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Zwölftes Kapitel.

Hilde hatte Edith, Jane und Kate die Hand gereicht und begrüßte nun den alten Herrn, der, ihre beiden Hände festhaltend, sie – heute bereits zum zweitenmal – versicherte, daß sie völlig wie eine Engländerin aussehe und in England niemals für eine Fremde genommen werden würde, schon ihres Englisch wegen, das sie » to perfection« spreche.

Udo scherzte mit den drei Mädchen, die – nur jetzt nebeneinander – bereits wieder in derselben Haltung standen, in welcher sie eben zur Thür hereingekommen waren: Edith auf dem rechten Flügel, umschlungen von Janes rechtem Arm, während Kate ihre rechte Hand auf Janes linker Schulter ruhen ließ. Sie hatten heute helle Kleider an von demselben Stoff mit denselben Garnituren, denselben antiken Broschen in denselben mehrfach um den Hals geschlungenen Spitzenshawls, jede einen Rosenknospenzweig an derselben Stelle in dem gleich frisierten aschblonden Haar, und sahen so völlig gleich allerliebst aus, indem sie mit demselben gutherzigen Lächeln dieselbe Anzahl weißester Zähne zeigten, daß Udo sie beschwor, die Position zu wechseln, damit Großpapa Swalwell selbst, wenn er sich umdrehte, sie nicht würde unterscheiden können, worauf Edith, Jane und Kate wie aus einem Munde: You are naughty, Mr. Wolfsberg! lispelten.

Das ist recht, rief Hilde, er ist es auch gegen mich gewesen. Schelten Sie ihn nur tüchtig! Aber, liebe Mädchen, heute abend wird deutsch gesprochen! Ihr sollt ja eine deutsche Vorlesung hören!

We are so afraid! riefen Edith, Jane und Kate einstimmig.

Why are the girls afraid? fragte Mister Swalwell Hilden.

Hilde sagte es ihm. Ob ihm die Mädchen nicht von der Vorlesung erzählt hätten? – Sie hätten kein Wort davon erzählt, versicherte der alte Herr lachend; er verstehe ja auch, wie Mrs. Osseck wisse, kein Wort deutsch. Aber das schade nichts; er werde sich doch amüsieren; er amüsiere sich immer.

Dafür sei er auch der liebenswürdigste Gentleman, der ihr je im Leben begegnet sei; entgegnete Hilde; sie habe auch noch eine Ueberraschung in petto; sein Neffe, Don Temistokles Vigo-Swalwell werde ebenfalls erscheinen.

Danke Ihnen, danke Ihnen recht sehr; sagte der alte Herr; das wird meine Jane so freuen.

Warum gerade Miß Jane?

Mr. Swalwell wandte vorsichtig den Kopf in seinem steifen Hemdkragen nach der Gruppe und flüsterte: Aber ganz vertraulich, teure Mrs. Osseck: Jane ist mit ihrem Kousin verlobt.

Wahrhaftig?

Mr. Swalwell nickte: Und weil Sie doch eine so liebe Dame und die beste Freundin meiner Mädchen sind: Edith ist auch verlobt, auch an einen Kousin, der auch Swalwell heißt, – Fred Swalwell in Manchester.

Ist es möglich? Und Kate? ist sie auch verlobt?

Der alte Herr bog sein stattliches Haupt näher an Hilde und murmelte: Noch nicht; aber ich habe schon einen für sie ausgesucht: auch einen Kousin – Jack Swalwell –

Manchester?

Nein, Birmingham.

Der alte Herr hatte keine Ahnung, weshalb die schöne junge Frau darüber so hell lachte, daß sie sich das Taschentuch vor das Gesicht drücken mußte; aber er hielt es in seiner Eigenschaft als liebenswürdigster Gentleman für Pflicht, mitzulachen. Und da Edith, Jane und Kate immer so lachen mußten, wenn sie den lieben alten Großpapa lachen sahen, hatte Udo, der die ganze Gesellschaft lachen sah und seinerseits keinen Grund zu lachen hatte, die Empfindung, als ob über ihn gelacht würde, trotzdem er sich bewußt war, keine Veranlassung dazu gegeben zu haben. Es konnte also nur ein Zufall sein; aber er war doch froh, daß jetzt zu gleicher Zeit die Generalin mit Kora aus ihrem Salon und Osseck und der Oberst, von draußen kommend, eintraten. Alles beeilte sich, die Generalin zu begrüßen, die alsbald auf dem Sofa Platz nahm und auf den Fauteuil neben sich einen nach dem andern heranwinkte zu einer speziellen Audienz, welche aber immer nur wenige Minuten währte; außer bei Adalbert, den sie in längerer, wie es schien, von ihrer Seite sehr gnädigen Unterhaltung festhielt. Es war ja nur für die Gesellschaft – Hilde wußte es recht gut; dennoch, als sie jetzt, im Gespräch mit dem Oberst, aus einiger Entfernung die Scene beobachtete, klopfte ihr das Herz. Wenn sie auf die Einflüsterungen der Pult, die Stichelreden der Mama niemals gehört hätte, es wäre doch nicht so weit gekommen! Nun, da sie sich – sie wußte selbst nicht warum – ein Herz gefaßt und der Pult die Lüge auf den Kopf zugesagt, sollte sie sich nicht auch von dem Einflusse der Mama frei machen, und dann doch noch alles gut werden können? Ach, es war ja jetzt herzlich schlecht; und bei all ihren Erfolgen, mit denen sie Adalbert hatte imponieren und ihm beweisen wollen, daß der reiche Baron Osseck mit seinen sechs Rittergütern die arme Generalstochter noch immer zu billig erworben, war ihr so herzlich schlecht zu Mute! Was hatte sie denn durch ihre Triumphe erreicht? Anstatt Adalbert anzuziehen, ihn nur noch weiter von sich entfernt; anstatt ihn zu einer zweiten Huldigung und Werbung – die dann in ihren Augen die erste wahrhafte gewesen sein würde – zu bringen, ihn in die Netze einer Kokette getrieben! Sollte sie zu ihm gehen und ihm, wie er jetzt so dasaß, vor den Augen der Mama und der ganzen Gesellschaft, den Arm vertraulich um den Nacken schlingen? oder ihn unter irgend einem Vorwand in das Nebenzimmer rufen, ihm an Babys Bett um den Hals fallen und sagen: vergib mir! ich war auch nur ein Kind! ich will von Stund an Deine Frau sein!

Sie hatte, während ihr das alles, wie in einem Traume, durch die Seele zuckte, den Oberst fortwährend gesellschaftlich höflich angelächelt, ohne ein Wort von dem zu hören, was er sagte, bis Adalberts Name ihr Ohr berührte, und dann die folgenden Worte: – ich wollte ihn nur entschuldigen.

Verzeihen Sie, Herr Baron, sagte sie: ich war im Augenblick etwas zerstreut. Sie wollten wen entschuldigen?

Ihren Gemahl, wenn er heute nicht besonders heiter wäre. Aber ganz entre nous, schöne Frau: er kam schon recht verdrießlich in den Klub; und ich glaube, das kleine Jeu, das er mit Mister Douglas entrierte, hat ihn nicht heiterer gemacht.

Schade, daß Sie Mister Douglas nicht mitgebracht haben, sagte Hilde.

Er geht, glaube ich, in keine Gesellschaft.

Und seine Frau, scheint es, auch nicht; wenigstens habe ich mir von ihr vor einer Stunde den liebenswürdigsten Korb, aber doch einen Korb geholt.

Sie waren bei ihr? fragte der Oberst schnell.

Weshalb nicht? als Hotelnachbarin. Und wir sind ja seit heute mittag beinahe schon Freundinnen. Warum sehen Sie mich so kurios an?

Kurios? Daß ich nicht wüßte! Höchstens in dem eigentlichen Sinne von kurios: neugierig. Ich wäre neugierig, zu wissen, wie Sie die schöne Frau im tête-à-tête gefunden haben.

Wie anders als entzückend? – Was willst Du, Kora?

Ich wollte Dir nur sagen, flüsterte Kora, daß ich mir erlaubt habe, Escheburg einzuladen. – Und sie deutete auf Escheburg, der eben in den Salon getreten war und jetzt der Generalin seine Verbeugung machte. – Es ist Dir doch recht?

Nun, natürlich; aber ich dachte, er wäre über alle Berge!

Er will nun doch ein paar Tage zulegen, und da meinte ich –

Schön, schön, Herzenskind! Aber wenn Du Dich jetzt etwas um den Theetisch bekümmern wolltest! Du – Kora! Das Büffett kommt erst nach dem dritten Akt

Kora war davongeeilt.

Ah! sagte der Oberst; daß doch der Genuß der nächsten Stunden nicht so flüchtig ist, wie der Gruß, mit dem mich Ihr Fräulein Schwester eben beehrte!

Sie haben immer an Kora zu mäkeln, sagte Hilde; und sie ist besser, als wir alle zusammengenommen. Aber was meinen Sie mit den flüchtigen Stunden? Versprechen Sie sich keinen Genuß?

Auf die Länge wird auch der höchste Genuß zur Qual!

Mehr als fünf Akte kann es doch nicht haben.

Und ein Vorspiel!

Das schenken wir ihr.

Schenken Sie einem Krösus etwas!

Ihr Männer seid alle schlecht. Dann wundere ich mich aber um so mehr, weshalb Poly und der Doktor so spät kommen.

Lampenfieber vermutlich, sagte der Oberst, boshaft lächelnd. Da sind sie übrigens!

Die Thür war wieder aufgerissen worden, und Poly erschien auf der Schwelle in einer roten, mit Ponceau-Samt Ponceau: leuchtend orangerot. garnierten Atlasrobe am Arm Gönnichs, der zu Ehren des Tages an den Brustlatz seines Jägerrockes eine ponceaurote Nelke gesteckt hatte. Alle eilten auf sie zu mit Ausnahme der Generalin, welche von ihrem Sofaplatz aus der an sie Heranrauschenden mit gnädigem Kopfnicken eine Hand hinhielt, die Poly ehrfurchtsvoll küßte. Nun wandte sie sich wieder zur Gesellschaft, augenscheinlich sehr erregt, aber nach allen Seiten verbindlich grüßend, lächelnd, sich wegen ihres späten Kommens entschuldigend, die Versicherungen der drei Gleichen, daß sie sich so auf den Abend freuten, huldvoll entgegennehmend.

Ein ganz andres Bild bot Doktor Gönnich. Der hochmütig-melancholische Ausdruck, welchen er immer affektierte, erschien heute besonders ausgeprägt; seine Verbeugungen waren noch gemessener als sonst, und feierlicher als sonst strich er mit der linken Hand, während der Ellbogen in seiner rechten ruhte, den stattlichen blonden Vollbart über die eingeknöpfte Brust. Kora fand ihn widerwärtiger als je. Dennoch dauerte es sie, daß er bereits jetzt – nach wenigen Minuten – allein stand, während er doch gekommen war, um in seiner Weise zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen. Sie trat an ihn heran mit einem freundlichen Wort über seine düstre Miene, die so wenig zu der Gelegenheit passe.

Ich bin gewohnt, Unpassendes zu begehen, erwiderte Gönnich mit selbstbewußtem Lächeln. Wir Männer aus dem Volke müssen ja ein für allemal auf die feinen Allüren der geborenen Aristokraten verzichten. Für den Augenblick aber erwäge ich nur in meiner Seele, nicht, ob meine Miene, – auf deren Ausdruck ich niemals Wert lege, – sondern, ob unser Vorhaben zu der Gelegenheit passe, oder nicht vielmehr möglichst unpassend sei.

Wie meinen Sie? fragte Kora zerstreut.

Es hat immer etwas Beklemmendes, ich möchte sagen Beschämendes für den Genius, wenn er das keusche Adyton Der nach außen gänzlich abgeschlossene Rückraum der Cella eines altgriechischen Tempels. seiner Werkstätte verläßt, um auf des Lebens lärmenden Markt zu treten. Der Schrecken dieses Momentes kann nur dadurch gemildert werden, daß er bei dem Heraustreten von einigen wenigen, aber wahrhaft Getreuen – ich meine solchen, die an ihn glauben – huldigend begrüßt wird. Sind Sie sicher, mein gnädiges Fräulein, daß der alte englische Geschäftsmann dort und seine drei, doch jedenfalls in den banausischen Gedanken- und Empfindungssphären von Großeltern und Eltern aufgewachsenen jungen Damen an den Genius und gar an den deutschen Genius glauben?

Offen gestanden, erwiderte Kora; so recht begreife ich auch nicht, weshalb meine Schwester die lieben Kinder, die übrigens, wie Sie wissen, etwas Deutsch verstehen, eingeladen hat. Auf jeden Fall würde ich Ihnen aber raten, jetzt anzufangen; es scheint mir die höchste Zeit.

Mir auch, sagte der Oberst, der die letzten Worte gehört hatte. Anfangen! anfangen!

Er hatte es mit erhobener Stimme gesagt und dazu in die Hände geklatscht.

Ja, anfangen! rief Udo aus einer lachenden Unterhaltung mit den drei Gleichen heraus.

O, yes! begin, do begin! please! riefen die drei Gleichen.

Wo wünschen Sie zu sitzen? fragte Hilde.

Ich füge mich, gnädige Frau, ganz Ihren Anordnungen, erwiderte Gönnich.

Die auch wohl besser vorher getroffen wären, sagte Adalbert leise zu Hilde.

Es ist ja im Augenblick geschehen, erwiderte Hilde ohne Empfindlichkeit. Uebrigens ist alles bereit. – Friedrich!

Friedrich stellte auf ihren Wink ein kleines Vorleserpult auf den Tisch in der Mitte, zwei Lampen daneben, sodaß Gönnich dem Sofa, auf welchem Poly neben der Generalin Platz genommen hatte, gegenüber zu sitzen kam, während die übrige Gesellschaft sich rechts und links vom Sofa auf Fauteuils placierte. So wurde in schicklicher Entfernung von dem Vorleser ein unregelmäßiger Halbkreis gebildet. Die drei Gleichen, Hilde und Udo waren auf dem rechten Flügel; Adalbert, der Oberst, Mister Swalwell, Escheburg und Kora bildeten den linken. Eine erwartungsvolle Pause trat ein, während Friedrich, der schon vorher instruiert war, einen ungeheuren Folioband herbeitrug und vor Gönnich auf das Pult legte.

Wenn ich sterben sollte, flüsterte Udo Hilden ins Ohr, so, bitte, nehmen Sie meine Leiche nach Frank –

Still! flüsterte Hilde zurück.

For shame! flüsterten die drei Gleichen mit schreckensvoll ausgestreckten Zeigefingern der rechten Hände.

Gönnich hatte sich erhoben, die linke Hand auf das Manuskript legend, zwei Finger der rechten unter der Nelke zwischen die Knöpfe seines Rockes schiebend, mit schwermutsvoll prüfendem Blick die Gesellschaft musternd, wie um sich zu überzeugen, daß jeder in der angemessenen Haltung und Stimmung sei. Nun schlug er die Augen nieder und begann mit leiser melancholischer Stimme: Meine Damen und Herren! Es scheint auf den ersten Blick, als hieße es Eulen nach Athen tragen, oder besser, eine Iliade nach Homer dichten, wenn es ein deutscher Genius übernimmt, nach dem Vorgang des großen Briten noch einmal den erhabenen Schatten –

Ein helleres Licht, als die mit grünen Schirmen versehenen Lampen gewährt hatten, war plötzlich über das Gesicht des Redners geglitten, der jäh abbrach, wütend nach der Thür zum Korridor starrend, die geräuschlos von dem draußen wachehaltenden Friedrich aufgethan war und mit dem Lichtstrahl von der großen Reverbere-Lampe auf dem Korridor eine dunkle schlanke Gestalt eingelassen hatte, welche nun, ohne sich zu regen, dastand, während sich die Thür eben so leise wieder hinter ihr schloß.

Angels and ministers of God defend us! raunte Udo der ihm zunächst sitzenden Kate zu.

For Shame! warnten die drei Gleichen mit halb über die rechte Schulter gewandten Köpfchen.

Come here! flüsterte Hilde, auf einen leeren Stuhl neben sich deutend.

Don Temistocles Vigo-Swalwell folgte, auf den Fußspitzen gehend, dem erhaltenen Winke und saß in der nächsten Sekunde mit der Haltung und der Miene jemandes, der in Lauschen völlig versunken und entschlossen ist, sich durch nichts in seiner Andacht stören zu lassen.

So mochte wohl noch eine halbe Minute vergehen, in welcher Gönnich, gesenkten Blickes, die ihm widerfahrene Kränkung mit dem Opfermut eines Märtyrers niederzukämpfen schien. Dann begann er von neuem mit noch leiserer Stimme als vorhin.

– den erhabenen Schatten Julius Cäsars auf die weltbedeutenden Bretter zu citieren. Aber, meine Verehrten, es scheint auch nur. Inkommensurabel, wie uns Shakespeares Genius vorkommt – er findet doch sein Maß und seine Grenze an der relativen Unwissenheit seiner Zeit. Relativ zu der Fülle der Quellen, aus denen unser Jahrhundert schöpfen kann, freilich aber auch schöpfen muß. Es ist das eine sittliche Pflicht. Sie appelliert an das Gewissen des dramatischen, wie des epischen Dichters. Und man muß sagen, daß bis jetzt der letztere die Zeichen seiner Zeit besser verstanden hat, als der erstere. Der historische Roman ist der poetische Triumph unserer Zeit. In »Beiträge zur Theorie und Technik des Romans« (1883) hatte Spielhagen u.a. erläutert, weshalb er dem Typus des historischen Romans einen niederen Rang zubilligte. Ich nenne keine Namen und keine Titel, um auch in diesem vertrauten Kreise dem Verdacht zu entgehen, als gehöre ich zu denen, welche um die Gunst der Großen in der Republik der schönen Wissenschaften buhlen; aber ich kenne neue und neueste historische Romane, die ich so weit über Goethes Wahlverwandtschaften und Wilhelm Meister stelle, als das öffentliche Leben über dem privaten, die Geschichte der Völker über der eines einzelnen steht. Die Lässigkeit aber unserer dramatischen Dichter in der Quellenforschung und Verwertung der so gewonnenen Resultate für ihre Kunst ist um so auffallender und bedauerlicher, als gerade sie einen Vorteil zur Hand haben, dessen der epische Dichter entbehren muß, und der mithin für sie zu einem Vorzug von unberechenbarer Größe werden könnte. Ich meine jene andere Kunst, die, was der epische Dichter mühsam und unvollkommen schildern muß, zur greifbaren Wirklichkeit macht: die Kunst der Dekoration, welche zur Zeit, als der Schwan von Avon Shakespeare. sang, in den Kinderschuhen stak, und heutzutage eine Riesin geworden ist, für die das Wort: unmöglich nicht mehr existiert. Aber die Riesin, wenn sie von ihrer Höhe herabsteigt auf das dramatische Gefilde – findet sie, was ihr ebenbürtig wäre? Nun ja, ein armseliges Bäuerlein, das sie samt seinem Gespann bequem in ihre Schürze streicht – primitive, verhältnismäßig kleinliche Werklein, mit welchen sie nichts Rechtes anzufangen weiß, wenn sie ihnen ihre mächtige Hilfe angedeihen lassen will, wie die gutgemeinten neueren Versuche unserer vorgeschrittenen Bühnen, mit einzelnen Tragödien und Komödien Shakespeares und den Paradestücken unserer sogenannten klassischen Litteratur klärlich beweisen. Nein, meine Verehrten: das Drama, welches der Gegenwart würdig wäre, welches, auf dem Felsengrunde des weltumfassenden historischen Wissens unserer Tage in gigantischen Dimensionen sich erhebend, diesen ihren Wunderbau mit Hilfe der vor keiner Aufgabe zurückbebenden Ausstattungs-Schwesterkunst vor den staunenden Blicken des nach wahrhaftem Seelengenuß verschmachtenden Zuschauers aufbaute, – meine Verehrten: dieses Drama –

Hear! Hear! rief Mister Swalwell enthusiastisch.

Der alte Herr, aus seinem Halbschlaf aufschreckend, hatte, weil der Redner, der die letzten Worte mit Aufbieten aller Stimmmittel hervorgedonnert, plötzlich eine Pause machte, geglaubt, daß derselbe den Faden seiner Rede verloren habe, und man ihm eine Aufmunterung zu teil werden lassen müsse. Er erschrak, als er, sich umblickend, auf lauter verlegene Mienen traf, mit Ausnahme Udos, der sein Taschentuch geräuschvoll benutzte, und des Redners selbst, der ihn mit Augen, die aus dem Kopf zu quellen schienen, zornig anstierte.

I beg your pardon! murmelte der alte Herr, mit einer würdigen Verbeugung gegen die Gesellschaft und den Redner in seinen Stuhl zurücksinkend. Hilde warf Gönnich einen bittenden Blick zu, indem sie zugleich eine anmutig entschuldigende Gebärde gegen Poly machte, welche von dieser mit einem vieldeutigen Achselzucken erwidert wurde.

Ich wollte sagen, hub Gönnich mit leise resignierter Stimme wieder an: dieses Drama –

Eine schmetternde Fanfare, mit welcher das Orchester in dem dicht benachbarten Kurgarten zu einem lärmenden Marsch einsetzte, ließ ihn abermals abbrechen. Man hatte im Anfang der Gesellschaft in dem Geschwirr einer allgemeinen Konversation auf das gewohnte Geräusch der Musik nicht geachtet, und gerade während der Rede Gönnichs hatte diese ihre große Pause zwischen den beiden Hauptabteilungen des Abends gemacht. Nun in der Stille brach der Lärm mit voller Gewalt durch die Balkonthür und die Fenster, welche der Wärme wegen hinter den heruntergelassenen Vorhängen halb offen standen: es war, als ob die Musik in dem Gemach selbst erschallte. Adalbert, der Oberst und Escheburg waren sogleich aufgesprungen, die Oeffnungen zu schließen; aber wenn der Lärm auch so einigermaßen gedämpft erklang, er war noch immer für ein empfindliches Ohr laut genug. Und während man noch, mit ratloser Miene einander anblickend, herumstand – auch ein Teil der Damen hatte sich erhoben – fing, die Musik übertönend, eine elektrische Klingel, welche an der Außenwand des Salons auf dem Korridor angebracht sein mußte, zu schellen und zu gellen an, unaufhörlich, nervenzerreißend. Adalbert stürzte hinaus und schalt auf Jean ein, der sich mit Hilfe eines anderen Kellners vergeblich bemühte, das wie im Wahnsinn fortrasende Werk zum Stehen zu bringen. Als er sich in halber Verzweiflung wieder zur Thür wandte, stieß er auf Gönnich, der eben eilig aus dem Salon getreten war, und mit einer stummen Verbeugung an ihm vorüber wollte.

Aber, Herr Doktor, rief er; Sie können mich doch unmöglich für dieses Malheur verantwortlich machen!

Sie, Herr Baron, gewiß nicht, erwiderte Gönnich, das erste Wort stark hervorhebend.

So beweisen Sie es dadurch, daß Sie wenigstens bleiben, wenn ich auch zugeben muß, daß die Stimmung nun doch wohl heillos zerstört ist. Sehen Sie, da hört auch das gräßliche Geklingel auf!

Es könnte wieder anfangen, sagte Gönnich mit einem bösen Lächeln. Auch haben wirklich meine Nerven schon zu sehr gelitten. Ich bitte ganz gehorsamst, mich zu entschuldigen.

Er verbeugte sich noch einmal und schritt auf die Treppe zu. Adalbert hatte nicht länger versucht, ihn zu halten. Der Mensch war ihm immer widerwärtig gewesen; das taktlose Benehmen desselben in diesem Augenblicke rechtfertigte vollends seine Antipathie. Oder sollte dies Benehmen noch einen andern Grund haben als verletzte Eitelkeit? Sollte ihm der Plebejer die Ehre anthun, auf ihn eifersüchtig zu sein?

Eine überaus widrige Empfindung stieg in ihm auf, während er so, zur Verwunderung der beiden Kellner, brütend unschlüssig vor seiner Thür stand. Ein Nebenbuhler dieses Menschen – Escheburg hatte noch heute darauf hingedeutet – das war doch schmachvoll, auch wenn von seiner Seite das Kokettieren mit Poly nur eine schlechte Farce war, um vor Hilden seinen Jammer zu verbergen. So war denn auch daran Hilde schuld, vielleicht sogar an der Scene eben. Der Mensch hatte offenbar sagen wollen, daß Hilde die Dummheiten, die da drinnen passiert, zum Teil wenigstens auf dem Gewissen habe.

Meine Geduld ist zu Ende, murmelte er, indem er sich mit einem Ruck aufraffte und wieder in den Salon trat.

Hier aber fand er, zu seiner Verwunderung, scheinbar alle in der vortrefflichsten Laune, selbst Poly, die eben lachend ihr Manuskript gegen Udo verteidigte, welcher nach Gönnichs »Fahnenflucht« durchaus in dessen Stelle treten wollte. – Sie wissen nicht, meine Herrschaften, rief er, wie vortrefflich ich lese, und was für herrliche Dinge es hier zu lesen gibt. Das Gespräch zwischen Cäsar und Pompejus zu Lukka im dritten Akt über die Teilung der Herrschaft – das ist ein Meisterstück, im Vergleich mit welchem die vielgerühmte Scene zwischen Wallenstein und dem schwedischen Herrn Kameraden weiland platt auf die Erde fällt. Und gar der Schluß des dritten Aktes: Cäsars Monolog, als er, mit seiner Legion hinter sich auf der Uferhöhe, vor sich den Nachen, der ihn übersetzen soll, am Rubikon steht. Wo ist es doch? hier! Hören Sie!

Und Udo hatte, während Poly in gespielter Verzweiflung beiseite trat, das Riesenmanuskript erhoben und deklamierte:

Entschließe, Cäsar, dich! Du hast das volle –
Du könntest auch das übervolle sagen –
Gefühl davon, was du beginnst. In Frage –
In bis zum Siedepunkte heißer Frage –
Steht einerseits der vorlängst legitimen –
Dem alten Schweizerkäse gleich zermürbten,
Den mir die greise Sennin neulich bot,
Als ich der Alpen rauhe Pässe kreuzte –
Autorität Fortexistenz, und ander-
seits deine eig'ne. Kannst Du zögern? –
Du, Cajus Julius Cäsar, Imperator? –
Nein, nimmermehr!

(Er wendet sich rückwärts zu der Legion, rufend.)

                    Quiriten, Kampfgenossen! –
Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an: –
Seht dieses Flüßchen hier, man nennt's den Rubi-
con, welcher Gallia cisalpina
Vom eigentlichen röm'schen Boden scheidet.
Es ist so schmal, es könnt ihn überhüpfen
Ein Mägdlein, ohne das Gewand zu schürzen –
Ein Hase, so er nur die Löffel anzieht –
Geh' ich nun nicht hinüber, werd' ich sicher –
Dem Mopse gleichend, der die Zähne zeigte, –
Zum Beißen fand er niemals die Kourage –
Geraten in Gefahr, und wenn ich's thue,
So bring ich in Verwirrung eine Welt
– Die wir latein'sch orbis terrarum nennen –
Was wollt ihr?

(Die Krieger schlagen klirrend an ihre Schilde.)

                Wohl! ich habe Euch verstanden!
Wenn Menschen schweigen, werden Schilde sprechen –
Auf denn: nach Rom! Der Würfel ist gefallen!
Ich könnt' auch sagen: jalea est acta! Cäsars historisches Wort lautet bekanntlich: alea iacta est. Die satirische Verballhornung, die der deklamierende Udo vornimmt, gibt der Stelle (» jalea« im Spanischen: »Gelee« – etwas später wird Udo »mit einigen spanischen Phrasen aufwarten«) gewissermaßen die Bedeutung: » Der Gelee ist fertig!«.

(Er springt in den Nachen. Indem die Krieger mit betäubendem Geschrei von den Ufern herab sich in den Fluß werfen, dessen Wogen hoch aufschäumen, so daß Cäsars Nachen in Schwanken gerät, während er selbst, von der untergehenden Sonne mit deutungsreichem Purpur bekleidet, in ruhiger Majestät dasteht, fällt der Vorhang.)

Udo klappte den Folianten zu.

Beautiful, most beautiful! riefen die drei Gleichen.

Bravo! bravo! rief der Oberst, die Fingerspitzen zusammenschlagend, der Gesellschaft so ein Zeichen gebend, in den Beifall einzustimmen, was denn auch von allen Seiten geschah, besonders enthusiastisch von dem alten englischen Herrn, der, jetzt seiner Sache sicher, unaufhörlich schallend in die Hände klatschte und dazu hear! hear! rief.

Aber er hat ja alles Ausgestrichene mitgelesen, und Sachen, die gar nicht dastehen: von orbis und jalea, oder wie es heißt! rief Poly mit geröteten Wangen. Udo, willst Du gleich –

Sie verfolgte Udo, der mit dem Folianten vor ihr her um die Fauteuils herum retirierte.

Treiben Sie es nicht zu weit! raunte der Oberst dem Uebermütigen zu.

Bitte, geben Sie her! sagte Adalbert ärgerlich, indem er Udo das Buch abnahm und zu dem Tische zurücktrug. Er mußte an sich halten, seinem Unwillen nicht einen noch deutlicheren Ausdruck zu geben. Gönnich hatte doch wohl recht: dies alles war vorbedachtes Spiel, um Poly zu kränken, lächerlich zu machen – vorbedacht und arrangiert von Udo und – seiner Frau. Es war ja klar, wie gut sie sich verstanden; wie sie auch jetzt wieder in trauter Gemeinschaft die Honneurs der Gesellschaft machten!

In der That bot Hilde ihre ganze Liebenswürdigkeit auf, die bedenkliche Scene, die Udo gespielt hatte, in Vergessenheit und die Gesellschaft in gute Laune zu bringen. Sie gönnte freilich ihrer Nebenbuhlerin das Fiasko von ganzem Herzen; aber weiter war sie sich keiner Schuld bewußt, und daß es nicht zu der gräßlichen Lektüre gekommen war – desto besser! so konnte man sich doch wenigstens auf eigne Hand amüsieren!

In fröhlichster Laune flatterte sie von einer Gruppe zur andern, dieser zum Bleiben zuredend, jene zum Niedersitzen nötigend, Jean und Friedrich antreibend, die Speisen herum zu reichen, gelegentlich selbst Teller, Messer, Gabeln vom Büffett herbeitragend, es den Gästen in möglichst kurzer Zeit möglichst behaglich zu machen – bei diesen freundlichen Bemühungen bestens unterstützt von Udo, der überall zu gleicher Zeit zu sein schien, hier einen Fauteuil heranrückend, dort eine Schüssel präsentierend, eine widerspenstige Flasche Champagner, mit der Jean nicht fertig werden konnte, selbst entkorkend, endlich einen Platz, welchen ihm Kate an ihrer Seite hatte offen halten müssen, einnehmend. Er überschüttete das hübsche, einmal über das andere errötende Mädchen mit seinen Liebenswürdigkeiten, die er jetzt auf deutsch vorbrachte, jetzt auf englisch, das er nichts weniger als korrekt, aber desto geläufiger sprach. Selbst mit einigen spanischen Phrasen konnte er aufwarten, welche leider der chilenische Vetter nicht zu verstehen schien, da er dieselben stets nur mit einem höflichen Lächeln beantwortete. Zwischendurch blieb dem Vielbeschäftigten noch immer Zeit, gelegentlich einen Blick mit der Wirtin, die an einem andern Tischchen zwischen Mister Swalwell und dem Oberst saß, auszutauschen. Hatte sie ihm doch die Rolle, die er jetzt spielte, vorgeschrieben, als sie ihn vorhin auf einen Moment beiseite nahm, ihm in fliegenden Worten mitzuteilen, daß Edith und Jane bereits verlobt seien, und wer etwa die letzte Gleiche heimführen wolle – samt der halben Million aus ihres Papas Hinterlassenschaft und einer zweiten halben aus Großpapa Swalwells Tasche – keine Minute zu verlieren habe. Udo hatte sich beeilt, einem Winke zu folgen, der ja auch nach einer andern Seite hin bedeutungsvoll war und ihm bestätigte, – was er schon vorhin in dem tête-à-tête mit der jungen Frau herausgefühlt: – daß sie in ihrem bisherigen Verhältnis zu ihm eine Wandlung eintreten zu lassen wünsche. War der Baron eifersüchtig geworden? Unmöglich schien es nicht, nach der finsteren Miene zu schließen, mit welcher der stattliche Mann neben Poly saß, und die sich nicht erhellen wollte, wie augenscheinlich er sich auch zu der gesellschaftlichen Höflichkeit zu zwingen suchte.

Freilich war die Unterhaltung, die er mit Poly zu führen hatte, nicht geeignet gewesen, Adalberts schlimme Laune zu verbessern. Poly wollte sich nicht beklagen – im Gegenteil: es sei ihr lieb, daß es nicht zu der Vorlesung gekommen. Sie wollte auch niemand anklagen. Wie abscheulich ihr freilich Udo mitgespielt, er sei nun einmal ein enfant terrible. Und die Störungen vorher – lieber Gott! wer wüßte nicht, wie so etwas manchmal zusammenkomme, obgleich heute allerdings ein wenig viel zusammengekommen! Jedenfalls sei sie Hilden deshalb nicht bös – was könne denn Hilde dafür! Sie habe es gewiß so gut gemeint, als sie die Gesellschaft zur Hälfte aus Ausländern zusammensetzte – je weniger verständnisvolle Seelen da waren, desto besser für das geängstigte Dichtergemüt. Da sei es denn schade, daß Missis Douglas Hildes dringende Einladung abgelehnt habe. Aber er wisse am Ende noch gar nicht von der Freundschaft, welche die beiden Damen durch Udos Vermittlung heute geschlossen? Wirklich, Udo mache sich Hilden völlig unentbehrlich; sie werde ihn doch sehr vermissen, wenn er wieder nach Rastatt gehe. Freilich, Missis Douglas sei ein stolzer Ersatz – ein wenig zu stolz für den bescheidenen Geschmack gewisser Leute. Mit Hilde sei das etwas andres. Für sie heiße es: noblesse oblige! Gleiches zu Gleichem! Sweet to the sweet! zur Stolzen die Stolzere, zur Schönen die Schönere! – denn daß Hilde die Schönere und Allerschönste sei, werde doch niemand in Abrede stellen, am wenigsten der verliebte Herr Gemahl.

Poly hatte sich erhoben; die Gesellschaft folgte gern oder ungern dem gegebenen Beispiele. Es war noch nicht spät – eben erst elf Uhr; aber Poly erinnerte daran, daß die Generalin sich bereits vor dem Souper zurückgezogen habe; man müsse auf sie Rücksicht nehmen. Vergebens versicherte Hilde, daß die Mama durch das Zusammenbleiben nicht im mindesten gestört würde – Poly hatte nun doch ein wenig Migräne nach den Emotionen des für sie so »lehr- wie genußreichen Abends«; der Oberst mußte noch in den Klub, wohin ihn Udo begleiten wollte; Großpapa Swalwell erklärte, er wäre gern bis zum hellen Morgen geblieben, worauf die drei Gleichen: for shame, Grandpa! riefen und nun hinter dem alten Herrn, der sich ziemlich fest auf Don Temistokles Vigo-Swalwell stützte, zur Thür hinausschwebten, nachdem sie » her dear Missis Osseck« der Reihe nach geküßt hatten. Kora und Escheburg sagten nun ebenfalls gute Nacht; Hilde und Adalbert blieben allein im Salon, in welchem Friedrich und Jean mit ein paar anderen Kellnern in gewandter Eile die letzten Spuren der eben stattgehabten Gesellschaft entfernten.



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