August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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9. Der schale Rest

Es war am selben sonnigen Sonntagmorgen, und die Kirchenglocken tönten über die Dächer des Städtchens.

Der Bierlupf stand vor dem kleinen Spiegel und rasierte sich. Knirschend fuhr das Messer über die feisten Backen und das Doppelkinn und nahm Seife und Stoppeln. Dann wusch er das gesäuberte Antlitz und besah sich wieder im Spiegel. Der warf das graue, gedunsene Gesicht in alter Trübsal zurück.

Er hob die Linke und prüfte nachdenklich ihren Rücken, preßte mit dem Zeigefinger ein Grübchen neben das andere in die schwammige Haut, ballte die Linke zur Faust und beobachtete, wie sich nun die Haut allmählich doch wieder glatt spannte. Er seufzte ein wenig und schüttelte sich.

Aber es war ihm dennoch wohl zu Mute an diesem Morgen. Er zog die Kattunbehänge vor Bett und Waschtisch, öffnete das Fenster und ließ die frische Luft herein.

Die Magd klopfte und brachte ihm das Frühstück – heiße Milch und Schwarzbrot.

Er trat ans Fenster, stemmte die Fäuste auf den Sims und sah hinaus.

Es war ihm wohl zu Mute, wie schon lange nicht mehr. Gierig sog er die Morgenluft ein, und jetzt, in dieser Stunde kam's mit Macht über ihn, was er wohl jezuweilen von ferne gefühlt hatte.

Es kam wie leises Rauschen, es kam wie Wellengewoge des Lichtes von den Waldhügeln herüber, es kam vom goldfunkelnden Turmkreuz herunter, es kam zwischen rotbraunen Dächern aus der Gasse herauf, es kam aus weiter Vergangenheit, mischte sich mit Klängen der Gegenwart und griff 514 wie mit tastenden Fingern hinaus in die Zukunft. Es kam aus einer Kinderstube und war durchzittert von einer singenden Frauenstimme. Es wehte aus heißen Wandertagen und war überschattet von Buchen und Eichen; es drängte sich heran aus düstern Felsentälern und kam wie Bienensummen von lichtübergossenen Halden.

Er atmete tief, und seine schwimmenden Äuglein waren gerichtet auf die blauen Waldhügel, hinter denen sich dehnte – das Land seiner Kindheit.

Er reckte sich, und es ward ihm frei ums Herz.

Aus allen Falten und Fältchen seiner Erinnerung stiegen die Gestalten empor, klar, scharf, zum Greifen, und alle winzig klein. Und ein Gewirre von Stimmen umtönte ihn, und die Gestalten begannen zu tanzen, nickten ihm zu, raunten, sangen, klagten, jubelten – schreib uns!

Bedrängt vom Gewimmel trat er mit geschlossenen Augen und geballten Händen zurück und murmelte: ›Jawohl, so kommt!‹

Ihm war, als würde er hoch emporgehoben, irgendwohin, weit entrückt der Tiefe des Lebens, dem Elend des Daseins. Schauer des Erkennens durchrieselten ihn.

Wie man von Bergeshöhe zurückblickt, so sah er auf den Weg seines Lebens und sah sich als einen Fremden wandern, sah die Krümmungen alle und sah die Menschen alle, die mit ihm gewandert waren bis zum heutigen Tag.

Noch einmal klangen die Töne des Lebens wirr durcheinander – Lachen und Weinen, Zapfenschlag und Klirren des Hiebers, Männergesang und Frauengeflüster. Dann aber verstummte das alles, und es zitterte nur noch wie ferner, tiefer Glockenton: Schreibe du, schreibe du!

Er setzte sich auf den Strohstuhl, er lehnte sich zurück, faltete die Hände auf seinen Knieen und begann die Geschichte seines Lebens zu dichten.

515 Es war eine lautlose Wanderung vom frühen Morgen bis in den Mittag und vom Mittag bis herein in den Abend. Er starrte mit offenem Munde auf die messingbeschlagene Kommode, auf die eine Schublade, die ein wenig herausragte. Und es waren viele, viele Blätter, die er in fliegender Hast auf seinen Knieen beschrieb, jedes von oben bis unten, jedes mit klaren Buchstaben. Und jedes war ein Gedicht, und jedes sprach von der Nacht, die kommen mußte, rollte sich und wischte fort von seinen Knieen und schlüpfte lautlos in die Schublade, die ein wenig herausragte.

Unaufhörlich dichtete er – dort drüben in der Lade mußten nun alle die Röllchen liegen, haufenweise mußten sie liegen, seine Gedichte.

Er lächelte selig und dichtete, und immer dunkler wurden die Blätter, seltsam – es waren nun schwarze Blätter, und wie Feuer glühte darauf die Schrift seiner Hand.

Ganz natürlich, schwarze Blätter waren's. Wie wär's auch anders möglich gewesen? Und als winzig kleine Funken huschten die Buchstaben über verkohltes Papier.

Herr Gott, nun war er fertig! Herr Gott, nun hatte er alles geschrieben, und das letzte Röllchen schlüpfte in den Spalt der Schublade, die ein wenig herausragte. Nun war's gesagt für alle Zeiten – klar, wahr, grausam aufrichtig – aber doch nicht hoffnungslos, o nein, nicht hoffnungslos.

Er stand auf. Was war's geworden?

Er reckte sich: Das Bekenntnis eines verkommenen Lebens, eine Dichtung, wie es keine zweite gab. Ein Gewebe aus menschlicher Torheit, durchwirkt mit den Goldfäden erbarmender Liebe und unaussprechlich hoher, himmlischer Gedanken.

Er setzte sich, er sank in sich zusammen und neigte demütig das Haupt. Es war ihm, als wäre nun seine Mutter neben ihn getreten. Er fühlte ihre weiche Hand auf seinem 516 kahlen Scheitel, und es war ihm selig zu Mute in ihrer verzeihenden Liebe.

Die Milch im Töpfchen war noch unberührt. Eine dicke Haut war darüber gekrochen.

Er stand auf und ging an die Kommode. Er mußte lesen, was er geschrieben hatte. Er zog die Lade weit heraus und stierte hinein.

Sie war leer. Ganz natürlich, sie war leer. Es überraschte ihn durchaus nicht, daß sie leer war.

Diese Kleinigkeit wollte er schon noch fertig bringen; da war ihm nicht bange. Er brauchte ja nur den Zeigefinger zu krümmen und zu winken, dann kamen sie wieder zu ihm, alle die Gestalten – ganz deutlich sah er sie noch auf dem Wege, sie und sich selbst.

Aber keine Zeit versäumen. Papier her zum Schreiben!

Er zog eine Schublade nach der andern heraus, er durchwühlte seine Habseligkeiten – ja, war er denn wirklich so arm, besaß er keinen einzigen Bogen Papier?

Dann fort und kaufen!

Er stülpte den Hut über und lief hinaus, die Stiege hinunter.


Freilich, an diesem Vormittage kam er nicht mehr zurück. Lustige Burschen griffen ihn auf und zerrten ihn von der Straße hinein ins Kommershaus. Nun ja, sie waren so freundlich mit ihm. Und später, am Nachmittag – je nun, am Nachmittage kam er auch noch nicht heim. Er mußte doch mit den andern hinaus ins Bierdorf ziehen und die große Rede anhören, die Professor Pieperich für die Befreiung vom Joch Bonapartes loslassen wollte. Ei, da durfte der Bierlupf nicht fehlen.

Aber morgen in aller Frühe wollte er Papier kaufen, viele Bogen Papier. Morgen, morgen wollte er schreiben.

*

517 Es war am späten Sonntagnachmittag. Gestiefelt und gespornt, über und über mit Staub bedeckt, wie er vom Ritt gekommen, stand Gerhard in seiner Bude und sah zum Fenster hinaus.

Auf den Dächern lag noch stiller Sonnenschein. Im Schatten der Häuser aber kehrten die Leute von draußen heim: Philister im Sonntagsrock mit den Kleinsten auf dem Arm; erhitzte Frauen und Mädchen mit Blumen; müde einherschleichende Kinder.

Auch Gerhard war erhitzt und müde wie ein Kind. Aber zu allem brannte etwas in seiner Brust, das kein Trunk dieses wilden Sonntags zu löschen vermocht hatte.

›Wie abgehetzte Hunde –!‹ sagte er plötzlich ganz laut vor sich hin und versank wieder in brütende Gedanken.

Was hast du denn gemeint, Gerhard? Abgehetzte Hunde? O ja. Nicht schlecht. Deine Gedanken haben dich verfolgt wie bissige Hunde. Nun sind sie stille geworden für eine Weile und liegen rings um dich her, keuchend, mit blutroten Zungen, wenden kein Auge von dir und werden dich wieder anfallen, wenn's an der Zeit ist. –

Helle Mädchenstimmen. Lichte Kleider. Frohes Geplauder und wortreiches Abschiednehmen gegenüber vor Professor Töbings Haustüre.

Der Bursche trat zurück und sah unverwandt hinunter auf das geliebte Mädchen. Und langsam schob sich's Ring an Ring heran und legte sich zwischen ihn und sie.

Warum hatte sie ihn verschmäht und warum – und warum – und warum –? Jawohl, warum –?

Er wandte sich ab und trat vor das Bild seines Vaters, das über dem Sofa hing. Es war ihm, als blickten ihn die hellen Augen zürnend an. Da wandte er sich auch vom Bilde des Vaters und murmelte: ›Ich möchte nur wissen, was dir das Recht gibt, so feindlich zu schauen?‹

518 Und wieder ging er ans Fenster. Da sah er neben Töbing einen kleinen Herrn stehen, der wie ein Geistlicher gekleidet war. Professor Töbing aber deutete mit der Hand herüber auf sein Fenster.

Dann tönte die Glocke durchs Haus. Schritte kamen die Stiege empor, und die schwarze Moral sagte: »Dritte Türe, bitte nur anzuklopfen, Herr Frey ist zu Hause.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe.« Der kleine, hagere Herr stand in der Bude, und Gerhard sah zwei dunkle Augen forschend auf sich gerichtet. »Herr Studiosus Frey?«

»Der bin ich.«

»Um Vergebung, aber ich muß Sie sprechen. Mein Name tut ja nichts zur Sache.«

»Bitte abzulegen und Platz zu nehmen,« sagte der Senior. Und er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.

Der grauhaarige Herr stellte seinen Regenschirm in die Ecke und legte seinen hohen Hut auf einen Stuhl, kam langsam heran, nahm die Brille von der Nase, zog ein blaues Tuch aus dem Rock und begann die Gläser zu putzen. Dann betrachtete er noch einmal durch die blanken Gläser wortlos den Studenten und setzte sich.

»Womit kann ich dienen?« brachte Gerhard heraus.

»Sie sind ein gewandter Reiter, mein lieber Herr.«

Gerhard stotterte: »Es geht so an.«

»O nein, Sie sind ein sehr gewandter Reiter. Ich kann das beurteilen; denn ich habe die edle Kunst in meinen jungen Jahren auch geübt.« Er kreuzte die Arme, lehnte sich zurück und sah zur verräucherten Decke empor. »Und wenn auch der Sprung etwas zu kurz war, hinübergekommen sind Sie ja doch – über den Hohlweg.«

»Wieso, mein Herr?«

Da faßte ihn der Geistliche wieder ins Auge und sagte freundlich: »Herr Studiosus, Sie wissen ja längst, was ich meine.«

519 Der Senior zuckte die Achseln und sah trotzig vor sich hin.

Der Geistliche aber legte die Hand vor seine Augen und begann: »Es war mir herzlich leid, daß das fromme Kind nicht einmal im Sarg zur Ruhe kommen sollte. Ist nämlich ein liebes, frommes Kind gewesen, Sie dürfen's glauben, Herr Studiosus, das fünfzehnjährige Annadorle. Unsereiner lernt seine Leute kennen, wenn sie dreißig, vierzig Wochen auf dem Strohsack liegen und dem Tod entgegenseufzen. An diese Beerdigung aber werde ich denken, so lange ich lebe. Ich hab's ja gesagt, der Sprung war zu kurz, und während Ihr Gaul sich vollends zum Rande emporarbeitete, wurden unsere Pferde scheu, der Wagen fiel um, der Sargdeckel sprang auf, und die kleine, abgezehrte Leiche rollte in den Sand. Das haben Sie ja nicht mehr gesehen, und so muß ich's Ihnen erzählen. Aber Sie werden mir recht geben: In solchem Zustand konnten und durften wir die Leiche nicht unter die Erde bringen. Deshalb trugen wir sie vorher noch in mein Haus, und meine Frau wusch das liebe Gesicht. Dann erst legten wir das Kind in sein Ruhebettlein.«

Er schwieg. Nach einer Weile nahm er die Hand von den Augen und fragte in gütigem Ton: »Was sagen Sie nun dazu?«

Gerhard saß totenbleich. Seine Lippen zitterten, seine Augen fuhren hin und her, sein Atem ging hörbar: »Zeigen Sie die Geschichte an! Ich habe Strafe verdient. Ich werde sie zu tragen wissen.«

Der Geistliche machte eine abwehrende Handbewegung, erhob sich und trat vor das Bild des alten Frey. »Wahrhaftig, ein ausgezeichnetes, ein sprechend ähnliches Porträt. Wie lange ist nun Ihr Herr Vater schon tot?«

»Seit anderthalb Jahren. Haben Sie meinen Vater gekannt?«

Der Fremde ging in die Fensternische. »Und wahrhaftig, 520 da steht auch noch, wie damals, das alte Pult. Darf ich den Deckel heben?«

»Hermann Frey,« las er halblaut. »Und nach ihm zehn, zwanzig, dreiundzwanzig Namen. Die Bude hat ihre Geschichte, Herr Studiosus.«

Gerhard trat neben das Pult.

»Stolze Burschen und langweilige Streber, Fromme und Gottlose, Gesunde und Kranke haben hier gewohnt, haben sich hernach in alle Welt zerstreut, sind zu Ehren gekommen, haben ein frühes Ende gefunden, haben ihre Geschlechter fortgepflanzt, sind einsam verdorben. Freundschaften sind geschlossen worden zwischen diesen vier Wänden, Feindschaften haben sich angesponnen. – Wird in der alten Kammer da draußen noch immer gefochten?«

Gerhard nickte.

»Gott ist versucht worden, und die größten Geister aller Zeiten sind zu Gaste gewesen unter dieser niederen Decke. Die Reue Verschollener schleicht noch zuweilen zurück in den Frieden dieses Hauses, und auch dankbare Erinnerung hat oft schon ihre unhörbaren Schritte hierher gelenkt. Einer von denen, die fast nur mit nassen Augen an diese Bude denken können, lebt heute noch draußen, irgendwo auf dem Lande, und segnet einen Frühverstorbenen, der ihn einst hier dem Leben wieder zurückgab.«

Der Fremde stand nun mit dem Rücken ans Fenster gelehnt, und sein graues Haupt schimmerte im Dämmerlichte des Abends. Mit leiser Stimme fuhr er fort: »Da, wo ich stehe, lehnte jener Student, dem Sie aus dem Angesichte geschnitten sind. Und da, wo Sie stehen, stand der andere, ein Theologe – ein Theologe freilich damals nur dem Namen nach. Der am Fenster aber war ein Mediziner, und einer, wie es nur wenige gegeben hat und geben mag. Der Theologe stand dort, wo Sie stehen, am Rande des Pultes, und es war ihm vor seinen 521 schwimmenden Augen, als wäre das Pult und der Mensch am Fenster das rettende Ufer. Und so griff er mit seiner letzten Kraft hinüber, bevor er in die Unehre versank, die sich vor ihm auftat. Herr Studiosus, es ist ganz einerlei, vor welcher Schande der Freund den Freund mit starkem Arm bewahrt hat – genug, er hat's getan, und zeitlebens muß man's ihm danken.«

Gerhard hatte die Hände geballt: »Es ist etwas Großes um einen Freund. Ich –.« Er wandte sich ab. »Ich – hatte auch einen Freund.«

»Und haben ihn nicht mehr?«

»Doch – er ist nur leider von hier fortgezogen.« Gerhard schwieg. Dann rief er zornig: »Jetzt aber habe ich gar keinen Freund, wenn sich's auch dieser und jener zur Ehre schätzt, sich meinen Bruder zu nennen.«

»Ich verstehe, Herr Studiosus, ich verstehe. Was sich so Freund nennt, ist wohlfeil wie Waldschwämme. Freunde zum Raufen, Freunde zum Saufen, Freunde zum Singen, Freunde zum Lumpen – Freunde in allen Ecken. Wenn aber dann das Unglück hereinblitzt – husch, hast du sie gesehen? Wie die Spatzen, wenn's knallt, sind sie fort. Herr Frey, es sollte mir lieb sein, wenn ich nun etwas von der alten Schuld zurückzahlen könnte, die der Theologe damals – wie sagt man doch in der Juristensprache? – in dieser Stube kontrahiert hat.«

Gerhard schwieg.

»Sie wissen also jetzt, warum ich zu Ihnen gekommen bin?«

»Sie haben mir's ja gesagt. Und ich antworte: Sühne muß sein.«

»Das hätten meine Bauern auch ohne mich bekommen können. Ein Milchmann, der alle Pferde dieser Stadt kennt, hat Ihren Gaul gesehen. Und dann ist das Übrige keine 522 Kunst mehr gewesen. Sie können sich nun denken, daß meine Bauern nach Rache dürsten. Mir aber ist Ihr Name ins Herz gefahren. Deshalb bin ich selber gekommen. Ich kann mir nämlich nur zweierlei denken: Wenn einer der Sohn des seligen Hermann Frey ist und trotzdem – Sie hatten doch das Kreuz gesehen? – gut also, wenn einer so 'was tut, dann ist er entweder ganz aus der Art geschlagen oder er ist – nehmen Sie mir's nicht übel – er ist desperat.«

Gerhard schwieg.

»Aus der Art sind Sie nicht geschlagen – also sind Sie desperat. Jawohl, Herr Frey, ganz desperat.« Er sah den Burschen durchdringend an.

Der Bursche schwieg und blickte ins Leere.

»Glauben Sie aber nicht, daß ich sie nun hochnotpeinlich auf Herz und Nieren prüfen werde. Da sei Gott vor. Der Mensch ist frei, und wenn er einen andern seines Vertrauens würdigt, so muß das in Freiheit geschehen.«

»Ich hab's im Übermute getan, Herr Pfarrer,« brachte Gerhard mühsam heraus.

»Im Übermute haben Sie's nicht getan, so wenig wie damals der Theologe im Übermute vor dem Mediziner gestanden ist.«

»Ich bin aufgeregt gewesen.«

»Lassen Sie's gut sein, Herr Studiosus. Zunächst müssen wir die leidige Geschichte aus der Welt bringen. Meine Bauern wollen Sühne – aber –.« Der kleine Herr richtete sich straff auf. »Ich will das anders, als diese wollen, und vorderhand gilt in meiner Pfarrei noch, was ich will.«

»Ich sollte den Bauern Abbitte leisten –?« Gerhard Frey war nun wieder der trotzige Senior, der die Blicke der ganzen Stadt auf sich gerichtet wußte – oder wähnte.

Der Geistliche aber schüttelte das Haupt: »Sie sollen mir nur unter vier Augen erklären, daß Ihnen der arge 523 Streich leid tut. Das will ich dann meinen Bauern sagen. Weiter verlange ich nichts.«

Mit niedergeschlagenen Augen stand Gerhard. »Sie beschämen mich bitter durch Ihre Güte. Das kann ich Ihnen versichern: von Herzen leid tut mir der schlechte Streich.«

»Das habe ich ja längst gesehen,« sagte der alte Herr, griff in die Rocktasche und legte ein Album auf das Pult.

»Ich werde mich selbstverständlich meinen Brüdern anzeigen,« begann Gerhard aufs neue. »Ich darf ja Ihnen gegenüber ganz offen sein. Sie wissen, daß die Gesellschaften auf unserer Hochschule unterdrückt sind. Aber ich bin als Franke erzogen. Und es wäre weit gefehlt, wollten Sie unsere herrlichen Farben von einstmals für mein Vergehen verantwortlich machen.«

»Die Farben sind gewiß nicht schuld daran, Herr Studiosus.«

»Auch die Gesetze, unter denen ich zum burschikosen Leben erzogen wurde –«

»Gesetze sind in den meisten Fällen vortrefflich, Herr Studiosus.«

»Und ich kenne viele, die auch nach diesen Gesetzen lebten und –.« Er stockte; dann setzte er leise hinzu: »Und heute noch streng leben nach diesen Gesetzen.«

Der Fremde nahm Hut und Schirm und ging zur Türe. Dort wandte er sich noch einmal und fragte: »Kennen Sie den zweiten Glaubensartikel?«

»Jawohl, aber seit meiner Konfirmation –«

»Jawohl, aber – ich kann mir's denken. Bis zu dem Worte ›begraben‹ – nicht wahr?«

»Das könnte wohl sein.«

»Ei, dann setzen Sie doch einmal das wichtige Wort in den alten Text –!«

»Welches Wort?«

»Niedergefahren in meine Hölle zu mir, auferstanden von den Toten mit mir, aufgefahren gen Himmel mit mir –! Dann wird alles klar für Zeit und Ewigkeit.«

Gerhard stand noch am Pulte. Und mit einem Reste des alten Trotzes brachte er mühsam heraus, daß er ja seinen bösen Streich von Herzen bereue – aber von einer Hölle in ihm könne denn doch keine Rede sein, von einer Hölle gewiß nicht.


Die Türe hatte sich längst geschlossen. Noch immer stand Gerhard am Pulte.

Er blätterte in dem Album und fand Verse von der Hand seines Vaters:

Schlürfe den Becher, sei unverzagt,
bis ihm die Hefe entsteigt.
Packe das Leben, wo dir's behagt,
ehe die Sonne sich neigt.
Alles ist dein, ist geschaffen zur Lust,
drück es mit Jauchzen an deine Brust.

Nur das eine bedenke, mein Sohn:
wie dein Leben, also dein Lohn.
Was du immer getan und versucht,
wird reihenweise mit Zahlen gebucht;
in Zahlen verwandeln sich Flüche und Segen,
und eilig treibst du dem Tag entgegen,
der dir gebietet – die Rechnung zu legen.

Die Hand des Burschen zitterte heftig, als er das Album im Pulte barg unter der langen Reihe der eingeschnittenen Namen.

*

Es war in der nächsten Nacht.

Der Mond stand hoch am Himmel, und fast unmerkbar bewegte sich der Widerschein des Fensters über den weißen Fußboden – vier helle Vierecke und ein dunkles Kreuz.

Im Hof schrie eine Katze, beim Nachbarn stampfte ein 525 Pferd. In der Ferne zogen singende Studenten. Dann war wieder alles ganz stille.

Wie er sich am frühen Abend in Kleidern hingeworfen hatte, so lag er auf seinem Bette.

Da knarrte nebenan in der Wohnstube ein Brett, und leise öffnete sich die Türe der Schlafkammer.

Graf Johann kam herein, nahm einen Stuhl und setzte sich an das Bett.

Gerhard lag auf dem Rücken, sein Mund war geöffnet, in wirrer Fülle umgaben die Locken das bleiche Antlitz, hörbar ging sein Atem. Er träumte wohl einen bösen Traum. Ein Zucken ging über seinen Mund, die Augenbrauen zogen sich finster zusammen, nun hob er die Hand und griff mit gespreizten Fingern in die Luft. Dann fiel die Hand kraftlos auf die Decke. Er stöhnte und begann zu lallen. Sein Gesicht verzerrte sich: »Aber – ich – will nicht!« Ganz laut hatte er das ›will nicht‹ gerufen. Jählings fuhr er in die Höhe und riß die Augen auf: »Du bist's? Schon Zeit?«

»Bleib nur liegen, es ist erst Mitternacht vorbei.«

»Dann leg auch du dich aufs Ohr,« murrte der Senior und warf sich zurück, daß die Bettstatt krachte, faltete die Hände unter seinem Kopf und starrte zur Decke empor.

»Kann nicht schlafen.«

»Und mußt doch morgen beim Zeug sein. Vor der Mensur schläft man – verstanden?«

»Die ganze Geschichte ist so blödsinnig,« sagte der Graf.

»Du mußt deine Ehre mit der Waffe reparieren. Ich dächte, das ist doch klar.«

»Und warum das? Was hat der Kerl mit meiner Ehre zu tun?«

»Aber du willst doch ein honoriger Bursch werden?«

»Glaubst du vielleicht – Gerhard, kann irgend ein Mißverständnis aufkommen, daß ich mich fürchte?«

526 »Ich glaub's nicht, weil ich dich kenne. Zu jedem andern freilich dürftest du nicht so sprechen.«

»Es ist mir widerlich, mit dem Hergelaufenen die Waffe zu kreuzen. Ich – möchte ihn lieber von meinem Reitknecht durchprügeln lassen.«

Der Senior hatte sich aufgerichtet und setzte sich auf den Bettrand: »Das ist ein Rückfall in den Feudalismus. Wer auf hohen Schulen lebt, der kann sich seine Beleidiger nicht immer unter Grafen und Baronen suchen.«

»Ich habe diesen Handel überhaupt nicht gesucht.«

Gerhard schlug die Augen nieder. »Auf hohen Schulen ist jeder honorige Bauernsohn fähig, mit dem Vornehmsten die Klinge zu kreuzen – verstanden? Und wenn das Blut des Bauern fließt, so ist es genau ebensoviel oder ebensowenig wert wie das des andern mit vierundsechzig Ahnen – verstanden? Und nun leg dich aufs Ohr, du bist übernächtig.«

»Gerhard –,« der Graf neigte sich vor – »du sekundierst mir?«

»Nein, ich nicht – ich bin nicht in der Verfassung.«

»Gerhard, du sekundierst mir, ich bitte dich –!«

»Aber was liegt denn dran, wer dir sekundiert? Ich habe nicht die nötige Ruhe. Der Stöpsel macht's besser.«

»Gerhard, ich beschwöre dich, du sekundierst mir! Ich erinnere dich an all die vergangene Zeit, ich erinnere dich an das Zimmer meiner Großmutter, wo wir noch im Röckchen gespielt haben. Weißt du, das große Gartenzimmer mit den hohen Fenstern, die bis auf den Fußboden herabreichen, das helle Gartenzimmer zu ebener Erde, vor dem der Park rauscht? Ich erinnere dich an unsere Konfirmation –«

»An das alles denk' ich jetzt gerade nicht gerne,« murrte Gerhard.

Der Graf stand auf und ging langsam zur Türe. Schon hielt er die Klinke in der Hand, da sagte er halbrückwärts 527 über die Schulter: »Ich sehe in milchigen Nebel und weiß, unter dem Nebel kriecht es heran. In allen Fasern spüre ich's und kann's nicht nennen. Das haben wir nun seit fünf Geschlechtern. Meine Großmutter hat's, mein Urgroßvater hat's gehabt – und so zurück, immer durch die Frauen herab auf mich. Hellsehen heißen's die Leute. Und du sekundierst mir, Gerhard, ich verlang' es von dir.«

»Wenn du's nicht anders willst, gut. Aber glaub mir, meine Hand wird nicht ruhig sein, und ich kann mich nicht auf mein Auge verlassen.«

»So verlasse ich mich auf beide,« sagte der Graf. »Oh, du glaubst gar nicht, wie sehr ich mich auf dich verlasse. Bin ich dir doch auch ins Gewissen gebunden. Ich weiß es wohl.« Ein kindliches Lächeln umspielte sein Antlitz: »Glaub aber sein ja nicht, daß ich mich fürchte!«


Gerhard fand den Schlaf nicht mehr. Regungslos lag er auf dem Rücken und starrte an die Decke. Ins Gewissen gebunden! Jawohl, er ist ihm ins Gewissen gebunden, der herzensgute Mensch.

Und seine Gedanken fielen ihn an wie reißende Wölfe.

Die Stunden krochen dahin, und es begann über den Dächern zu dämmern.

Seine Gedanken tobten.

So kam die fünfte Stunde heran. Ein milchiger Nebel erfüllte die Gasse.

Nebenan in der Wohnstube ging die schwarze Moral hin und wieder, deckte den Tisch, legte den Eßlöffel und das Brot darauf, ging an das Fenster und sah lange hinaus in den Nebel. Dann kam sie mit festen Schritten an Gerhards Türe und pochte.

»Lassen Sie sich nicht stören, Herr Frey. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie heute Ihre Morgensuppe selber in der 528 Küche holen möchten. Gedeckt ist. Ich muß zu einer Taufe über Land. Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Gerhard hatte sich aufgerichtet: »Gar nichts, Jungfer.«

»Danke. Und noch ein Wort. Es hat mich einen harten Kampf gekostet. Aber jetzt bin ich fertig mit mir. Das Andenken Ihres seligen Vaters soll Ihnen durch nichts getrübt sein. Durch nichts – hören Sie? Deshalb – ich lege da auf Ihren Tisch ein Blatt Papier. Lesen Sie's, sperren Sie's ein und geben Sie mir's heute abend zurück.«

Gerhard wartete, bis er ihre Schritte auf der Treppe hörte. Dann sprang er auf und ging in seine Bude. Da lag auf dem weißen Tischtuch ein vergilbtes Papier mit aufgedrucktem Siegel:

›Ich Endesunterzeichneter tue hiermit kund und zu wissen, daß die tugendsame Klara Großin bei letztvergangenem französischen Einfall, wie hierorts männiglich bekannt ist, mit Gefahr Leibes und Lebens die Ehefrau und zwei Kinder ihres Dienstherrn, des hiesigen gräflichen Leibmedici Herrn Hermann Frey, auf einen hohen Turm im Garten salviert und glücklich gerettet hat, selbst aber bei besagter Affaire den teuflischen Marodeurs in die Hände gefallen und mit Gewalt mißhandelt worden ist. Welches ich ihr auf demütiges Bitten zu fernerem Ausweis ihres Zustandes vor geistlichen und weltlichen Behörden mit meiner Unterschrift und beigedrucktem adeligem Siegel bezeuge.

Johann Friedrich Blitz von Wolkenfels,
gräflicher Kanzleidirektor manu propria.‹


Mit schlotternden Knieen ging Gerhard zurück in seine Schlafstube, warf sich auf sein Lager und zerwühlte die Kissen.

Aber es litt ihn nun nicht mehr im Bette. Er sprang auf. Er rannte hinunter auf die Gasse, hinein in den Nebel, ans andere Ende des Städtchens – zu Brocken.

529 Der Freiherr wohnte im Erdgeschosse. Die grünen Läden waren geschlossen. Aber Gerhard kannte ja den Griff, mit dem man den einen Laden von außen zu öffnen vermochte, und schwang sich durchs offene Fenster in die Schlafstube.

Er wartete nicht, wie vorhin der junge Graf, bescheiden am Bette, bis der Schläfer von selbst erwachte. Mit harter Hand packte er seine Schulter und rüttelte ihn.

Stöhnend fuhr Brocken empor.

»Ich – jawohl! Und du bist nun so gut und wirst schleunig munter – hörst du?«

Brocken saß völlig munter im Bett und zog den Mundwinkel zurück, daß die Zähne blinkten. »Brennt's?«

»Jawohl, Brocken, es brennt, und eine glühende Schlange zieht endlose, glühende Ringe durchs brennende Gras.«

»Bist du verrückt worden am hellichten Morgen?«

»Meinst du vielleicht, ich habe Lust, einen Ring in den andern zu legen und die ganze Kette mit mir durchs Leben zu schleppen?«

»Herr du meines Daseins!« Brocken saß nun auf dem Bettrande. »Er ist wahrhaftig verrückt.«

Gerhard stampfte: »Ich bin nicht verrückt, aber ich möcht's auch nicht werden. Denn ich habe die Schuld, wenn der Königsberger heute deinen Vetter ersticht.«

»Ach so – jetzt begreif' ich, der Fuchs hat's mit der Angst gekriegt,« sagte Brocken und griff nach seiner Hose.

Gerhard stampfte. »Dein Vetter wird sich ohne Weigerung schlagen; er ist überhaupt ein vortrefflicher Mensch.«

»Zweifle ja gar nicht daran,« sagte Brocken, fuhr in die Hose, griff nach seiner Sackuhr und zog sie auf. »Das hättest du mir aber auch ein andermal sagen können und nicht des Morgens um halb sechs Uhr.«

»Höre mich, Brocken! Ich muß es verhindern. Ich werde mich an seiner Stelle mit dem Königsberger schlagen.«

530 »Ist mein Vetter über Nacht lahm geworden – oder was ist ihm sonst zugestoßen?«

»Es ist ihm nichts zugestoßen, und er hat keine Ahnung von dem, was ich dir sage.«

»Also bist du dennoch verrückt,« entschied Brocken.

»Wenn's nicht auf diese Weise geht, dann muß es anders gemacht werden. Du steigst diesem Königsberger sofort auf die Bude und brummst ihm in meinem Namen einen Hundsfott auf!«

Brocken fuhr mit der flachen Hand über seine Stirne: »Bist nun du der Frankensenior Gerhard Frey, oder wer bist du denn eigentlich?«

»Brocken, hab doch Erbarmen! Ich glaube, ich bin verflucht. Wo ich hinrühre, fließt Blut.«

Der Baron ging an seinen Kleiderschrank, holte eine Flasche heraus, nahm das große Glas von seinem Waschtisch und goß es zur Hälfte voll: »Sauf's Bruder, der Schnaps wird dich aufrichten.«

»Fort damit! Ich muß doch ein leidlich sicheres Auge haben, wenn ich dem Grafen sekundieren soll.«

»Sekundieren? Das lautet schon vernünftiger.« Brocken goß das Glas bis an den Rand voll und schüttete es hinunter. »Du hast vorhin so über alle Maßen kommentwidrig dahergeredet, daß mir ganz anders geworden ist.«

»Brocken, aber wir sind doch in letzter Linie die Herren des Komments.«

»Doch nicht so ganz, mein Lieber.«

»Und wer kann uns etwas anhaben, wenn wir einmal gegen diesen verfluchten Komment handeln?«

»Dazu wirst du mich niemals gewinnen. Mein Vetter muß mit dem Königsberger antreten, sonst kommt er in den Verschiß. Nur in einem einzigen Fall unterbleibt die 531 Mensur – wenn wir nachweisen können, daß der Königsberger nicht satisfaktionsfähig ist. Können wir das?«

Gerhard schwieg.

»Aber mir dünkt, du bist desperat,« sagte Brocken.

»Das könnte wohl sein,« knirschte Gerhard. »Und durch wen denn? Durch dich – bin ich so weit gekommen, durch dich und durch keinen andern.«

»Geh heim, Frey, und schlaf noch ein Stündchen,« höhnte Brocken mit verzerrtem Gesicht. »Du stehst jetzt genau so vor mir, wie damals der Bierlupf vor Alzibiades.«

»Das mag sein,« sagte Gerhard. »Und ich weiß jetzt auch, wie man auf hohen Schulen zur Jammergestalt wird.«

*

Noch immer lag dicker Nebel auf Stadt und Land.

Draußen im Bierdorf gackerten die Hühner, krähten die Hähne, und mit Knarren öffnete sich ein Scheunentor. Der Bierlupf schob sich heraus.

Er war barhäuptig, schlaff hingen die fahlen Wangen herab, versoffen blinzelten die Äuglein, und mit Gähnen begrüßte er den Tag. Dann schloß er das Scheunentor.

Da drückte einer von innen dagegen, wieder knarrten die Angeln, und ein zweiter Student kam zum Vorschein.

Sie standen einander gegenüber, sie blinzelten einander an. Heuhalme hingen an ihren Kleidern, Heuhalme staken in ihren wirren Haaren.

»Sie auch hier?« fragte der Bierlupf nicht ohne Verwunderung.

»Hatten Sie vielleicht diese Scheune in Erbpacht?« kam die grämliche Antwort zurück.

»Ich denke, sie bietet Raum für viele,« sagte der Bierlupf begütigend und wandte sich ab.

»Mir ist miserabel,« brummte der andere, steckte die Hände in die Hosentaschen und trollte hinter dem alten 532 Menschen hinüber in den Wirtsgarten. »Was tut man da?«

»Weiter trinken,« riet der Bierlupf und strebte zum nächsten Tisch, jagte die Hühner herab und ließ sich schwer auf die Bank sinken. »Den Teufel mit Beelzebub austreiben!«

Der Hausknecht brachte zwei volle Krüge, und die beiden, der Bierlupf und der norddeutsche Theologe, tranken einander zu.

»Schal,« murrte der Theologe.

Der Bierlupf äußerte nichts. Er blickte trübselig vor sich hin. Träge flossen seine Gedanken: Was war das doch gestern früh so schön gewesen. Und jetzt? Ach Gott! Und er würde sich nie mehr aus seiner Schwachheit emporringen, nie mehr, das wußte er wohl.

Tiefer sank sein schweres Haupt, und langsam rollten zwei Tränen über seine fahlen Wangen. ›Nie mehr,‹ sagte er halblaut.

Der andere hatte sich zurückgelehnt. Er war ein junger Kerl, voll Kraft. Dem tat ein Rausch nicht viel. Er nahm noch einen tiefen Schluck und sah nun schon frischer in das Blätterdach, in den Nebel empor. Und auf einmal sagte er ganz laut: »Hören Sie, alter Herr, so wird's meines Vaters Sohn nicht oft treiben auf dieser hohen Schule. Wie könnt' ich denn da viel studieren? Ha – und ist mir doch« – er lachte vor sich hin –»so bitter not, das Studieren.«

Der Bierlupf rührte sich nicht, saß mit hochgezogenen Schultern und starrte auf die Erde.

Der andere kehrte sich nicht daran und plauderte zu seinem eigenen Vergnügen weiter: Was doch dieser – wie heißt er gleich? – dieser Professor Pieperich für ein deutscher Mann sei; wie prachtvoll habe er gesprochen; mindestens zwanzig oder dreißig Burschen aus den drei Gesellschaften 533 würden in den Krieg ziehen. Fast hätte er selber Lust bekommen. Aber er müsse ja doch studieren.

Der Bierlupf schwieg, und der andere sprach weiter. Da hob der Bierlupf plötzlich den Kopf und richtete die Äuglein fragend auf ihn: »Wie haben Sie das gemeint?«

»So wie ich's gesagt habe.«

»Der lange Königsberger – wie haben Sie doch gesagt?« fragte der Bierlupf dringend.

»Mich wundert's, daß die Preußen mit dem langen Königsberger kommersieren. Daß der nichts Honoriges ist, sieht ihm doch jeder schon an der Nasenspitze an. Mir kann's ja gleich sein. Geschieht ihnen gerade recht. Freilich, den Franken tät' ich's schon sagen. Aber den Preußen? Pah, was gehen mich die an? Kommersiere ich doch nicht mit ihnen.« Er schnalzte mit den Fingern.

Die Stirne des alten Menschen hatte sich in Falten gezogen. Er dachte angestrengt nach. Dann begann er aufs neue: »Ist Ihnen etwas Nachteiliges über diesen Studenten bekannt?«

»Natürlich,« sagte der Theologe leichthin. »Würde mich hüten, ins Blaue hinein den gefährlichen Menschen zu denunzieren. Aber was heißt da gefährlich? Ein Wörtlein kann ihn fällen, so steht's wohl im Liede.«

Der Bierlupf war lebendig geworden. »So sagen Sie das Wörtlein!«

»Mit dem braucht sich kein honoriger Bursche mehr einzulassen,« sagte der Theologe verächtlich. »Der hat ja doch in Königsberg einem Bruder aus der eigenen Gesellschaft das Spind erbrochen und hundert Taler oder mehr gestohlen.«

Der Bierlupf saß wieder mit gesenktem Haupte und dachte nach, dachte angestrengt nach. Jawohl, so war's. Er hob die Linke und zählte an den Fingern ab. Jawohl, 534 da war kein Zweifel: heute mußte der Graf mit dem langen Königsberger auf die Mensur treten.

Der Bierlupf zog die Sackuhr: »Herr meines Lebens – es ist halb sieben Uhr.«

Er stand auf.

Er suchte in den Westentaschen, er fuhr in die Hosentaschen, in die Rocktaschen. Mit kläglichem Gesicht stand er da. »Möchten Sie wohl die Güte haben, und mein Bier bezahlen?«

Er wartete die Antwort nicht ab. Er war schon draußen vor dem Garten. Nun hieß es laufen. Dreiviertel Stunden sind's zum Gehen. In einer halben Stunde muß er's laufen. Vorwärts! Es gilt vielleicht ein Menschenleben. Und der Fuchs ist doch immer so freundlich gewesen mit ihm.

Und er trollte, trollte im Trab auf der Landstraße dahin.

Das Trablaufen ist eine beschwerliche Art der Fortbewegung für solch einen alten, dicken Menschen. O wie das Herz schlägt! Es pocht und schlägt warnend gegen den närrischen Willen – es schlägt wie mit dem Hammer dagegen; denn es wehrt sich. Aber es wehrt sich vergebens. Der Wille ist stark, und der starke Wille befiehlt den Beinen, daß sie laufen – laufen – laufen. Der Atem geht keuchend, das Herz schlägt empor bis in den Hals, es hämmert hinein in den Kopf. So – nun aber – nun geht's – wirklich – nimmer. Halt! Verschnaufen. Nein, stehen bleiben gibt's nicht, weitergehen. Abwechseln zwischen Gehen und Laufen. So – nun – wieder – Trab, alter Gaul!

Und also trollt der Bierlupf über Berg und Tal. Oh, wie stark ist sein Wille! Oh, immer nur ein Teilchen dieser Willenskraft, es hätte genügt zum zielbewußten Marsch auf einer langen Lebensstraße.

Er ist aber trotzdem kein Rennpferd, er ist nicht einmal ein Karrengaul. Er ist nur ein alter, abgelebter Student. Und 535 er kann auch zuletzt gar nimmer Trab laufen. Wankend kommt er ans Tor der Stadt, dunkelblau ist sein Gesicht. Aber vorwärts, es gilt vielleicht ein Menschenleben – und der Fuchs, der Fuchs ist doch immer so freundlich mit ihm gewesen.

Er hatte sich etwas ausgedacht: Zunächst von allen Franken wohnte der Freiherr von Brocken. Zu dem wollte er laufen, der mußte dann alles andere besorgen. Der konnte das Unglück verhüten. Der war ja der Vetter des Grafen. Also vorwärts – immer vorwärts!

Da traf's ihn wie ein dumpfer Schlag, als er dachte – am Ende ist der Baron gar nimmer zu Hause. Gassenjungen riefen ihm nach. Man hielt ihn für betrunken. O nein, er war nicht betrunken. Er hatte noch nie so klar gewußt, was er wollte.

Dort, dort! Das dritte Haus vom Tore, das mit den grünen Fensterläden und dem Holzschilde des Strumpfwirkers, dort wohnte Brocken zu ebener Erde.

Mit der Faust schlug der Bierlupf an den Fensterladen. Herrgott, der Brocken war zu Hause! Der Laden wurde aufgerissen, und ein zorniges Gesicht fuhr heraus.

Keuchend sagte der alte Mensch ein paar Worte, hart vor dem zornigen Gesicht des andern. Da wich der Zorn aus den verzerrten Zügen, und mit großen Augen, nachdenklich blickte der Freiherr.

Alles hatte er verstanden. Der Königsberger war nicht satisfaktionsfähig, sein Vetter mußte nicht – nein, durfte nicht mit ihm antreten. Er riß die Sackuhr heraus. Noch war's Zeit. Ganz gut war's Zeit.

Der Bierlupf wollte noch etwas sagen. Vielleicht wollte er sagen, spute dich doch! Aber das konnte er nicht mehr. Sein Herz behielt recht. Warum war er auch so tyrannisch gewesen gegen das arme Herz? Er krallte mit den Fingern 536 in die Luft, und ein gurgelnder Laut kam aus der keuchenden Brust. Dann brach er zusammen.

Da lag er nun auf dem Pflaster.

Aber wie heißt's doch in der heiligen Schrift? So heißt's: Eine größere Liebe hat niemand, denn daß er sein Leben lasse für seine Brüder. –

Der Freiherr von Brocken rannte auf die Straße und bemühte sich sehr um den Bewußtlosen. Mit etlichen Nachbarn trug er den schweren Menschen in seine Bude, legte ihn auf sein eigenes Bett. Alles vergeblich. Der Bierlupf war tot.

Trotzdem rannte der Freiherr in eigener Person zu einem Arzte. Die Leute sagten, das hätten sie von dem hochmütigen Herrn gar nicht erwartet. Und er wich dann auch den ganzen Vormittag nicht von seiner Leiche. Es war, als hoffte er, sie erwecken zu können.

*

Durch den Morgennebel kam ein Mann vor Gerhards Haus und verschwand in der Türe. Die alte Stiege, die alten Bretter im Gange knarrten. Der Bursche Stöpsel stand in der Bude des Seniors.

»Mir scheint, ich bin der Erste?« Er trat vor, legte sich mit seinem Ziegenhainer aus, stieß etliche Male in die Luft und sagte: »Wollen sehen, wie sich das Füchslein rauft. Der Königsberger soll nämlich ein verteufelter Fechter sein.«

»Stöpsel, du mußt dem Grafen sekundieren. Mir paßt's heute nicht; ich werde noch einmal mit ihm reden.«

»Mir auch recht,« sagte der andere gleichgültig und stieß in die Luft.

Gerhard ging ins erste Stockwerk hinunter, an die Türe des Grafen. Gedämpftes Saitenspiel tönte aus dem Zimmer. Es war die Weise des alten Chorals: Befiehl du deine Wege –.

Gerhard stand still und biß die Zähne aufeinander.

Als das Spiel zu Ende war, trat er ein.

537 Der Graf lehnte am Fenster, neben seinem Schreibtisch, und hatte die Zupfgeige im Arm. Auf dem Tische brannte eine Kerze, und es roch nach angebranntem Siegellack.

»Hast du noch schlafen können, Johann?«

Der Graf gab ihm die Hand: »Schlafen können? Je nun! Aber ich bin so frisch, als hätte ich die ganze Nacht geschlafen. Und gelt, Gerhard, die Briefe besorgst du mir nachher?«

»Die Briefe?« Gerhard versuchte zu lächeln. »Die Briefe verbrennst du nachher, mein Lieber. Aber nun noch einmal – ich habe zwei Tage gesoffen und gelumpt und kann und darf dir heute nicht sekundieren. Der Stöpsel –«

Der Graf blies die Kerze aus. »Ich will den Stöpsel nicht. Und ich habe dein Wort.«

»Das hast du freilich. Aber ich bitte dich um deinetwillen, gib mir's zurück.«

»Du sekundierst mir!« Der Fuchs hatte es in seltsam herrischem Tone herausgestoßen, und der Senior schwieg.

»Ist es nun an der Zeit, Gerhard?«

»Ich denke, wir können gehen.«

»In Gottes Namen!« Der Graf schritt zur Türe.

Von draußen kam leises Miauen. »Ei, die Mimi!« Der Graf öffnete die Türe, und miauend, mit gekrümmtem Buckel, sprang die kleine Katze herein und rieb sich an seinen Beinen.

»Komm, Mimi, komm!« Der Graf ging an den Tisch, goß eine Tasse voll Milch und stellte sie auf den Boden. Zögernd kam das Kätzlein und begann hörbar zu lecken.

Gerhard hatte mit finstern Blicken hinübergesehen. »Komm, es ist Zeit!«

»Gerhard –« der Graf reckte sich hochauf – »jetzt freu' ich mich auf den Kampf. Komm', was da kommen mag. Ich habe diesen Streit nicht gesucht, und meine Sache ist gerecht. Vorwärts!«


538 In Gerhards Wohnstube war ein halbes Dutzend Studenten versammelt – zwei standen beim Pult am Fenster, vier in der Ecke am Ofen.

Halblaut wurden die Grüße gewechselt. Vom Fenster kam Stöpsel heran und fragte den Senior mit den Augen. Der deutete wortlos auf sich.

Wieder knarrte die Stiege, und der lange Königsberger trat herein – mit dem Hut auf dem Kopf, gestiefelt und gespornt.

Der Graf hob das Haupt und ging ans Fenster.

Zwei Frankenfüchse in weiten Mänteln kamen herein, warfen die Mäntel aufs Sofa und schnallten die breiten Bauchgurte ab.

Ein älterer Student trat an den Tisch, öffnete eine Ledertasche und legte sein Besteck zurecht. Gerhard brachte das Waschbecken und den gefüllten Krug aus der Schlafstube.

»Ich denke, wir können beginnen,« sagte einer von den Preußen. »Sind die Wachen ausgestellt?«

Ein Franke antwortete: »Der Legel steht vor dem Haus, ein zweiter am obern, ein dritter am untern Ende der Gasse.«

Die Gegner hatten die Röcke, Westen und Hosenträger abgeworfen, und die Sekundanten schnallten ihnen die ledernen Bauchgurte um und schützten ihre Hälse durch die hohen Kravatten.

»Ich denke, wir werden bald fertig sein,« sagte der Königsberger, »Aber halt, noch einen Augenblick – wo steckt meine Pfeife?«

Ein diensteifriger Preußenfuchs zog die Pfeife aus dem Rock des Königsbergers.

»Tu mir den Gefallen, leg mir die Pfeife auf den Tisch und sorg mir für Tobak. Ich muß nämlich immer gleich nachher meine Pfeife rauchen.«

539 »Wie führt sich denn dieser Kerl auf?« raunte Gerhard an Stöpsels Ohr.

Der verzog das Gesicht und flüsterte: »Wie ein Bandit.«

»Vorwärts, Ihr Herren!«

Gerhard ging voran. Die beiden Gegner, der zweite Sekundant und der Arzt folgten ihm durch die Schlafstube hinaus in die Fechtkammer. Der Unparteiische nahm ein paar Fidibusse vom Tisch und ging den andern nach.

Gerhard hob eine Diele und holte die Waffen heraus. Der Gegensekundant trat mit einem Zollstab heran und nahm das Maß der Klingen. »Achtunddreißig Zoll rheinisch,« sagte er zweimal. Dann ergriff Gerhard den Stab und maß die Stichblätter. »Neun Zoll, alles in Ordnung.«

Die Sekundanten traten einander gegenüber und legten sich soweit aus, daß die Stichblätter zusammenstießen.

»Kreide!« befahl der Unparteiische, und einer lief zurück in die Wohnstube.

Es war keine Kreide zur Hand.

Suchend fuhren die Augen des Unparteiischen umher. Dann hob er seinen Ziegenhainer und stieß gegen die Decke der Kammer. Ein paar Stücke Mörtel fielen herunter. »Man muß sich zu helfen wissen,« sagte er, bückte sich und zog hinter dem linken, zurückstehenden Fuße des Preußen-Sekundanten in gleicher Richtung mit der einen Fensterwand einen Strich.

Gerhard wich langsam einen halben Schritt zurück.

»Herr Unparteiischer, ich protestiere. Die Stichblätter müssen zusammenstoßen. Mein Paukant wünscht nicht Komödie zu spielen,« rief der Preuße.

Murrend ging Gerhard den halben Schritt wieder vor. Der Unparteiische aber lief und zog hinter seinem linken Fuße den zweiten Strich.

Die Sekundanten traten ab und reichten den Gegnern die Rapiere.

540 Der Unparteiische teilte den sechzehn Schuh breiten Raum zwischen den beiden Strichen durch zwei neue Striche in drei gleiche Teile und rief: »Die Mensur ist gezogen.« Dann wich er zur Seite.

Mit den Rapieren in den behandschuhten Fäusten traten die Gegner an; jeder von ihnen hatte ein Fenster im Rücken.

Da ertönte leises Miauen. Die weiße Katze kam im Galopp durch die Schlafkammer herein, machte einen hohen Rücken und rieb sich am Stiefel des Grafen. Der Arzt trug das Tierchen hinaus.

»Auf die Mensur!«

Mit gesenkten Rapieren, die Köpfe mit Hüten bedeckt, standen die Gegner. Eines jeden linker Fuß berührte den weißen Außenstrich. Jedem zur Rechten hielt der Sekundant mit dem Knotenstock.

»Leg dich aus!« rief Gerhard dem Königsberger zu.

Mit gestreckten Rapieren standen nun die Gegner. Der Preußen-Sekundant legte seinen Knotenstock über die Klingen. Gerhard hielt den seinigen unter die Klingen.

Totenstille war's. Dann rief der Sekundant des Beleidigers herüber: »Stoß aus!«

Die Stöcke fuhren zurück, der Graf fiel weit aus, der andere ein wenig, die Klingen klirrten, der Boden dröhnte vom Stampfen der Füße. Seitwärts, weit ausgelegt, mit vorgehaltenen Ziegenhainern lauerten die Sekundanten.

»Halt!« rief Gerhard. Und wie gebannt hielten die Gegner. Der Unparteiische aber brach das erste Stückchen vom Fidibus, warf es zu Boden und trat darauf.

Unhörbar für die andern raunte Gerhard am Ohre des Grafen: »Nicht so hitzig! Dein Gegner steht kalt wie ein Schneemann.«

Er wich zurück. Der Gegensekundant rief: »Leg dich 541 aus!« Gerhard antwortete: »Stoß aus!« Und wieder klirrten die Waffen. Da rief eine laute Stimme: »Halt!«

Im Nu fuhren die Ziegenhainer der Sekundanten zwischen die Fechter.

»Warum halt?« fragte der Preußen-Sekundant.

»Ich bitte um Pause,« sagte der Graf.

»Herr Unparteiischer, mein Gegner hat auf der Mensur gesprochen,« rief der Preuße.

»Der Paukant spricht nur im Notfall,« erklärte der Unparteiische.

»Ich habe Not,« sagte der Graf mit fester Stimme.

»Aber so erkläre dich doch!« raunte Gerhard.

»Da hob der Graf sein Rapier und wies mit der Spitze über den Königsberger gegen die Wand. »Tut mir das Bild weg!«

Alle wandten sich. Keiner hatte das Bild beachtet, das groß und vergilbt, ein uralter Holzschnitt, auf einen Pappdeckel geklebt, hellbeleuchtet an der Wand hing: Christi königliches Haupt mit der Dornenkrone auf dem Schweißtuch der Veronika.

»Tut mir das Bild weg!« rief der Graf zum zweiten Male. Und es klang so verzweifelt, daß keiner von allen zu lächeln wagte.

Das Bild ward abgenommen und hinausgetragen.

»Leg dich aus!« rief Gerhard. »Stoß aus!« rief der Preuße. Und der Boden dröhnte vom Stampfen der Füße.

Drei Holzstückchen hatte der Unparteiische vom Fidibus gebrochen, und im vierten Gang klirrten die Rapiere.

Der Graf keuchte und stieß wild auf den Gegner. Der aber stand, als stünde er auf dem Fechtboden, hatte das Gesicht spöttisch verzogen, fiel dann und wann ein wenig aus und wehrte die Stöße des Grafen ab, als hätte er einen Mückenpatscher in der Faust. Wilder und wilder stieß 542 der Graf. Gerhard aber blickte dem andern unverwandt ins stechende Auge. Da – jetzt kam's: Der Graf stieß eine Quarte de travers, der andere parierte und fiel mit einer Sekonde blitzschnell und weit aus. Aber schon sauste zugleich Gerhards Ziegenhainer von unten herauf und schlug ihm das Rapier gegen die Stubendecke.

»Halt!« brüllte der Preußen-Sekundant. Der Königsberger aber verzog sein Gesicht zur Grimasse.

»Vor seinen Sekonden nimm dich in acht!« flüsterte Gerhard am Ohre des keuchenden Grafen.

Wieder klirrten die Rapiere, wieder stieß der Graf dreimal, ehe der andere einmal zum Schein ausfiel, und wieder stieß er seine Quarte de travers.

»Halt!« brüllte Gerhard. Aber im selben Augenblick schnellte die Sekonde des andern wie eine Viper heraus.

»Nachstoß, Herr Unparteiischer!« brüllte Gerhard.

»Habe nichts gesehen,« kam die Antwort zurück. Und wieder fiel ein Stück vom Fidibus auf die Bretter.

Der Königsberger stand regungslos. Er hatte das Rapier gesenkt und betrachtete angelegentlich die Spitze der Klinge. Dann warf er einen Blick auf seinen Gegner und sagte hörbar: »Jetzt hat's aber gekracht.«

»Bist du getroffen?« fragte Gerhard den Grafen.

»Ich glaube fast,« hauchte dieser. Da klirrte auch schon seine Waffe auf den Boden. Er griff an seine Brust und schwankte. Gerhard umfing ihn. Der Arzt sprang herzu. Der Graf sank in die Kniee: »Herr Jesus!«

»Der kann dir jetzt auch nimmer helfen,« sagte der Königsberger und ging mit langen Schritten hinaus.

»Nun –?« fragte einer von den Füchsen in der Wohnstube, und die andern drängten sich herzu.

»Was weiß ich?« antwortete der Königsberger und fuhr in seinen Rock. »Ich weiß nur, gegen meine Sekonde 543 ist noch kein Kräutlein gewachsen. Meine Pfeife will ich aber doch lieber nicht mehr anzünden; die rauch' ich kalt auf dem Wege. Denn jetzt muß das in Eile gehen – soviel weiß ich, meine Herren.«

*

Wie festgebannt lag der milchige Nebel weithin über Berg und Tal.

Er war auch ausgebreitet über dem fernen Städtlein und über dem Grafenschlosse auf seinem Felsen. Nur der Turmhelm der Pfarrkirche und der Zinnenkranz des Bergfrieds sahen aus dem regungslosen Nebelmeer goldglänzend zum blauen Himmel empor.

Die Gräfin-Witwe saß in dem Gartenzimmer, dessen hohe Fenster bis nahe an den Fußboden herabreichten.

Sie saß am Frühstückstische, und im silbernen Kännchen stand die Schokolade vor ihr, auf vergoldetem Porzellan lag der Kuchen – alles an seinem gewohnten Platze. Sie hatte die Brille vor den Augen und las in ihrer abgegriffenen Bibel.

Ein greiser Diener kam auf leisen Sohlen und hielt ihr das silberne Brett hin. Sie nahm die Briefe, legte sie neben sich und las weiter in ihrem Buche.

Da war's ihr, als müsse sie emporsehen. Sie blickte über das Tischlein hinaus auf die Terrasse, hinter der die hohen Bäume des Parkes verschwommen im Nebel ragten.

›Um Gott!‹ murmelte sie, nahm die Brille ab, sah noch einmal scharf hinüber und sagte: ›Du – Johann –?‹

Aber es kam keine Antwort zurück.

Die Uhr auf der Kommode tickte überlaut, und matt schimmerte das Silber des Tischzeuges in dem zerstreuten Lichte des nebeligen Morgens. Mit entsetzten Augen sah die Greisin hinaus auf die Terrasse. Zitternd griffen ihre Hände nach den Armlehnen des Stuhles, sie murmelte, sie 544 versuchte sich zu erheben, aber kraftlos sank sie zurück. Nur die Augen taten ihre Pflicht, große, runde, starre Augen.

Endlich brachte sie hervor: ›Wie – siehst – denn du aus?‹

Er stand mit schmerzverzerrtem Antlitz vor der Glastüre und hatte die eine Hand auf die Brust gelegt. Die andere Hand aber griff in die Luft. Er ging zwei, drei Schritte zurück und versank im Nebel.

Jetzt reckte sich die alte Frau. Sie stand auf, wankte zur Türe und riß am Glockenzuge. Der Diener stürzte herein.

»Suchen – alle sollen suchen, draußen im Park ist er – hörst du nicht?« Sie sank auf einen Stuhl. »Hinaus – alle hinaus –!«

Da ward ein Rennen und Laufen im weiten Schlosse. Alle suchten – sie suchten auf den Wegen des Parkes, sie suchten tiefhinein in die Wälder.


Der Nebel sank. Die Sonne leuchtete über dem Lande. Die Bäume tropften. Man hatte vergeblich gesucht.

Der Graf und die Gräfin saßen im hellen, im sonnendurchfluteten Gartenzimmer zur Rechten und Linken der Greisin.

»Vielleicht haben Sie doch nur übel geträumt, gnädige Frau Mama?« sagte der Sohn.

»Laß du satteln und reite, was du reiten kannst; dein Sohn ist in Lebensgefahr.« 545

 


 


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