August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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4. Les citoyens

Tag war's, ein wundervoller, taufrischer Sommertag. Von fernher auf der Straße schien eine langgestreckte Staubwolke zu wandern. Sie wanderte, wie sie gestern gewandert war und ehegestern und manche Tage her, hügelauf, hügelab. Zwischen Stoppelfeldern und Wiesen, über Heideland und im Schatten der Bäume.

In dieser Wolke dröhnten Schritte, klirrten Waffen, rasselten und ächzten Wagen, klapperten Hufe. Und Menschen und Tiere waren gebannt in die Wolke, die mit ihnen zu wandern schien und sich doch unter jeder Stiefelsohle und jedem Huftritt immer wieder von neuem erhob.

Weit hinten, gegen Westen zu, hinter dem großen Walde, liegt das erste Dorf der Grafschaft im breiten, sonnigen Tale. Aber das Dorf ist öd und verlassen. Und hoch darüber am Saume des Waldes, unsichtbar von unten, sitzen und stehen Flüchtlinge und spähen hernieder auf die wandernde Wolke im Tale.

Ihr dummen Bauern, wißt ihr denn nicht, daß die da drunten die Freiheit bringen? Du steinalter Mann dort an der Eiche, hörst du denn nicht? – die Freiheit, die Erlösung aus der Knechtschaft, die Rettung aus der bösen Dreiheit Zehent, Gült und Fron!

Er hat's gar wohl gehört, seit Wochen schon, aber er preßt die schmalen Lippen aufeinander und schüttelt das kahle Haupt. Weit über Menschengedenken zieht die Straße durchs Tal, und er weiß es und hat's erzählen hören von den Alten seiner eigenen Jugend: Diese Straße sind schon viele gelaufen, geritten, gefahren – aber die Freiheit hat 77 noch keiner gebracht. Warum sollte sie just heute kommen, am 12. August des Jahres nach Christi Geburt 1796?

Dumme Bauern – da habt ihr's nun. Die große Wolke wandert weiter; sie kann ja nicht verweilen, sie muß die Freiheit bringen. Aber dort mitten im Dorfe hat sie eine kleine, schwarzgraue Wolke zurückgelassen. Guck scharf hinunter, du Steinalter, steht sie nicht gerade über deinem Hof und wächst sie nicht von Minute zu Minute und ragt sie nicht jetzt wie eine Säule in die unbewegte, in die flimmernde Luft?

Du Tor von einem Bauern, warum bist du mit deinen Kindern und Kindeskindern in die Wälder entwichen? Wärest du drunten geblieben, hättest du der großen Wolke entgegengeschaut, hättest du vor deine Haustüre getragen, was Keller und Rauchfang vermochten – dann hätten hundert braune Hände aus der großen Wolke gegriffen, und auf schwankenden Bajonetten schwebten jetzt Schinken und Würste – aber die dunkelgraue Rauchsäule, an deren Fuße die Flammen emporlodern, die stünde nicht über deiner Hütte.

Sie warten noch immer hoch droben im Wald und spähen angstvoll zwischen dem Unterholz hernieder, und die Weiber beginnen zu weinen; denn die Ernte ist unter Dach. Abseits an einer Fichte aber stehen die Jungfrauen, alle auf einem Häuflein, eng aneinander gedrängt. Auch sie starren hinunter auf den brennenden Hof, und keine von ihnen sagt ein Wort. Nur zuweilen schaut eine hinüber zu den Alten, scheu, als wären die Alten nur ihretwegen geflohen, als wären die Jungfern allein schuld an dem Jammer.

Ihr Bauern, was braucht ihr euch zu verstecken? Da sind doch die Städter gescheiter. Die wissen auch, daß die Wolke herankommt, die große, aus der die Schritte dröhnen, die Waffen klirren, die Gewehrläufe funkeln. Und sie können's gar nicht erwarten, bis sie aus den Wäldern herausquillt und links vom Grafenschlosse sich herabsenkt ins Tal.

78 »Auf, ihr Bürger!« So ruft der lange Koram mitten auf dem Markte und schwenkt seine rote Mütze. Und sie ziehen hinaus durchs Bergtor, Männer, Weiber, Buben, Mägdlein, und ihrer viele tragen frisch gewundene Kränze.

Auf der halben Höhe des Schloßberges meint freilich einer, die Weiber und die Kinder die sollten nicht dabei sein, man höre doch allerlei. Der Koram lacht ihn aus. Aber andere sind auch bedenklich geworden – man hört doch allerlei! Zuletzt rufen etliche halt, und der ganze Haufen steht im Staub der Straße. Und einer ruft aus dem Staube, man kennt ihn an der Stimme, der Seiler Christoph ist's: »Die Weibsbilder und die Kinder sollen machen, daß sie heimkommen!«

Es erhebt sich zwar ein Geschrei, in dem die hohen Töne vorherrschen. Alle möchten sie gerne dabei sein. Aber die Mannsleute bleiben auf ihrem Willen, und also wandern etwelche Kränze in andere Hände, eine kleine Wolke löst sich ab und kriecht zurück ins Tal. –

Jetzt waren die Weiberleute fort, jetzt ging's noch einmal so geschwind den Schloßberg hinan. Als die Schar an der aufgezogenen Brücke vorbeikam, trat manch einer zum Schloßgraben und blickte hinunter auf die Felsen des natürlichen Bergeinschnittes und hinüber auf das geschlossene Tor und die kurzen, dicken Flankentürme mit den grauschwarzen Buckelquadern. Doch weiter ging's, weiter hinein in den Wald. Da lag der Staub nicht mehr so dick wie draußen.

Allen voran lief Koram. Seinen Sonntagsrock hatte er angezogen, den grünen mit den langen Flügeln, und seine hageren Arme pendelten.

Durch den Wald ging's hinaus auf die mächtig große baumleere Fläche, wo sich der Hutwasen dehnte zur Rechten und Linken. – Und nun –! Koram blieb stehen und zog die rote Mütze ab. Drüben, weit drüben leuchtete es auf 79 zwischen den hohen Fichtenstämmen, ein Lied in fremden Lauten klang herüber. Und jetzt wälzte es sich, in Staub gehüllt, heran.

Schneider Koram zitterte am ganzen Leibe. Und mit heiserer Stimme rief er: »Bürger, halt! Da bleiben wir, stellen uns zur Rechten und Linken und lassen die Straße frei. Und wenn sie kommen, dann schreit jeder, so laut er kann, vivat!«

Und so standen die Bürger. Ihre roten Mützen leuchteten. In schöner Klarheit standen sie, Alte und Junge, Grade und Krumme, und der Schneider lief zwischen den beiden Reihen hinauf und hinunter, seine Rockflügel flatterten, seine Stimme krähte. Die große Wolke aber kam näher und näher. Niemand konnte in ihre Tiefe blicken, nur das wilde Singen tönte herüber.

»Wie eine Wetterwolke!« sagte der alte Hutmacher Weinlein zu seinem Nachbarn, dem Strumpfwirker, und machte ein bedenkliches Gesicht.

»Wie damals, wo der Kaiser durchgefahren ist, so müßt ihr stehen und vivat schreien!« kreischte der Koram.

»Nachbar,« gab der Strumpfwirker dem Hutmacher zurück, »mir ist schlecht zu Mute. Und froh bin ich, daß wir die Weiber und die Kinder heimgeschickt haben.«

»Nachbarn, seid still,« tröstete ein Dritter, »alles wird gut werden. Die stehen unterm Schurdang und bringen uns –«

Der Koram wischte gerade vorüber und hatte die letzten Worte gehört: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!« rief er und schwenkte die Mütze.

»Wie eine Herde Rindvieh kommen sie gezogen,« flüsterte ein Vierter.

So standen sie und sahen der brüllenden Staubwolke entgegen.

Seefahrende Leute erzählen, daß auf manchen Inseln des Weltmeeres die Vögel in dichten Scharen sitzen und 80 neugierig zusehen, wenn das Raubtier Mensch ans öde Ufer steigt. Also hatten sich auch diese deutschen Spießbürger zu beiden Seiten der Straße aufgepflanzt und warteten, als gälte es, die Rückkehr ihrer Brüder aus Schlacht und Sieg zu feiern. Aber sie schwiegen jetzt, und es war, wie wenn sich ein unfaßbares Grauen unhörbar einherschöbe vor der wandernden Wolke. Nur der Schmied, der junge, starke, mit dem einen Auge, rief, als die ersten Gestalten sichtbar wurden: »Potz Blitz, sind das Soldaten oder sind's Zigeuner?« Jetzt waren sie aber auch schon da, nicht mehr eine Wolke, sondern eine tosende Schmutzwoge, und rissen mit sich fort die gaffenden Bürger.

Alles war wider Erwarten gekommen, keiner hatte vivat rufen können, und auch die Kränze aus Eichenlaub hatten sie nicht auf die Bajonette zu stecken vermocht. Kränze auf diese Bajonette, das wäre auch zum Lachen gewesen. An den Gewehrläufen hingen zerrissene Stiefel, und barfuß patschten ihre Träger im Staube. Auf den Spitzen der Bajonette aber staken Schinken und Stücke rohen Fleisches, von Staubkrusten überzogen.

Der Stadtschreiber Martin hat hernach das Wichtigste in seine Chronik geschrieben, in das dünne Quartheft, das jetzt im Gewölbe liegt zur linken Hand am Fenster in dem braunen, geschnitzten Kasten:

»Vor allem haben mich erbarmet gestohlene Hunde, die sie an Stricken mit sich führten, arme durstige Hunde, denen die Zunge aus dem Maule hing und das Heimweh aus den triefenden Augen guckte, Köter, die in Reih und Glied fortgezerrt wurden, mit Staub bedeckt und mit geronnenem Blute von Tritten und Stößen und Stichen. Verzeih mir's Gott, sie haben mich noch mehr erbarmt als die kleinen Kinder, die auf den Troßwägen bei den schmutzigen Weibern lagen.«

81 So schrieb der Schreiber Martin von den gestohlenen Hunden der Franzosen; denn er war ein richtiger Deutscher. –

Wie im Traume trollten die Bürger mit den schreienden Soldaten zu Tale. Auf jeden Deutschen schrieen drei, vier Franzosen ein, und ratlos trollten die Bürger, schämten sich ihrer Dummheit und schluckten Staub. Die meisten von ihnen ragten hoch über die zappelnden Kerle hinaus, und wie eine wandernde Hopfenstange zwischen Weinbergspfählen war der Schneider Koram mit der roten Mütze anzusehen. Da zerrte ihn einer der Soldaten am Rocke, und eine gellende Stimme rief an ihm auf deutsch empor: »Landsmann, trag du's!« Im Laufen hakte einer seinen Tornister aus; diensteifrig bückte sich der Jakobiner und wollte das schwere Bündel auf seinen Rücken schnallen. Aber die Riemen waren viel zu kurz. Also hielt er den Tornister mit beiden Händen an den Riemen fest. Und sogleich hatten alle die braven Bürger solch einen schmutzigen Packen auf dem Buckel und trotteten wie Lastesel im schreienden Haufen zu Tale.

Das war doch auch ganz in der Ordnung. Die Gäste brachten die Freiheit, da konnte man schon ein Übriges tun.

Wo sie nur die Freiheit verborgen hatten? Irgendwo mußte sie sein. Vielleicht auf den erbärmlichen Karren, die hinterdrein rasselten? Auf den Karren, hinter deren Tüchern die Weiber mit den frechen Augen hervorguckten, die Weiber mit den plärrenden Kindern?

Es war vieles gar sonderbar an diesen Franzosen. Aber eines mußte doch wahr sein – sie hatten die Freiheit bei sich. Wartet nur, sie werden schon ihre Tornister aufmachen zur rechten Zeit. In den Tornistern muß die Freiheit stecken. Kein Zweifel. Oder in den seltsamen dicken Wülsten, die manche von ihnen um die Hälse geschlungen haben. Was sollte sonst in diesen Wülsten sein?

82 Und die guten Bürger trollten mit ihren Packen zu Tale, und es war ihnen doch heimlich zu Mute wie Kindern vor Weihnachten – irgend eine Überraschung mußte es geben.

*

Chasseurs waren auch noch dazu gekommen. Eine Stunde nach den Fußsoldaten. Und wenn die schmutzigen Fußsoldaten zum Fürchten ausgesehen hatten, so waren diese zerlumpten Reiter ein grausiger Anblick für den erschrockenen Bürger. Fast aber hätte es nun noch grimmigen Streit gegeben zwischen den Söhnen der Freiheit zu Fuß und denen zu Roß. Da schlug ein Teil der Fußsoldaten vor dem Bachtor drunten ein kleines Lager, die Chasseurs und der Rest der Infanterie aber blieben in den Bürgerquartieren.

Auf dem Marktplatze standen in Reihen die Pferde, stampften und wehrten sich der Bremsen und fraßen gierig den gelben Hafer, den man aufgeschüttet hatte. Rund um den Grafenbrunnen qualmten die Feuer und sandten ihren Rauch zum blauen Himmel empor. Soldaten und Frauensleute sotten und brieten und schrieen wild durcheinander. Da lag einer in Hemd und Hose auf dem Rücken, und ein Heubündel war seines Hauptes Pfühl; selbstzufrieden streckte er alle Viere von sich und blinzelte hinauf in die rauchige Luft. Dort saßen etliche in schwarzgrauen, durchlöcherten Hemden und flickten ihre Hosen und schrieen. Ringsumher an den Häusern waren die Fenster offen, und ringsumher klang Lärmen und Schreien, Fluchen und Singen aus den Stuben. Vor den Haustüren, auf den Steinbänken saßen sie zu dritt und zu sechst, hatten Kübel vor sich und wuschen ihre zerschundenen Füße, lachten und schrieen. Reiter sprengten durch die Gassen, Bürger rannten mit verstörten Gesichtern dahin und dorthin. Halbwüchsige Buben trieben sich neugierig und sorglos zwischen den Rossen und Lagernden 83 umher, wurden dahin und dorthin gerufen, schleppten Heubündel und Kübel mit Wasser.

In einem schmalen, dreistöckigen Hause stand ein Chasseur am offenen Fenster des obersten Stockwerkes, beugte sich weit hinaus und schrie seinen Kameraden zu, er habe gut Quartier. Und johlend antworteten sie ihm von unten, und ihrer etliche stürmten gegen die verschlossene Haustüre und hieben mit Gewehrkolben und Säbelkörben auf die Füllung. Lachend ging der droben zurück in die Stube. Aus allen Fenstern der Nachbarschaft guckten gebräunte, wilde Gesichter. Der Chasseur kam wieder ans Fenster und warf einen Brotlaib hinunter. Geschickt fing ihn einer mit der Spitze seines Säbels auf, und die andern brüllten ihm Beifall. Nun ließ der droben an einer Schnur ein großes Stück Fleisch herunter. Es bewegte sich im Kreise über einem hüpfenden Haufen und kam langsam in greifbare Nähe. Zehn, zwanzig Hände streckten sich dem fetten Brocken entgegen, zwei Hände packten ihn, und ein Dutzend Kerle lagen balgend auf dem Pflaster. Da tauchte droben am Fenster unter der roten Mütze der Freiheit ein zorniges Gesicht auf, und der arme Hausvater begann mit dem mildtätigen Soldaten um eine volle Flasche zu ringen. Aber der Gast war stärker und stieß mit Hohnlachen den Wirt zurück, band die Schnur um den Hals der Flasche und ließ sie herunter. Abermals streckten sich die gierigen Hände aus, und wieder lagen die Söhne der Freiheit zu Dutzenden zappelnd im Knäuel auf dem Pflaster. Einer hielt die Flasche hoch und ein anderer wollte sie ihm keuchend entreißen. Da warf jener die Flasche im Bogen hinaus über den Knäuel, daß sie mit Klirren zerschellte.

*

Kurz vor Mittag war's. Da ging ein Trommler durch die Gassen, ging um den Marktplatz und endlich hinunter zum Tore, und ein Soldat mit einem großen Stück Papier in 84 der Hand folgte ihm. Der Soldat aber war ein Deutscher, und gut deutsch hörte sich an, was er mit schreiender Stimme verlas. Beide waren noch nicht beim Bachtor angekommen, da öffneten sich schon hier und dort die Haustüren, Männer und Weiber traten heraus und strebten nach dem Platze vor dem Rathause. Demütig kamen die guten Bürger und brachten den französischen Offizieren, was man ihnen zu bringen befohlen hatte.

Die Fremden wollten Ordnung haben – wer konnte ihnen das verdenken? Scharfe, spitzige Gegenstände oder gar solche, die gelegentlich losgehen konnten, gefährliche Werkzeuge der Art gehörten nicht in die Hände der Unmündigen.

»Ordnung muß sein, ich verstehe das wohl,« sagte Meister Koram und nahm die verrostete Hellebarde, die von einem Urahn her im Winkel auf dem Speicher lehnte, schulterte sie, schritt würdevoll, der allerersten einer, quer über den Marktplatz und legte seine Waffe auf das Pflaster. Und er freute sich, als die guten Franzosen so herzlich lachten über ihn und seine rote Mütze und über das rostige Eisen aus Karls des Fünften längst versunkener Zeit.

»Was bedarf die Freiheit des Eisens?« deklamierte Studienlehrer Pieperich und durchstöberte seine Wohnung, bis er in einer Schublade zu hinterst eine Reiterpistole fand. »Aber ich bitte dich, Pieperich, laß mich doch das rostige Ding putzen. Was müssen sonst die Franzosen von einer deutschen Hausfrau denken?« bat seine Eheliebste. »So putze sie,« äußerte sich Pieperich gelassen. »Madame, du vin!« schrie einer draußen und stieß etwas ganz Hartes mit Nachdruck auf die Dielen. »Nun sind sie schon wieder fertig mit dem vollen Krug,« jammerte Frau Pieperich. »Gib ihnen, sind brave Knaben,« sagte Pieperich mit Würde. Und während die Frau in den Keller eilte, ergriff er die Waffe so wie sie war, schritt hinaus auf den Markt und opferte sie am Altare der Freiheit. Verächtlich 85 riß ihm der Kapitän die Pistole aus der Hand und begann mit kreischender Stimme zu schelten. Und wie ein Schulknabe stand der Bürger Pieperich vor dem kleinen Franzmann mit dem dunkelroten Gesicht, der immerfort seine flache Hand auf die Pistole schlug. Und jetzt erst bemerkte der gelehrte Herr, daß der unglückseligen Pistole der Hahn fehlte. Da nahm er sein Französisch zusammen und begann sich stotternd zu entschuldigen. Trotz aller Demut aber konnte er dem Wütenden nicht überzeugend zu Gemüte führen, daß es ihm gänzlich fern liege, die französische Republik zu beleidigen. Und betrübt trollte er um die Kirche zu seiner Behausung.

Dort vor der Türe, über der die schönen Worte standen artibus et litteris, hielt jetzt eine große Reisekutsche, und auf dem Bock neben dem Kutscher saß ein grimmiger Soldat mit einem Gewehr im Arm. Aber es war kein Franzose, sondern ein Preuße. Da ging dem Studienlehrer Pieperich eine Ahnung auf, und mit gesenktem Kopfe schlich er die Treppe zum Vorplatz empor.

»Aber Frau Mama, wie kommen Sie heute zu uns?«

»Wie du siehst, zu Wagen, lieber Pieps.« Die gebietende Dame stand hochgeschürzt im schweren Reisemantel mit der pelzgefütterten Haube auf dem Kopfe, und ihre Füße staken trotz der Hitze in Pelzstiefeln.

Pieperich bekam einen roten Kopf. Denn das mochte er von der Welt nicht leiden, wenn ihn seine Schwiegermama schlechthin Pieps nannte.

»Also nur geschwinde, lieber Pieps, ihr Kinder kommt zu uns, solange die Unordnung bei euch währt. Das Notwendigste wird in einer Viertelstunde gepackt sein.«

»Und wer bleibt dann in unserer Wohnung?«

»Auch dafür ist gesorgt,« sagte die Königlich preußische Oberamtmännin, und auf der Schwelle der Küche erschien die kleine verhutzelte Gestalt der wohlbekannten 86 Oberamtmannsköchin. Hinter ihr aber der sechs Schuh lange Bediente des Oberamtmannes.

»Genügt diese Besatzung?« fragte die Gestrenge triumphierend.

»Und woher wissen Sie denn, ob ich will?« versuchte sich Pieperich aufzulehnen.

»Ei was, du willst nicht, Pieps?«

Aus der Türe der Wohnstube kam des Studienlehrers Eheliebste. »O gelt, du machst uns weiter keine Schwierigkeiten? Die Eltern haben wahrhaftig alles ganz vortrefflich geordnet; auf preußischem Boden können wir das Unwetter wohlgeborgen abwarten.«

»Ja wenn sich nun aber hier alles zur Freiheit entwickelt, und ich bin nicht dabei?« Pieperich machte ein Gesicht, als wollte er heulen. Da nahm ihn seine Schwiegermutter am einen Arm, seine Gattin ergriff den andern, und so zogen sie ihn selbander in die Wohnstube. Und wie im Traume holte er das Notwendigste herbei. Aber als sich die Frau Oberamtmännin weigerte, einen dicken Folianten in den Koffer aufzunehmen, da machte er ein sehr grimmiges Gesicht und erklärte diesen Folianten für einfach unentbehrlich. Er hatte diesmal die Genugtuung, daß sein Wille durchdrang. Und grimmig, aber unhörbar murmelte er: »Diese Weiber! Man zeige ihnen nur die Zähne, dann geht's schon.«

»Wenn aber die Franzosen am Ende alles kurz und klein schlagen? O meine schönen Möbel!« begann plötzlich die Studienlehrerin zu klagen und setzte sich, überwältigt von dieser Vorstellung, aufs Sofa.

»Wenn sie das tun, dann kann der Pieps sie auch nicht dran hindern,« entschied die Mama.

Und ehe eine Stunde vergangen war, rollte der ungeheuere Oberamtmannswagen aus dem Tore. Hintenauf war der Koffer mit dem Notwendigsten geschnallt, vorne 87 saß der Königlich preußische Soldat, und drinnen faltete die Gestrenge umständlich und würdevoll den Reisepaß zusammen, den der Franzose unterm Tor so ehrerbietig beguckt hatte. Umschwebt vom Geiste des großen seligen Fritz rollte der Wagen dem Auslande zu, das, eine kurze Fahrt entfernt, in Gestalt eines ansbachischen Marktfleckens, eingekeilt zwischen bischöflichem Gebiet, eine sichere Zuflucht in der Wüste zu bieten vermochte.

Jourdan Pieperich aber schrie während seiner ersten Reise, als ob er zu Menschenfressern müßte.

*

Es gab übrigens nicht nur verrostete Hellebarden und hahnlose Pistolen im Städtchen. Von allen Seiten schleppten die Bürger herbei, was sie nur immer an Waffen besaßen, und bald lagen die Schwerter und Degen, die Gewehre und Flinten in Haufen neben uralten Streithämmern und Morgensternen, Beinschienen und Lederkollern, Krebsen und Sturmhauben. Und wenn später die Bürger beim Biere von ihren Erlebnissen erzählten, dann konnte man oft hören: die Weiber waren hinter uns her und gaben keine Ruhe, bis all die gefährlichen Waffen aus den Häusern entfernt waren.

Gerade als wenn sie geglaubt hätten, die Pistolen könnten von selber losgehen und die alten Hämmer und Schwerter könnten sich selber schwingen fürs heilige Römische Reich deutscher Nation. Die törichten Weiber! Weil die frechen kleinen Fremden mit Trommelschlag unter Androhung des Todes die Waffen verlangten, deshalb entwaffneten die Weiber mit eigenen Händen ihre Männer. Noch war ja sonnenheller Tag, aber auch auf diesen Tag folgte eine Nacht, und der vergoldete Zeiger da droben an der Pfarruhr war noch keine zwölf Stunden weitergelaufen, da hätte manch eine ihrem Manne eine Waffe, nur irgendeine Waffe 88 in die Faust gewünscht. Aber die Waffen lagen wohlverschlossen in der großen Halle hinterm Rathause bei Feuereimern und Feuerleitern, wohlverschlossen und wohlbewacht.

»Gib alles her, alles!« drängte auch Frau Lotte Blitz den Gemahl, und mit zitternden Händen brachte der hochedle Herr Stück um Stück seiner unerhört schönen Waffensammlung. Stück auf Stück packte Frau Lotte mit zitternden Händen in die großen Waschkörbe, und dreimal trug der Kanzleidiener mit seinem Weib die Last zum Rathaus hinüber.

Mit gefalteten Händen standen die Eheleute am Fenster und spähten auf den blinkenden Haufen der Waffen. Und es war zurzeit noch still in dem weiten Hause des hochgräflichen Kanzleidirektors; nur ein Wachtposten ging gemessenen Schrittes auf und ab unter den Fenstern – auf und ab wie das unentrinnbare Schicksal.

Der Oberst der Chasseurs hatte dieses Quartier für sich belegt. Aus der Küche drangen alle Wohlgerüche eines reichen Mahles und erfüllten das Haus. Jeden Augenblick mußte der Gast die Treppe heraufrasseln.

Flüsternd, mit zitternden Lippen, sagte der Kanzleidirektor: »Wenn mich nicht alles trügt, dann bin ich der gefährdetste Mann im Städtchen; denn der Vornehmste bin ich ohne Zweifel. Und ich fürchte, Lottchen, du wirst sehen, ich muß meine Treue gegen die hochgräflichen Herrschaften unter Folterqualen mit dem Tode besiegeln – genau wie der Schultheiß im dreißigjährigen Krieg, von dem uns in friedlichen Zeiten die Chronik so erbaulich berichtet hat.«

»Ach Gott, wir leben doch nicht mehr im dreißigjährigen Kriege,« seufzte Lottchen. »Aber Blitz,« rief sie auf einmal, und ihre Augen öffneten sich weit, »du hast ja deinen Degen zurückbehalten –?«

»Liebes Lottchen,« – er wandte sich nicht nach der Seite, wo der Degen in der Ecke stand – »sei doch vernünftig, 89 es ist der Ehrendegen, den mir Seine hochgräfliche Exzellenz – du weißt ja – und man kann gewiß keinen Menschen damit umbringen; denn er ist stumpf wie ein spanisches Rohr. Aber das Gefäß ist aus Silber und gut vergoldet und mit unserm allerdings damals noch bürgerlichen Wappen geziert. Tu mir den Gefallen und verstecke das schöne Stück wie die schreckliche Urkunde.«

»Blitz!« Frau Lotte hatte den Degen aus der Ecke geholt und hielt ihn mit zitternden Händen weit ab von ihrem Leibe. »Willst du dich und mich ins Unglück bringen?« Sie riß das Fenster auf und rief den Leuten zu, die soeben mit ihrem leeren Korbe zurückkamen, warf ihnen den Degen in den Korb und befahl mit kreischender Stimme, sie sollten auch das letzte Stück zum Rathaus tragen. Und mit gefalteten Händen sahen die Eheleutchen zu, wie der Offizier das kostbare Stück erst wohlgefällig betrachtete und dann behutsam hinter sich aufs Pflaster legte.

»Blitz,« sagte Frau Lotte und schloß das Fenster, »ich denke, du hast nun deine Schuldigkeit vollauf getan, und es ist das beste, du begibst dich zu Bette. Das übrige geht den Schultheißen an. Dessen Sache und nicht die deine ist es, mit dem Feinde zu verhandeln. Das wäre unter deiner Würde; denn du bist die Regierung – der Schultheiß das Organ.«

»Zu Bette?« antwortete der Kanzleidirektor verwundert und sah dankbar auf sein treues Weib. »Aber ich sollte vielleicht doch – in meiner Eigenschaft als hochgräflicher – wenigstens für den Notfall präsent sein –?«

»Blitz, ich verantworte das gegen jedermann,« sagte sie und wischte die tränenden Augen. »Was einer nicht mehr zu tragen vermag, das bringt er zu Bette.«

»Zu Bette –!« Die Äuglein des Direktors glänzten. »Das wäre am Ende die beste Lösung. Denn was hab' ich davon, wenn mich plötzlich der Schlag trifft?«

90 »Es ist die einzige Lösung,« sagte sie mit Bestimmtheit und ging hinaus. Er aber stand mit gefalteten Händen und hörte, wie sie den Mägden befahl: »Sofort die Wärmflasche füllen! Seine Gnaden sind von all den Geschäften und Aufregungen krank geworden und müssen sich zu Bett begeben.«

Dann kam sie wieder. Und es war ihm zu Mute wie einem Knäblein, als sie nun den Arm in den seinen schob und ihn schrittweise hinaus geleitete. »Hierherein, Lottchen!« sagte er und machte halt am gewohnten Schlafgemache. Sie aber flüsterte: »Nein, Blitz, heute mußt du mit der Gastkammer vorlieb nehmen, da bist du ungestört.« Und gehorsam ging er den Gang hinter, die drei Stufen hinauf, rechts in die dritte Türe. Und es währte nicht lange, dann lag er friedlich mit der weißen Nachtmütze über dem Haupte in den Kissen und harrte der Dinge, die da kommen sollten über das Städtchen und über die Grafschaft, über den Kreis und über das heilige Römische Reich deutscher Nation.

Und von Zeit zu Zeit sagte er zu Lottchen: »Ich fühle mich doch sehr angegriffen. Und was hab' ich davon, wenn mich plötzlich der Schlag trifft?«

Sie aber antwortete jedesmal: »Schone dich, Bubele, und erhalte dich der hochgräflichen Herrschaft!« 91

 


 


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