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Neunzehntes Kapitel.

Zur selben Stunde, als Escheburg in der Kolonnade der Trinkhalle seine nachdenkliche Morgenpromenade machte, verließ Kora das Hotel, um trotz des Regens, ihrer Gewohnheit folgend, in den Friesenwald zu gehen. Aber gerade als sie am Konversationshaus war, brach das Unwetter so heftig herein – sie mußte einen Schutz suchen und flüchtete erst unter den Säulengang, dann, als der Regen sie auch dahin verfolgte, in den großen Saal, um dort von einem der Fenster auf den verödeten Kurgarten zu blicken, in welchem Sturm und Regen die Bäume zerzausten und die Blätter über die Grasplätze wirbelten. Das Unwetter raste weiter, die Zeit wurde ihr lang. Sie hatte das Lesezimmer noch nie allein betreten; heute durfte sie schon eine Ausnahme machen. Geräuschlos öffnete sie die verhangene Glasthür. Der lange ovale Zeitungstisch war mit eifrigen Lesern dicht besetzt; aber auf dem Divan an der Wand drüben waren noch ein paar Plätze leer. Dort ließ sie sich nieder, nachdem sie von dem Tische im Vorüberstreifen eine Zeitung – die erste beste – genommen, und schien alsbald für ihre Nachbarn, die flüchtig aufgeblickt hatten und höflich beiseite gerückt waren, in ihre Lektüre versunken.

Aber wie eifrig sie auch sonst die öffentlichen Angelegenheiten verfolgte, heute konnte sie dem langen Artikel über die bevorstehenden Reichstagswahlen kein besonderes Interesse abgewinnen. Sie versuchte es mit einem anderen über die Congofrage Die Kongokonferenz (oder Westafrika-Konferenz) fand vom 15.11.1884 bis zum 26.2.1885 auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Bismarck (der wiederum, wie schon bei der »Berliner Konferenz« 1878, als »ehrlicher Makler« auftrat) in Berlin statt und sollte inmitten der (von Deutschland damals offiziell noch nicht geteilten) imperialistischen Bestrebungen der europäischen Mächte die Handelsfreiheit am Kongo und am Niger regeln. Ihr Schlussdokument, die ›Kongoakte‹, bildete die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien im folgenden Wettlauf um Afrika. ohne ein besseres Resultat. Mechanisch las sie weiter. Dann hatte sie nur noch Miene und Haltung einer Lesenden, während ihre Gedanken abschweiften zu Verhältnissen und Personen, die sie näher angingen und ihr näher lagen als Reichstag und Congo.

Es war doch ganz unzweifelhaft, daß Herrn von Steinbachs Beflissenheiten nur ihr galten. Ob wohl andere Mädchen in ihrem Alter und in ihren Verhältnissen die Annäherung eines solchen Mannes so gleichgültig lassen würde? Nein, gleichgültig war nicht das rechte Wort. Das lebhaftere Klopfen ihres Herzens, eben jetzt, als sie an gestern abend dachte, bewies es. Oder war es auch nur die Vorahnung des Momentes, wenn er ihr nun wirklich seinen Antrag machen und sie gezwungen sein würde, in wohlgesetzten, möglichst verbindlichen Worten Nein zu sagen? denn daß sie Ja sagen könnte, daran war doch in Ewigkeit nicht zu denken. Seltsam! Es war ein so stattlicher Mann, ein so vielfach ausgezeichneter und auch gewiß ein guter Mann, mit dem es sich in Frieden und Freundschaft leben ließ; und es war ja ein Lieblingswort Escheburgs, daß Freundschaft der Liebe bester Teil sei; – woher denn bei dem Gedanken, sein Weib sein zu sollen, die fast schauderhafte Empfindung? Nun ja, sie liebte ihn nicht – das war sicher. Aber sie liebte auch Escheburg nicht und konnte sich doch sehr wohl als seine Frau denken, hatte sich manchmal schon als seine Frau gedacht, wenn er ihr die vielfachen Mißlichkeiten seines Junggesellenlebens klagte; und wie sie das alles von ihm fernhalten würde, damit er sich ungestört seinen Studien widmen dürfte. War dieser Unterschied der Empfindung zu Escheburgs gunsten vor dem fremden Mann nur eine Folge des langjährigen vertrauten Verkehrs? des Bewußtseins davon, daß einer des andern tiefstes Herzensgeheimnis kannte, und sie so, in der Sicherheit ihrer Freundschaft, geschwisterlich nebeneinander hingehen und doch für einander leben mochten? Freilich, das letzte tragikomische Abenteuer mit Poly hatte sie auch ihm nicht anvertraut – es war ja nicht möglich, ohne die Aermste preiszugeben. Aber auch er hatte ihr zweifellos verschiedene Umstände verschwiegen, die in dem Streit, der sich zwischen Adalbert und Gönnich nach Polys Aussage angesponnen, eine entscheidende Rolle gespielt hatten. Nun, er hatte wohl seine guten Gründe zum Schweigen, wie sie die ihren. Wäre doch nur bei alledem für ihre gemeinschaftliche Sache etwas herausgekommen! Aber das alte Lied, das alte Leid. Freilich, wenn Escheburg Hilden nicht kräftiger ins Gewissen geredet hatte, als sie Adalbert! Nur daß in diesem Falle der kluge Mann doch auch wohl ausnahmsweise das Richtige nicht getroffen hatte. Wie schwer es ihm auch werden mochte, dem geliebten Kinde als Mahner gegenüber zu treten – er war ein Mann und hatte die Autorität der reiferen Jahre für sich. Sie, als so viel jüngeres Mädchen, war gegen den Mann immer im Nachteil. Und Adalberts Stimmung war jetzt nicht mehr die weiche, versöhnliche, sehnsuchtsvolle jenes ersten Abends – er war gereizt und verbittert – sie hatte in diesen Tagen traurige Proben genug davon gehabt.

Ein Seufzer, der sich ihrer gepreßten Brust entrang, ließ ihren höflichen Nachbar zur Linken mit dem ausgebreiteten Zeitungsblatt weiter weg rücken, indem er etwas über die Dunkelheit murmelte, die einem in der That kaum zu lesen erlaube. Erschrocken nahm Kora ihre Zeitung, die sie auf die Kniee hatte sinken lassen, wieder vor die Augen.

Ja, es war dunkel draußen, und es war dunkel in ihrer Seele. Wie so gar nicht war Escheburgs Wunsch, daß der Aufenthalt hier an der Heilquelle allen zum Heil gereichen möge, in Erfüllung gegangen! hatte sich gerade in das Gegenteil verkehrt! Der wachsende Unfrieden der geliebten Beiden; die Schreckensnacht, als das Leben des Kindes in Gefahr schwebte, und der kein Versöhnungsmorgen gefolgt war, wie sie ihn erfleht und erhofft hatte; Escheburgs Verstimmung; ihre eigene Bangigkeit – gab es denn keinen Lichtstrahl in dieser Dunkelheit? Oder sollte sie sich vollends in Nacht verkehren, wie der trübe Tag draußen?

Ein neuer Guß prasselte gegen die Scheiben. Es war so finster in dem langen schmalen Saale geworden – die Leser hatten die Blätter niedergelegt und blickten kopfschüttelnd nach den Fenstern. Kora erschrak. Ebenfalls aufblickend, sah sie Adalbert ihr schräg gegenüber an dem Tische. Er konnte erst vor wenigen Minuten gekommen sein, unbemerkt von ihr, wie auch er sie nicht bemerkt hatte. Denn jetzt, als ihre Blicke sich trafen, nickte er ihr überrascht zu und war schon im nächsten Moment an ihrer Seite auf dem Platz, den der höfliche Nachbar eben geräumt hatte.

Er hatte ihr die Hand gereicht, indem ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht glitt, ohne aber die düsteren Augen zu erhellen.

Auch eingeregnet? flüsterte er.

Kora nickte.

Bin schon oben im Walde gewesen, flüsterte er weiter; dachte, könntest auch den Einfall gehabt haben. War sehr schön, aber verzweifelt naß.

Kora legte den Finger auf den Mund mit einem Blick auf die nächsten Nachbarn, die bereits wieder zu lesen versuchten und über dem Geflüster unruhig zu werden begannen.

Komm, sagte er; wir wollen in den Saal gehen.

Es war so ärgerlich kurz, in einem weniger bittenden, als befehlenden Tone gesprochen worden, den die Situation entschuldigen mochte; aber Kora zuckte unwillkürlich zusammen: sie war an diesen Ton aus diesem Munde so gar nicht gewöhnt. Beklommenen Herzens erhob sie sich und verließ mit ihm das Lesezimmer.

Sie hatten den weiten Saal für sich allein: an diesem düstern Morgen ein trübseliger Aufenthaltsort mit den halb heruntergelassenen Rouleaux, den mit grauen Ueberzügen verhüllten langen Divans an den Wänden und dem Orchesterpodium, auf welchem die Pulte der Musici noch in wirrem Durcheinander standen, während die im Hintergrunde bereits thronende Pauke und verschiedene an die Stühle gelehnte oder auf den Sitzen liegende Violoncell- und Violinkasten auf eine bevorstehende Probe zu deuten schienen.

Kora hatte Zeit, diese Einzelheiten zu beachten. Schon ein paarmal hatten sie die Länge des Saales durchmessen, auf dessen glattem Parkett ihr Schritt unheimlich laut erschallte, ohne daß zwischen ihnen ein Wort gewechselt war. Eben waren sie wieder zu den Divans an der Schmalseite gelangt. Adalbert ließ sich nieder, sie mit einer Handbewegung auffordernd, sich zu ihm zu setzen. Sie that es, mit einer seltsamen Empfindung bemerkend, daß es genau derselbe Platz war, auf welchem sie an dem ersten Abend gesessen hatten, als ihr Adalbert jene schreckliche Enthüllung machte, deren Wucht nun alle diese Tage auf ihrer Seele gelastet hatte, niemals schwerer als in diesem Augenblick.

Aber gerade das deutliche Gefühl der Unerträglichkeit der Last gab ihr wie durch höhere Einwirkung den Mut zurück, an welchem es ihr noch eben so ganz gebrochen hatte. Sie blickte noch einmal flüchtig zu dem düsteren Gesicht neben sich auf, wie, um sich zu überzeugen, daß dort keine Veränderung zum Besseren stattgefunden, und sagte trotz ihres Herzklopfens mit fester Stimme:

Es ist mir eigentlich recht lieb, unser Zusammentreffen hier. Ich sehe Dich jetzt so selten und nie allein, und es war mir so darum zu thun, eine ungestörte Stunde mit Dir zu haben. Du wirst freilich nicht gern hören, was ich Dir sagen will. Aber das kann ich nun eben nicht ändern, und aus welcher Gesinnung heraus ich spreche, und welche Ueberwindung es mich kostet, das weißt Du.

Er hob den Kopf und blickte ihr starr in die Augen:

Wozu die Einleitung, sagte er; Du hast Dich mit Herrn von Steinbach verlobt, oder willst es thun.

Und als sie, die darauf nicht gefaßt war, betroffen schwieg:

Freilich hast Du sehr recht gehabt, wenn Du annahmst, daß dies für mich alles eher sein würde als eine erfreuliche Nachricht. Ich hasse den Mann, und weiß zum voraus, daß ich Dich hassen werde, wenn Du erst seine Frau bist. Es fehlt nicht viel, so hasse ich Dich schon jetzt.

Sie schüttelte wehmütig lächelnd den Kopf.

Schade, sagte sie; aber Du wirst diese für mich so schmeichelhaften Empfindungen aufgeben müssen: ich habe mich mit Herrn von Steinbach nicht verlobt und werde es nie.

Mit einem dumpfen Freudenruf ergriff er ihre Hand, die er mit Küssen bedeckte.

Um Gotteswillen! murmelte Kora.

Es war jemand, den Regenschirm schüttelnd, von draußen in den Saal getreten; aber nicht darum hatte sie ihm, während ihre Wangen flammten, die Hand so heftig entzogen, erschrocken über seine Heftigkeit, zornig auf sich selbst. Warum hatte sie ihm dazu Gelegenheit gegeben! Was sie ihm zu sagen hatte, es konnte längst gesagt sein, und sie fühlte, daß es jetzt noch weniger gut herauskommen würde. Gleichviel!

Ich wollte nicht mit Dir über mich sprechen, sagte sie, sich zu einiger Ruhe zwingend; sondern über Dich. Wenn Du mich wirklich lieb hast, kannst Du es jetzt beweisen, indem Du mich geduldig anhörst, und meinem Rate folgst. Sieh, Adalbert, so geht es nicht länger mit Dir und Hilde. Wer von Euch an dem Unglück Schuld hat, Du oder sie, oder ihr beide – ich weiß es nicht; es kommt auch jetzt kaum noch etwas darauf an. Selbst durch ein Schuldbekenntnis des einen oder andern würde nichts besser werden, oder dadurch, daß Ihr beide Euer Unrecht zugebt: Ihr würdet das Verhältnis doch für den Augenblick beim besten Willen nicht anders machen können. Dazu sind Eure Gemüter zu tief erbittert. Keiner würde dem andern wirklich trauen, daß er es ernstlich meint; bei der nächsten Gelegenheit wäre der alte Hader wieder da. Deshalb ist mein Rat – ich habe es mir in diesen Tagen nach allen Seiten überlegt –: trennt Euch für einige Zeit – auf einige Wochen; es werden vielleicht auch Monate daraus. Ich hoffe, dann wird Ruhe über Euch kommen, oder doch Beruhigung Eurer unglücklichen Herzen. Und damit auch die Fähigkeit, die Ihr jetzt verloren habt: klar zu denken und abzuwägen; einander zu sehen, wie Ihr in Wirklichkeit seid, nicht die Zerrbilder, die Euch jetzt die Verbitterung zeigt. Und dann – ich bin davon überzeugt, wie von meinem Dasein – wird auch die alte Liebe wiederkehren. Nicht die alte; eine bessere, tiefere, innigere, durch all dies vorhergegangene Leid geläuterte. Sieh, Adalbert, es ist dazu gerade jetzt der günstigste Augenblick. Hilde bleibt mit uns hier, oder geht mit uns nach Berlin, wenn es hier, wie es scheint, zu unfreundlich wird. Du bist noch nie in Italien gewesen; reise dahin! Du hast so viel Freude an der Natur – es soll ja so wunderbar schön da unten sein. Und Freude an der Kunst hast Du auch, trotzdem Du immer thust, als verstündest Du von diesen Dingen nichts. Das wird Dich zerstreuen. Einen oder den anderen Menschen, mit dem man sprechen, verkehren kann, findet man immer auf Reisen. Du wirst zwar viele einsame Stunden haben; aber das schadet nichts. Im Gegenteil: gerade auf diese Stunden rechne ich. Sag: ja, lieber Adalbert! denke einmal, Du wärst krank und dürftest keinen andern Willen haben, als den Deines Arztes, und ich wäre Dein Arzt. Sag: ja! hier auf der Stelle! Gib mir die Hand darauf, daß Du fortwillst!

Du bist noch nicht zu Ende; erwiderte Adalbert, die Hand, die sie ihm geboten, nehmend und auf ihren Schoß zurück legend. Er hatte so undeutlich gemurmelt, Kora hatte ihn kaum verstanden.

Ich habe noch ein Zweites, sagte sie; aber damit hat es Zeit, und würde auch allein nichts helfen, wenn Du mir meine erste Bitte abschlägst.

Auf jeden Fall: was ist es?

Daß Ihr nachher nicht wieder nach Ossecken geht, sondern in Berlin bleibt, und Du wieder eintrittst. Ich glaube: daß es da, auf dem Lande, nichts für Dich zu thun gab, ich meine: nichts Rechtes, nichts, das Dir Freude machte, ist ein Hauptgrund weshalb Ihr auch keine Freude am Leben hattet. Du hast mir selbst gesagt: zum Landmann bist Du zu alt. Und dann: Deine Güter sind noch auf lange Jahre hinaus verpachtet. Dagegen bist Du mit Leib und Seele Soldat. Es ist mir hundertmal seitdem von andern gesagt, wie schade es sei, daß ein so ausgezeichneter Offizier sich habe verabschieden lassen. Ich weiß, es kostet nicht die geringste Mühe, Deinen Wiedereintritt zu bewerkstelligen; man wartet nur darauf, daß Du Dich wieder meldest. Noch acht Tage, bevor wir abreisten, hat es mir der Kriegsminister selbst gesagt. Und wenn Du nur im Soldatenleben Deine Befriedigung finden kannst – für Hildes immer übergeschäftigen Geist ist die Einsamkeit des Landlebens wahres Gift. Ich glaube, eine Frau, die weiß, daß sie schön und bezaubernd ist – das ist gerade, wie ein Mann, der ein ausgesprochenes Talent hat: er muß es betätigen können oder er fühlt sich unglücklich, um so mehr, je größer sein Talent ist. Nun, Adalbert, Hilde ist doch gewiß sehr schön, bezaubernd schön und dazu so anmutig und geistreich. Und vor allem: sie ist noch so jung! Laß sie ihr junges Leben noch ein paar Jahre länger genießen! Gönne ihr das kindische Vergnügen, noch ein paar Dutzend Köpfe zu verdrehen! Sie wird es Dir Dank wissen, und Du selbst wirst Deine Freude daran haben. Du mußt mir recht geben, nicht wahr?

Es hatte sie anfangs geängstigt, daß, während sie sprach, sein Gesicht sich nicht erhellen wollte. Dann hatte sie im Eifer ihrer Rede seine Miene kaum noch beachtet: er konnte sich ja der Kraft ihrer Gründe nicht verschließen, gutmütig und lenksam und ihr doch aufrichtig ergeben, wie er war. Aber auch jetzt nahm er ihre von neuem dargebotene Hand nicht, ja berührte dieselbe nicht einmal, sondern sagte in einem wenig Gutes verkündenden Ton:

Kommt dieser Plan aus Dir selbst?

Aber woher sonst?

Du sprachst vorhin von einem Arzt, ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Mir war immer, während Du jetzt redetest, als hörte ich die Stimme eines Arztes.

Nun ja: meine, die ich so gern Dein Arzt wäre.

Nein, nicht Deine; eine andre Stimme.

Kora blickte ihm ängstlich schnell in das verstörte Gesicht. Er fing den Blick auf und lächelte bitter.

O, sagte er, noch bin ich nicht verrückt; ich kann die Dinge noch ganz gut zusammenreimen. Du hättest wirklich mit Escheburg über diesen schönen Plan nicht gesprochen?

Und wenn ich es gethan hätte? erwiderte Kora. Du weißt, wie sehr Escheburg Dich und Hilde liebt – was lachst Du?

Er hatte plötzlich laut aufgelacht, daß es in dem öden Saale widerhallte. Das erschrockene Mädchen hatte sich halb erhoben; er legte ihr die Hand auf den Arm und sagte:

Verzeihung! aber es kam auch gar zu naiv heraus. Ob ich weiß, daß er Hilde liebt! Natürlich weiß ich es. Ich bin wirklich noch ganz zurechnungsfähig; ich werde sogar von Tag zu Tag gescheiter. Es hat nämlich alles in der Welt seinen Grund. Und der Grund, weshalb Hilde mich nicht liebt, ist eben, weil sie Escheburg liebt. Ich dächte, das wäre ganz einfach. Du brauchst mich deshalb auch gar nicht mit so erschrockenen Augen anzusehen: einmal mußte ich doch dahinterkommen.

Das ist abscheulich von Dir, murmelte Kora, während ihr die Thränen aus den starren Augen liefen.

Gar nicht, sagte er; oder es war nur abscheulich dumm von mir, daß ich so spät dahintergekommen bin. Noch damals, als wir am ersten Abend hier saßen, und er mit ihr im Garten spazierte – ich könnte mich ohrfeigen über meine Dummheit! Und daß ich hernach den guten Jungen, den Wolfsberg, in Verdacht hatte! Es fehlte nicht viel, so hätte ich den armen Kerl gefordert. Hilde ihn lieben! wie dumm! Das bischen Kourmacherei und ein paar Dutzend schöne Redensarten – die thun's nicht; die paar Jahre weniger auch nicht: Escheburg ist sogar noch einige Monate älter als ich. Aber freilich, die geistreiche Hilde und der geistreiche Herr Professor – das thut's! Damit kann man Staat machen – und ein Haus! – Was für eins! In das die gelehrtesten Leute kommen! Und die gelehrteste Konversation führen, daß so ein dummer Teufel wie ich nur Mund und Nase aufsperren kann! Nach Berlin, sagst Du? Natürlich nach Berlin; wohin denn sonst? Aber ohne mich, wenn ich bitten darf! Ich werde doch noch so viel Lebensart haben!

Er lachte wieder, nicht so laut, als vorhin. Es waren ein paar Leute in den Saal getreten, mit den Hüten auf den Köpfen, und hatten angefangen, da drüben zwischen den Pulten und Instrumenten zu kramen. Kora war in Verzweiflung. Während Adalbert so mit einer seltsam dumpfen apathischen Stimme sprach, durchschauerte sie der Gedanke, daß er auf dem Punkte stehe, wahnsinnig zu werden. War nicht auch dieser plötzliche Einblick in das Verhältnis zwischen Escheburg und Hilden – in das Geheimnis wenigstens von Escheburgs Herzen – eine jener blitzartigen Offenbarungen, wie sie den Wahnsinnigen werden? Großer Gott, wenn's ein Mittel gab, eine Möglichkeit nur, das volle Hereinbrechen des Entsetzlichen zu verhüten in diesem Augenblick, der vielleicht der letzte war –

Und urplötzlich, als hätte es ihr ein Gott gegeben, und nicht sie es sprach, sondern er aus ihr heraus, kam es über ihre bleichen Lippen in klaren ruhigen Tönen, denen sie wie einer fremden Stimme lauschte:

Du irrst Dich. Nicht Hilde ist es, die Escheburg liebt; ich bin es.

Er fuhr zusammen, als wäre ein Donnerschlag über ihm geschehen, und starrte sie an, als wäre sie eine Erscheinung.

Das – das hat er Dir gesagt? stammelte er.

Ja.

Und Du – Du liebst ihn wieder?

Ja.

Seit wann denn? großer Gott, seit wann?

Immer! von immer her! Geh jetzt! ich will allein sein – ich bitte Dich, geh!

Er hatte sich langsam erhoben, als wären ihm die Glieder gelähmt, und ging nun von ihr durch den Saal der Außenthür zu; langsam, schweren Schrittes, wie ein alter Mann – er, sonst das Bild fröhlicher Manneskraft. An der Thür wandte er sich und blickte, den Kopf schüttelnd nach der einsamen Gestalt da hinten auf der Bank; dann klirrte die Thür hinter ihm.

Sie aber war sitzen geblieben, in derselben Stellung, wie er sie verlassen, und blieb so lange, ohne ein Glied zu regen. Die Musici, die nun vollzählig waren, hatten ihre Plätze eingenommen und stimmten die Instrumente. Sie hatte von den Läufen und Quinquilieren nichts gehört und schaute, als plötzlich in gemessenem Tempo ein paar rasche scharfe Schläge erschallten, verwundert auf den Dirigenten, der nun den Taktstock erhob, worauf das Orchester in einem Tutti losbrach. Sie strich sich über die Stirn.

Er wird es ja nie erfahren. Und wenn es doch geschehen sollte: er wird mir nicht zürnen. Er wird begreifen, daß ich nicht anders konnte.

Sie hörte das Stück bis zu Ende an. Dann erhob sie sich und verließ mit leisen Schritten den Saal.



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