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Wie vor Zeiten ragte am Ende des Doktorgartens der alte Turm. Aber festverschlossen war seine Türe, seit Jahren hatte keines Menschen Fuß die hölzerne Stiege betreten, und eine schier undurchdringliche Wildnis trennte das graue Gemäuer von den Beeten des Gartens.
Es war ein heißer, stiller Sommernachmittag. Da unternahm Klein-Gerhard Frey einen Streifzug durch das Gesträuche.
Über ihm, vor, neben ihm hingen die dunkelroten Johannisbeeren herab. Die Rechte zupfte die saftigen Träublein und führte sie an den Ort ihrer Bestimmung, die Linke griff schon wieder begehrlich in den Überfluß. So bedienten die Hände gleich zwei gehorsamen Sklaven den unersättlichen Mund, während die Beine weiter stapften unter Blättern und Früchten, durch Schatten und zitternde Lichter. Es war wie im Schlaraffenland.
Endlich stand er vor der Turmtüre und entdeckte die große Steinplatte rechts an der Mauer: über tiefgemeißelten Schriftzeichen das Brustbild eines Mannes mit starren, weitgeöffneten Augen und einem Kelch in der Hand über dem Herzen. Leise bewegten sich die Schatten der Blätter auf dem moosgrünen Steine. Da gelüstete es Klein-Gerhard, seine junge Lesekunst an den alten Buchstaben zu erproben.
Zuerst wollte es gar nicht gelingen. Aber jetzt, jawohl, da waren etliche Wörter, die konnte man lesen. Und er buchstabierte: E–I–N J–U–E–N–G–E–R J–E–S–U C–H–R–I–S–T–I.
Mit offenem Munde stand der Knabe. Er wiederholte: »Ein Jünger Jesu Christi.« Dann wandte er sich und stapfte zurück in die Wildnis. Die roten Träublein hingen ihm wie 200 vorher in den Mund, er aber achtete ihrer nicht. Er hielt die Fäuste vor die Augen und schob sich durch die rauschenden Zweige ins Freie hinaus, rannte die Gartenwege entlang, kam atemlos ins Haus, in die Küche und zerrte die Mutter auf den Gang: »Komm, komm!«
Und sie konnte nicht erfahren, was ihn so tief bewegte. Willig folgte sie ihm hinaus in den Garten und arbeitete sich durch die Stauden zum Turme.
Hastig fuhr sein Finger die Schrift entlang, dann richteten sich seine Augen fragend auf sie: »Ein Jünger Jesu! Weißt du denn das auch, Mama?«
Sie stand neben dem Kinde und legte die Hand auf sein Haupt.
»Welcher Jünger des Herrn Jesu liegt hier begraben? Sag doch, Mama!«
Da setzte sie sich auf die moosgrüne Steintreppe und zog den Knaben neben sich, schlang den Arm um ihn und fühlte, wie sein Herz pochte in froher Erwartung.
»O du, das muß ich allen, allen Leuten erzählen,« brach nun der Knabe jauchzend los.
Noch einen Augenblick rang sie mit sich. Sollte sie sagen, irgend ein Jünger des Herrn, oder sollte sie sagen, was ihn aufs schmerzlichste enttäuschen mußte? Aber es lag ja nicht einmal in ihrem Belieben. Sie durfte ihn doch nicht dem Spotte der andern preisgeben. Also die Wahrheit!
»Höre mich, Gerhard. Wie viele Jünger hat der Herr gehabt?«
»O zwölf. Einer aber hat ihn verraten.« Er wandte sich zum Steine und warf einen Blick auf den Mann mit dem Kelche. Dann sagte er ganz bestimmt: »Der Judas ist es nicht.«
Sie lächelte. »Nein, der gewiß nicht. Aber sag, hat Jesus nicht noch mehr Jünger gehabt?«
201 »O ja, die Siebzig.«
»Hat Jesus nicht später auch noch Jünger gehabt?«
Über das kluge Gesicht zog ein Schatten. »O ja, wir alle sollen Jünger Jesu sein. Ist's also kein richtiger Jünger, der da?«
Sie erhob sich und trat mit ihm vor den Stein, und ihre scharfen Augen fanden den Namen. Balthasar Glaubrecht Frey, Pfarrer allhier, starb 1612, dem Gott gnädig sei. Sie las es laut und fuhr mit dem Zeigefinger die Buchstaben entlang.
»Wie kommt denn der Stein in den Garten, Mama? Der gehört doch auf den Friedhof hinaus.«
»Ich denke, der Großvater hat ihn herein bringen lassen, als man den Gottesacker hinter der Kirche aufließ und anfing, die Toten vor der Stadt zu begraben.«
Er hob das Antlitz zu ihr auf, und die blauen Augen schimmerten feucht. Er seufzte: »Das wär' aber doch so schön gewesen.«
Sie streichelte seine Locken: »Hast du ein Märlein hören wollen?«
Er schüttelte heftig den Kopf.
»Nun aber, Gerhard, weiß ich noch einen Gang für dich. Lauf geschwind zur Flick-Liese und sag ihr, sie soll übermorgen kommen.«
*
Er hatte sein Geschäft besorgt und ging nach Hause zurück.
Der Marktplatz lag schon halb im Schatten – der Marktplatz, auf dem einst die blaue Flamme des höchsten Wesens züngelnd gebrannt hatte.
Am Grafenbrunnen lehnte ein großer Knabe. Der hatte die Fäuste in den Hosentaschen und sah gleichgültig vor sich hin. Gerhard mußte am Brunnen vorbei. Er war schon etliche Schritte vorüber, da lief ihm der Große nach, packte ihn von hinten an den Schultern und stieß ihm das Knie 202 ans Gesäß. Erschrocken suchte der Knabe loszukommen, aber der andere hielt fest und schüttelte ihn. Ein alter Mann kam mit seiner Wasserbutte zum Brunnen. Der rief zornige Worte herüber. Der Kleine begann zu schreien und zu laufen, aber der Große hielt ihn fest, lief hinter ihm drein und schüttelte ihn heftig. Zuletzt gab er ihm noch einen Stoß mit dem Knie, daß er vor die Freitreppe rollte, kehrte um, steckte die Fäuste in die Hosentaschen und ging befriedigt zum Brunnen zurück.
»Schämst du dich nit, du Lausbub, was hat dir denn das Büble getan?« schalt ihn der alte Mann und nahm seine Wasserbutte auf den Rücken.
Als Klein-Gerhard weinend in den Hausflur rannte, kam sein Vater aus der Stube.
»Aber wie siehst du denn aus?«
Schluchzend, kaum verständlich, berichtete er sein Unglück.
»Und warum hat er dich so mißhandelt?«
»Ich – ich weiß es wirklich nicht.«
»Hast du ihm auch gewiß nichts getan?«
Der Knabe stand nun ganz still vor dem Vater und sah ihm fest ins Gesicht: »Ganz gewiß nicht.«
Da zuckte der Doktor die Achseln und entschied ernsthaft: »So kannst du dir's auch nicht gefallen lassen. Denn was habe ich dir immer gesagt?«
»Nie zu raufen anfangen.«
»Aber –?«
»Sich nie 'was gefallen lassen.«
»Nun also?«
Bekümmert sah der Kleine vor sich hin. »Er ist aber viel stärker als ich.«
»Trotzdem. Ich glaube, du könntest heute nacht gar nicht schlafen. Solch eine Schmach!«
203 Klein-Gerhard ballte die Hände. Der Doktor aber ging in seine Stube und kramte in einer Ecke.
»Komm!«
Er hielt ein spanisches Rohr in der Hand. »Schau hin, dort steht er noch am Brunnen.«
Der Knabe trat ans Fenster.
»Und jetzt nimm diesen Stock.«
»Ich will mich hinten herum schleichen.« Gerhard hielt den Stock in der zitternden Rechten.
»Nein, du mußt gradaus losgehen auf ihn, mein Sohn. Und wenn er nicht so viel stärker wäre als du, müßtest du mit den bloßen Fäusten auf ihn losgehen. Verstanden? Aber nun vorwärts! Ich stehe am Fenster und sehe dir zu.«
»Wie viele Hiebe muß ich ihm geben?«
»Einen Hieb über die Schulter.«
Da ging der Knabe. –
Der alte Mann kehrte mit der leeren Butte zurück, ging nahe an dem Buben vorbei, der noch immer am Brunnen lehnte, und stellte die Butte unter den glitzernden Strahl.
Da blickte der Bube auf und sah Gerhard mit seinem Stocke herankommen. »Was willst denn du?« rief er verächtlich. Dann wartete er, bis der Kleine ganz nahe war, hob den Fuß und stieß ihn ans Schienbein.
Gerhard taumelte zurück und sank ins Knie. Aber sogleich stand er wieder auf, schwang seinen Stock, sprang vor und hieb den Gegner übers Gesicht.
Mit einem Wutschrei warf sich der Bube auf ihn, und beide rollten über das Pflaster. Doch jetzt rannte der alte Mann auf klappernden Holzschuhen herzu, packte den Großen und riß ihn von seinem Opfer. »Genug ist's. Wenn du noch muckst, dann kannst was erleben. Und du, Büble, recht hast gehabt, und nimm jetzt deinen Stock und geh heim.«
204 Der Kleine strich die Haare aus dem Gesicht, raffte seinen Stock vom Boden und lief dem Vaterhause zu.
In seiner Stube stand der Doktor, nahm ihm den Stock ab und sagte: »Brav, mein Sohn.«
»Ich – ich habe ihn nicht übers Gesicht schlagen wollen, Papa,« entschuldigte sich Gerhard.
»Du hast auf die Schulter gezielt?«
»Gewiß.« Der Kleine atmete heftig.
»Du hättest wirklich nicht schlafen können nach dieser Schmach.«
»Ich hätte nicht schlafen können,« bestätigte der Knabe mit großem Ernste.
»Und nun laß dir deine Abendmilch schmecken.«
»O, ich hab' doch so viele Johannisbeeren gegessen!«
»Das ist freilich fatal.«
Als er aus der Stube trat, fühlte er sich rückwärts von zwei Armen umfangen, und eine zärtliche Stimme sprach: »Brav, Brüderle, brav!«
Der Kleine zappelte heftig. »No, laß mich halt los, du!«
Da gab ihn der Große frei. »Du bist mein tapferes Brüderle.«
Hochbefriedigt fragte der Kleine: »Hast du's auch gesehen?«
»Freilich hab' ich's gesehen. Du wirst einmal ein braver Deutscher.«
»Meinst du?«
»Ich will dir auch 'was schenken. Da –!«
Der Knabe jauchzte auf: »Das Messer, Karl – das schöne Messer –?«
»Nu freilich, weil du so tapfer gewesen bist.«
»Das Messer mit dem Hirschhorngriff.« Der Kleine lächelte selig vor sich hin und hob die Klinge. »O du – aber dann hast ja du kein Messer? Magst du's denn nimmer?«
205 »Ich muß dir doch etwas schenken, was mir selber lieb ist; sonst habe ich meinen Lohn dahin,« belehrte der Große den Kleinen.
Es war Nacht, und die beiden Knaben lagen in ihrer Kammer, deren Fenster in den Hof hinaus ging. Der Mond stand am klaren Himmel und warf den Schatten des Weinlaubes auf den weißen Fußboden. Das eine der Betten stand rechts, das andere links vom Fenster.
Da kam die Mutter die Treppe empor und trat in die Stube. Sie trug das Kerzenlicht und schützte die Flamme mit der andern Hand. Aber als sie in der Kammer war, löschte sie das Licht aus und stellte den Leuchter auf den Sims.
Dann setzte sie sich auf den Stuhl ans Fenster, faltete die Hände und sagte: »Wir wollen beten, Kinder.«
Die Knaben knieten in ihren Betten, und der Ältere begann: »Lieber Herr Gott himmlischer Vater, wir danken dir durch Jesum Christum, unsern Herrn, daß du uns behütet hast alle die Zeit und diesen Tag und bitten dich, behüte unsere Eltern und uns Brüder auch heut in dieser Nacht an Leib und Seele, vergib uns alle unsere Sünden und wo wir unrecht getan haben und gib uns endlich dein ewiges, seliges Leben. Amen.«
Dann fiel der Kleine mit seinem zarten Stimmchen ein und sprach: »Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich zu dir in Himmel komm. Amen.«
Wieder begann der Ältere langsam und feierlich: »Herr Gott, himmlischer Vater, behüte und segne du unser deutsches Volk und liebes Vaterland, und laß den Bruder und mich stark werden und tapfer, daß wir einst auch kämpfen können fürs Vaterland, wenn's not tut.«
»Amen,« sagte die helle Stimme des Kleinen. Die Mutter aber stand auf und begann: »Vater unser, der du bist im 206 Himmel –.« Sie betonte jedes Wort, wie sich's gehörte, und die Stimmen der Kinder schlangen sich um ihre Stimme wie Blumenranken um einen Stab.
Sie trat an das Bett des Größeren, der nun auf dem Rücken lag und sie aus seinen dunklen Augen anblickte. Sie beugte sich nieder und küßte ihn auf die Stirne: »Gute Nacht, Karl – und nicht mehr lange plaudern, gelt?«
»Er hat mich um eine Geschichte gebeten.«
»Ihr sollt schlafen.«
»Er ist aber doch heute so tapfer gewesen.«
»Meinetwegen. Aber nur bis der Nachtwächter tutet.«
Sie trat an das Bett des Kleinen. »Du hast doch keinen Groll auf Schusters-Jörg?«
Er lächelte ihr lieb und klar entgegen und schüttelte den Kopf: »Ich hab ihn ja so verprügelt, Mama.«
»Auch wenn du ihn nicht so verprügelt hättest, Gerhard?«
»Ich weiß nicht« meinte er nach kurzem Besinnen.
Sie unterließ weitere Gewissenserforschung, beugte sich herab und küßte seine Stirne. Dann ging sie.
»O Karl, fang an, sonst tutet's.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Vom Kaiser Barbarossa!«
Da begann der große Knabe. Der Kleine aber lag regungslos. Er hatte die Augen geschlossen und die Händchen auf der Brust gefaltet. Es war ihm, als hörte er die tiefen Atemzüge des schlafenden Kaisers und das Flügelrauschen der krächzenden Raben.
»Und wann wird er aufwachen?« fragte er endlich.
»Er wird bald aufwachen, sagt unser Vater.«
»Wann denn, wann denn?«
»Vater sagt, wenn genug Männer sein werden in Deutschland.«
»Sind denn jetzt noch nicht genug Männer?«
207 »Nicht genug Männer, wie sie der Kaiser braucht.«
»Was für Männer?«
»Tapfere Männer.«
»O, ich will immer tapfer sein!« beteuerte der Kleine und preßte die Finger ineinander.
»Und wahrhaftige Männer, sagt der Vater.«
»O, ich hasse die Lüge,« rief der Kleine.
»Und drittens, sagt der Vater –«
In diesem Augenblick tutete der Nachtwächter vorn auf dem Marktplatz vor Doktors Haus.
»Drittens –?« drängte der Kleine.
»Schluß!« entschied der Große, drehte sich geräuschvoll an die Wand und sagte kein Wort mehr.
Das war die Luft, in der die Söhne des Doktors atmeten, das war die Erde, auf der sie standen, und das war der Himmel, zu dem sie emporschauten. 208