die offenbar, wenn die Füße mit den kleinen feinen Händen harmonirten, viel zu groß waren, und den langsam schlürfenden Gang des Mannes hinreichend erklärten. In den Händen trug er einen großen Topf, den er an beiden Henkeln gefaßt hielt. Als Deckel auf dem Topf lag ein aufgeschlagenes Buch, in welchem der Mann mit einem so verzehrenden Eifer las, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie er, vom Dorfe heraufkommend, anstatt links in den Schloßhof, rechts in den Schloßgarten gebogen, und anstatt in die Thür der Küche, wo er sich seine Mahlzeit holen wollte, in die Thür des Gartensaales gerathen war, wohin er, wenn er seine armen fünf Sinne zufällig beisammen gehabt hätte, um keinen Preis der Welt gegangen sein würde.

So hatte er schon einige Schritte in den Saal hineingethan, bevor das Paar seiner gewahr wurde. Erschrocken entwand sich die Schöne den Armen ihres Galans, und nun schlug auch der Schulmeister seine großen, tiefblauen Augen auf, aus denen noch der milde, Sonnenschein der Jean Paul'schen Idylle, in welcher er so eifrig gelesen hatte, zu blicken schien. Was sein leibliches Auge nun sah, hatte mit der Welt, in der sein Geist jetzt eben weilte, so gar nichts zu thun, daß er ein paar Momente lang offenbar nicht wußte, ob die Scene vor ihm nicht vielmehr ein häßliches Spiel seiner Phantasie als Wirklichkeit sei. Erst das »Hallo, alter Schwede, bist Du denn jetzt vollends verrückt geworden?« womit ihn der General in grobem Tone anschrie, brachte ihn zur Besinnung. Er schrak heftig zusammen; noch heftiger, als der Topf, an den er gar nicht mehr dachte, während er nach der Mütze griff, zwischen seinen Füßen auf dem parquettirten Fußboden in Stücke fiel. Eilig bückte sich der Kurzsichtige, das neue Unglück in Augenschein zu nehmen und seine Verlegenheit hinter dem Aufsammeln des geliebten Buches und der Topfscherben zu verbergen.

»Ho, ho,« lachte der General, »Hänschen ist verrückt geworden; kann 'nen Kirchthurm nicht mehr von einem Zahnstocher unterscheiden! Helfen Sie doch Ihrem lieben Mann, Frau Brigitte! seien Sie eine gute Gattin, Frau Brigitte! Ho, ho!«

Die Schadenfreude wirkte so belebend auf den Alten, daß er sich ohne Hülfe aus dem Lehnstuhl erhob, – eine noch immer, trotz des Alters und der Gebrechlichkeit, riesenhafte Gestalt. Er schlug den sammetnen Schlafrock dicht um die hagern Glieder, ergriff den Krückstock, der am Stuhle lehnte, weidete sich noch einen Moment an der Verlegenheit des Schulmeisters und dem Aerger Brigittens, und schlürfte dann in seinen ungeheuren Filzschuhen durch den Saal aus der Thür, die in die inneren Gemächer führte.

Seine Entfernung war für den Schulmeister ein Grund mehr, seinen Rückzug zu beschleunigen, denn unter allen schrecklichen Situationen war ihm ein Tête-à-Tête mit dem Weibe, das jetzt, die Hände in die Seite gestemmt und ihn mit giftigen Blicken anstierend, vor ihm stand, die schrecklichste. Gegen sein Erwarten wurde er aber diesmal nicht, wie sonst wohl bei ähnlichen Gelegenheiten, mit einer Fluth von Schimpfwörtern überschüttet. Die Verachtung, welche die Dame gegen den unglücklichen Mann empfand, der ihr einst seinen ehrlichen Namen gegeben hatte, war diesmal größer als ihr Zorn.

»Es ist gut, daß ich Dich heute noch treffe,« sagte sie; »es kommen morgen Gäste, und ich will nicht, daß Du Dein albernes Gesicht dazwischen steckst, und mich wieder in Ungelegenheit bringst, wie das letzte Mal. Du bleibst im Dorf, ich will Dir Dein Essen hinschicken und nun mach, daß Du weg kommst. Was glotzt Du mich mit Deinen dummen Augen an, Strohkopf?«

Balthasar wollte fragen: ob er denn heute kein Essen bekommen solle? Er hatte sich heute Mittag nicht von seinem Buch trennen können, oder er hatte vielmehr gar nicht an Speise und Trank gedacht, nun war er in dem dunklen Bewußtsein, daß er sehr hungrig sei, gegen Abend aus seiner Klause aufgebrochen und der eben ausgestandene Schreck hatte ihn erst recht hungrig gemacht; aber er wagte nicht, seine Bitte auszusprechen, sondern legte die letzten Scherben zu den andern, in das Topffragment, das er in der linken Hand hielt, drückte sein Buch unter den Arm, und schlürfte, unverständliche Worte murmelnd, zu derselben Thür hinaus, durch die er so ganz gegen seinen Willen in den Saal getreten war.

Brigitte sah durch das offene Fenster die Gestalt sich durch den Garten entfernen. Sie wußte auch, daß der Arme sich heute hungrig zu Bett legen würde, aber es fiel ihr nicht ein, ihn zurückzurufen und ihm zu sagen, daß er sich in der Küche etwas geben lassen solle.

»Ich wollte, er wäre nur erst verreckt,« murmelte sie, »und der Alte dazu. Ich könnte ihnen Rattengift geben, wenn etwas dabei herauskäme. Und der Alte wird immer schlimmer und immer geiziger. Er wäre im Stande, Alles den Verwandten zu schenken, aber er soll's nur wagen! Das Gras auf Anselm's Grab ist noch nicht so lang, als er denkt. Und was er nur damit will, daß er die Hungerleider zu sich bittet, von denen er zwanzig Jahre lang nichts hat wissen wollen? Da liegt der Brief ja noch.«

Dame Brigitte setzte sich auf den Fußschemel des Generals und studirte mit unheimlichem Eifer den Brief und die Möglichkeiten, die ein Zusammentreffen des Alten mit der Familie seines dritten Neffen im Gefolge, und welchen Einfluß diese Möglichkeiten auf sie selbst haben könnten. Dabei war ihr zu Muth, wie etwa einer alten Kreuzspinne zu Muth sein mag, wenn sie mit grimmiger Heftigkeit und dennoch umsichtig und gewissenhaft ein Loch in ihrem Netze wieder zuwebt, das ein schadenfroher Bube, der unversehens des Weges kam, blos um die alte Spinne zu ärgern, hineingerissen hat.



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