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Nacht war's. Feierlich funkelten und flimmerten die Sterne über der lenzbereiten Erde. Weit draußen im Lande, auf der Heerstraße zwischen den kahlen Pappelbäumen, trabte der Doktor heimwärts, den Bergen zu. Er trabte durch schlafende Dörfer, und mit Gekläffe fuhren die Hunde aus den Gehöften; er trabte zwischen junggrünen Wiesen, und der Hufschlag seines Pferdes verklang über den Erlen des Stromes.
Langsam ritt er eine Anhöhe empor, derweil im Grunde seitwärts eine Turmuhr tief und laut die elfte Stunde schlug.
Weitaus griff das Pferd. Aber plötzlich spitzte es die Ohren, wandte den Kopf, peitschte die Flanken und wieherte hellauf.
Der Reiter parierte und lauschte zurück.
Von ferne kam's. Erst fein und gleichsam zerrissen, dann schärfer und heller. Getrappel war's, Getrappel von vielen, eiligen Pferden.
Angestrengt spähte der Reiter zurück.
Dort, wo sich die Heerstraße im Walde verlor, flackerte schwacher Lichtschein auf. Er glitt heran hinter einem fernen Dorfe, er glitt empor an einem weißen Kirchturm. Er huschte weiter und weiter. Klingklang der Hufe und Räderrollen kam näher – der harte Klingklang einer reisigen Schar, das Rollen eines federnden Wagens.
Drunten am Fuße der Anhöhe glühten Fackeln, und aus dem Getrappel der Schar löste sich der scharfe Ton von vier galoppierenden Eisen.
Da setzte der Doktor über den Graben hinüber aufs Feld.
Mit lodernder Fackel jagte einer die Straße empor. Unsicheres Licht huschte über den Staub des Weges, über die 230 Pappelstämme und über die junggrünen Felder, und wie eine zerrissene Fahne zog hinterdrein der qualmende Rauch.
Noch ein paar Sätze, dann war der Reiter dort, wo der Doktor abseits über dem Graben hielt. Er hob seine Fackel, parierte das schnaubende Pferd und schrie drohend hinüber.
Zurück in die Saat wich der einsame Reiter, und mit hocherhobener Fackel galoppierte der andere weiter, die Straße hinan.
Aus der Tiefe kam's: Rotglühender, funkensprühender Fackelrauch, Klingklang jagender Hufe.
Da drückte der Reiter draußen sein Pferd wieder nahe hin an den Wegrand.
Sechs Rappen zogen eine Glaskutsche herauf. Zu beiden Seiten galoppierte in wimmelndem Durcheinander der Schwarm des Gefolges. Grell funkelten die Tressen und Knöpfe und Waffen im Lichte der Fackeln und Wagenlaternen.
Wie Wetter und Windsbraut kam's empor mit roten, großmächtigen Augen. Jetzt rollte die Karosse auf gleicher Höhe mit dem einsamen Reiter draußen im Acker, jetzt blinkten die weißen Polster im Lichte der Ampeln – und schon leuchteten die zwei gelbroten Laternen an der Rückseite auf und warfen flackerndes Licht über den Knäuel galoppierender, goldblitzender Reiter. Dann aber kamen, streng gerichtet, Bügel an Bügel, in tiefen Reihen gerasselt die bärtigen Leibwächter.
Die Fackeln lohten, der Rauch glühte, die Rosse schnaubten und keuchten, der Boden zitterte, und hoch und steif ragten die kahlen Pappeln zum Sternenhimmel empor.
Der Doktor hielt regungslos. Schon lange war die Erscheinung vorübergebraust, er aber sah noch immer vor sich, zum Greifen nahe, hellbestrahlt vom Lichte der Ampeln, den Mann im grauen Überrock mit dem Buch in der Hand und dem seltsamen Tuch um die Schläfen, der da inmitten seines 231 Trosses auf nächtlichen Straßen dahintobte durchs deutsche Land.
Jetzt war der Wagen weit droben auf der Höhe. Noch einmal leuchtete es auf zwischen den schwarzen Stämmen, noch einmal klang hell und scharf der Hufschlag herunter. Dann war's, als ob die Erde langsam das Getöse verschluckte, und nur noch schwacher Widerhall klang über den Hügel herüber.
Der Doktor setzte zurück auf die Heerstraße.
Er wollte auch nach oben. Doch jählings hielt er sein Pferd an und spähte hinunter in den Staub. Er stieg ab und bückte sich.
Also doch. Er hatte ja gesehen, wie es aus dem offenen Fenster flog. Es war ein kleines Buch, zerstampft von den Hufen. Er hob es auf, er klopfte den Staub aus den Blättern und steckte es in die Satteltasche.
Dann schwang er sich auf und nahm die letzte Steigung im Galopp.
Wieder tönte hell und klar aus der Ferne der Hufschlag der trabenden Pferde, wieder klang leise dazwischen das Rollen der Räder durch die stille Nacht. Weit unten im Tale glitt der Lichtschein des reisigen Zuges.
Zuerst verklang das Rollen der Räder. Dann zerflatterte das Klappern der Hufe.
Totenstille legte sich über das Land. Und es war dem einsamen Reiter, als hätten die Sterne noch nie so kalt und trostlos gefunkelt, seitdem er in ihrem Lichte reiten mußte zu jeder Stunde der Nacht. Er schlang den Zügel um den Arm, er murmelte Unverständliches.
Da kam es wie ein Blitz aus der Höhe, und geblendet schloß er die Augen.
Angstvoll schnaubte das Pferd.
Wo sich der reisige Zug in der Ferne verlor, schwamm 232 hoch über der Heerstraße eine weißglühende Kugel und zog hinter sich her einen langen, gleißenden Schweif. Sie war groß wie der Sonnenball, wenn er am Mittag zu Häupten der Menschen steht, und weit umher verschlang ihr Licht die goldenen Sterne, unaufhaltsam zog sie ihre Bahn hinein in die schwarzen Tiefen des Himmels, und wie im Dämmerlicht eines scheidenden Wintertages dehnte sich unter ihr das mitternächtige Land.
Aber gedankenschnell zerplatzte das Gebilde, in Nacht versanken Himmel und Erde, aus den Tiefen des Himmels tönte ein dumpfer Knall, und dann kamen auch wieder, eines nach dem andern, die Sternlein heraus und begannen aufs neue zu funkeln, freundlich zu funkeln in uralter Schöne.
Hochaufgerichtet saß der Mann im Sattel, faltete die Hände und rief laut hinaus in die Nacht: »Herr Gott, ich nehm's als ein Omen!«
Dann ritt er die Höhe hinunter, bog seitwärts ab von der Heerstraße und strebte auf schmalem Pfade im Trabe den Waldhügeln zu.
Es war Sonntag Palmarum geworden, als er zum Grafenstädtlein emporkam.
*
Der Knabe Gerhard lag noch mit offenen Augen in seinem Bette. Er hörte, wie der Vater die Gasse heraufritt. Er hörte die Haustüre gehen und die Mutter sprechen: »Du armer Mann, wo bist du denn so lange geblieben?« Er hörte das Pferd über den gepflasterten Hof klappern. Er lag mit gefalteten Händen und offenen Augen.
Da ging wieder eine Türe, und schwere Schritte kamen die knarrende Stiege herauf.
Der Doktor stellte das Talglicht auf das Tischlein am Fenster, und Gerhard richtete sich auf.
233 »Gut, daß du noch wach bist.« Er streckte ihm die Hand hin. Der Knabe ergriff sie und legte sich zurück.
»Gott segne dich, mein Sohn. Du wirst heute ein hohes Fest feiern. Gott segne dich heute und alle Zeit deines Lebens.«
»Werden Sie mit uns zur Kirche gehen, Papa?« Er hatte es kaum hörbar gesagt, hielt die Hand fest und wartete mit offenem Munde.
»Ich werde schon am frühen Morgen wieder aufs Land reiten. Darum wollte ich dich jetzt noch sprechen. Vor einer Stunde habe ich den Kaiser der Franzosen gesehen, wie er in dieser Nacht durch unser armes, geknechtetes Vaterland jagt als unbestrittener Herr. Du aber wirst nun heute konfirmiert – eile, eile und werde ein Mann!«
Er beugte sich herab und legte ihm die Hand auf die Stirne. Dann nahm er den Leuchter und ging aus der Stube.
Mit offenen Augen lag Jung-Gerhard die ganze Nacht und hörte alle Stunden schlagen.
Von Zeit zu Zeit murmelte er Stücke aus dem Glaubensbekenntnis. Dann lag er wieder stille, und seine nächsten Verwandten zogen an ihm vorüber. Er aber hielt Zwiesprache mit ihnen. Der Morgen graute, und er schlief ein. Und es war ihm, als käme der Bruder und setze sich an sein Bette. Da fuhr er auf und ward inne, daß er geträumt hatte. Er vermochte nun die Gegenstände in der Stube wohl zu sehen. Hinten im Garten aber sang eine Amsel.
Wiederum lag er mit gefalteten Händen und offenen Augen.
Als der Tag zum Fenster hereinschaute, stand er auf, wusch sich und zog die neuen, schwarzen Kleider zum Feste an. Dann setzte er sich an das Tischlein und schrieb auf das zweite Blatt des Tagebuches, das ihm der Bruder geschenkt hatte: 234
»Ich habe nun in einer fast schlaflosen Nacht mein Herz bis in alle seine Winkel geprüft und bin zu der Erkenntnis gekommen, daß ich das ganze apostolische Glaubensbekenntnis unmöglich ablegen kann. Denn ich will vor allen Dingen wahr gegen Gott und mich selber bleiben. Ich werde also mit den andern nur den ersten Artikel aus tiefer Seele sprechen; denn über den zweiten und dritten Artikel bin ich noch lange nicht im Klaren. Ich habe mich auch geprüft, ob ich am Karfreitag das heilige Abendmahl feiern kann. Und ich antworte mir mit den vortrefflichen Worten meines Lehrers, des Vikars, den ich an Stelle des erkrankten Dekans seit vier Wochen habe: Ich genieße Brot und Wein am Altare als Gedächtsnismahl an den Bund, den der Edelste und Frömmste aller Menschen mit den Seinen geschlossen, durch den er so viel Segen auf Erden verbreitet hat. Und ich gelobe dabei, daß ich stets seinem Edelmute und seiner Frömmigkeit nacheifern will. Und tapfer will ich mit dem heutigen Tage ins Leben hinein, will sorgen, daß ich ein Mann werde nach dem Herzen meines Vaters.«
Der Friseur kam und drehte ihm kunstvoll den Zopf, wünschte zum heutigen Tage den Segen des Herrn und ging.
Feierlich und mannhaft war's dem Knaben zu Mute, als er nun die knarrende Stiege hinabschritt.
Aus dem Studierzimmer des Vaters klang heftige Rede und Gegenrede. Er blieb stehen; denn er hatte seinen Namen gehört. Er wandte sich und ging zurück.
»Ist das Ihr fester Entschluß, Papa?« Der große Bruder hatte es ganz laut gerufen. Gerhard war schon wieder die halbe Stiege droben und hörte nicht, was der Vater antwortete.
Da ging die Türe, und Karl stürmte über den Hausflur in die Eßstube.
235 Gerhard beugte sich herab und sah die Mutter, wie sie dem Stiefsohn nacheilte, und er hörte, wie sie mit ihrer sanften Stimme auf ihn einsprach. Und sein großer Bruder stieß in furchtbarer Erregung hervor: »Er hat sich nicht erweichen lassen; er wird nicht mit uns in die Kirche gehen.«
Da kam Gerhard die Stiege herunter und ging in die Eßstube.
Der Tisch war gedeckt, es roch nach Kaffee und Kuchen. Das beste Porzellan blinkte auf dem Damasttuch, und ein großer Strauß Frühlingsblumen stand mitten darauf.
»Guten Morgen, Mama. Haben Sie gut geschlafen?« Er beugte sich auf ihre Hand und küßte sie.
Karl stand am Fenster und sah hinaus in den Hof. Er wandte sich nicht, als er dem Gruße des Bruders antwortete: »Guten Morgen, du armer Bub.«
»Armer Bub? Du meinst wohl, weil unser Papa nicht mit in die Kirche geht, sondern seine Kranken besucht?«
»Ja, das meine ich,« sagte der Student und begann auf der Scheibe zu trommeln.
»Aber warum sollte denn unser Papa gerade heute in die Kirche kommen?« fragte der Kleine ganz ruhig. »Was er mir Gutes und Schönes sagen kann, das hat er mir schon heute nacht gesagt. Und es ist mir gewiß lieber als alles, was ich heute noch in der Kirche hören werde.«
»Gerhard!«
Beide hatten gerufen. Der Bruder mit rauher Stimme, die Mutter klagend.
»O, ich verstehe meinen lieben Papa so gut, so gut.« Gerhard hatte die Hände gefaltet und sah den strengen Bruder mit leuchtenden Augen an. »So gut, wie keines von euch.«
»Dann sieh dich vor, daß dir dieser Tag nicht zur Fallgrube werde.«
236 »Das fürchte ich nicht.«
Sie setzten sich; sie tranken Kaffee und aßen Kuchen. Aber sie sprachen nichts miteinander. Ein jedes hatte mit seinen eigenen Gedanken zu tun. Nur die Mutter sagte zuweilen: »Iß doch, Karl, iß doch, Gerhard!« Und immer wieder strich sie über das gepuderte Haar und das Zöpflein des Konfirmanden, der tapfer aß und trank und ihr freundlich zunickte.
Dann ging er hinauf ins gute Zimmer, öffnete das Fenster und blickte sinnend hinab auf den Marktplatz.
Ein blauer Frühlingshimmel war ausgespannt über dem Städtlein, und die Wasserstrahlen des Grafenbrunnens glitzerten im Sonnenscheine.
Schräg über den Marktplatz grüßte das Portal der Pfarrkirche herüber, weit offen standen die Türflügel, und in der Tiefe glühten die Lichtlein des Altars.
Und nun begannen die großen Glocken im Turme zu läuten, tief und mächtig zu läuten: Kommt, kommt, es ist alles bereit!
Er wandte den Blick hinauf, am Turme vorüber, empor zu dem grauen Felsen, auf dem grau und stark, als wäre es aus dem Felsen gewachsen, das Grafenschloß thronte.
Kleine Gestalten in schwarzen, lächerlich langen Röcken, mit hohen, schwarzen Seidenhüten über den gepuderten Zöpfchen, schritten ehrbar von allen Seiten auf den Marktplatz herein. Zierliche Mägdlein in langen, schwarzen Kleidern, barhäuptig, mit grünen Kränzlein auf den schlicht gescheitelten Haaren, trippelten zwischen würdigen Eltern. Und alle strebten sie hinüber zu dem hochgiebeligen Pfarrhause neben der Kirche. Sittsam stellten sich die Kinder unter die Freitreppe, zur Rechten die Knaben, zur Linken die Mädchen, und so standen sie mit gefalteten Händen und gesenkten Köpfen und warteten. Immer wieder aber hob eines und das andere den Kopf 237 und blickte verstohlen zur Türe des Pfarrhauses empor. Ob er wohl selbst zur Konfirmation käme, der alte Dekan?
Die Wasserstrahlen des Brunnens glitzerten, und das vergoldete Schwert des Sandsteingrafen funkelte. Es war, als hätte der alte Herr ein besonders heiteres Gesicht aufgesetzt, und ein Spaßvogel meinte: »Sieht er nicht aus, als wollt' er dem jungen Grafen entgegenhupfen?«
Die Glocken sangen in tiefen Tönen, die Lichtlein glühten aus der dunklen Kirche herüber. Da wandte sich Gerhard vom Fenster, nahm Gesangbuch und Seidenhut und ging hinunter.
Das ganze Haus war erfüllt von dem dröhnenden Geläute.
Er öffnete die Haustüre. Da stand das Reitpferd des Vaters. Man sah nur den nickenden Kopf zwischen dem kunstvoll geschmiedeten Gitterwerk der Freitreppe.
Er war noch auf der Schwelle, da kam der Vater aus seiner Stube, sporenklirrend, im weiten Mantel.
Der alte Frey legte die Hände auf die Schultern seines Kindes und zog es zurück; er stieß mit dem Fuß an den Türflügel, daß er sich knarrend gegen den Rahmen bewegte.
Nun standen sie hart voreinander im dämmerigen Hausflur.
Der Knabe hob sein Antlitz und sah dem Vater lächelnd in die Augen.
»Warum bist du nicht mehr zu mir gekommen, mein Sohn?«
»Sie haben mir doch heute nacht schon alles gesagt, Papa.«
Da bückte sich der Alte, nahm den Kopf seines Sohnes zwischen die Hände und küßte die hohe Stirn. »Gott segne dich, Bub! – Aber zum Henker, wie knarrt doch die Türe. Man muß die Angeln ehestens ölen.«
Er ging klirrend aus dem Flur, die Freitreppe hinab und schwang sich auf sein Pferd.
238 Verwundert stand der Knabe. Sein Vater hatte ihn wirklich geküßt. Das kam ihm so seltsam vor, unsagbar seltsam, und es war ihm feierlich zu Mute, wie noch niemals zuvor.
Er trat in den Sonnenschein. Vaters Rappe griff mächtig aus und bog in die Bachgasse ein. –
Wie träumend ging Gerhard über den Platz hinüber zum Pfarrhofe und stellte sich zu den andern. Er sah es nicht, wie die Blicke der vielen Menschen dem abreitenden Vater folgten und sich dann mitleidig zu ihm selber wandten. Er stand und hielt krampfhaft sein Gesangbuch, blickte zu Boden und gedachte des Mannes, den er Vater nennen durfte, und er betete bei sich: ›Gott, mein Gott, ich danke dir für den Vater.‹ Und nach einer Weile dachte er eifrig hinzu: ›Gleichwie für die Mutter.‹
Noch immer klangen die Glocken. Dann kam es vom Tore mit trappelndem Hufschlag vierspännig gefahren, vorauf ein Spitzenreiter in den schwarzgoldblauen Farben des Grafenhauses. Die Menschen wichen zur Seite, eine Gasse öffnete sich schräg über den Platz herüber, die Türe des Pfarrhofes ging auf. Neugierig reckten sich die Hälse. Ei seht doch, da kommt wirklich der alte, gebrechliche Dekan vom Krankenbette zur Konfirmation seiner Kinder.
Vor den Kirchenstufen hielt die Karosse, die Lakaien sprangen vom Hintersitze, seidene Gewänder rauschten, Ordenssterne blitzten.
Der blonde Grafensohn kam neben Gerhard und drückte ihm die Hand.
Die Glocken schwiegen, der Lehrer trat vor die Kinder, die Blätter der Gesangbücher rauschten, und aus vielen Kehlen erscholl der Gesang.
Singend zogen sie hinter dem gebückten Dekan die Stufen zur Kirche empor.
Ganz vorne, dicht hinter dem wallenden Chorrocke, schritten 239 die beiden Vornehmsten, zur Rechten der Grafensohn, zur Linken der Sohn des Arztes.
Gerhard betrat die kühle Kirche auf den Fußspitzen; seine Zähne schlugen aufeinander.
Hinter den Konfirmanden drängte sich die Gemeinde zwischen die Säulen des Schiffes.
Nun standen die Kinder im Halbkreise vor ihren Sesseln im fichtengeschmückten Chore. Die Orgel erfüllte mit jubelnden Klängen die Kirche, und die Leute sangen aus vollen Kehlen, als müßten sie die Klänge der Orgel überschreien. Oben zur Linken, in der Loge, stand die gräfliche Familie – in gleicher Höhe mit der Kanzel, erhaben über dem Volke, näher dem Himmel als dieses.
Die Orgel schwieg; murmelnd betete der Dekan am Altare.
Rauschend setzte sich die Gemeinde. Der Dekan ging in die Sakristei. Der Hauptchoral brauste an die Gewölbe empor.
Wieder kam der Dekan zum Altar und begann seine Rede. Die Fichtenbäumchen dufteten und strömten im Duft ihr Leben aus zu Ehren des Tages. Wie aus weiter Ferne aber tönten die müden Worte über die Gemeinde hin.
Gerhard hörte die Worte, wie er vorher den Klang der Glocken gehört hatte. Aber aus den Worten hörte er nicht mehr wie vorher das lockende Kommt, kommt, es ist alles bereit. Ein Zittern lief über seine Glieder, seine Zähne schlugen abermals aufeinander.
»Du frierst?« raunte das Gräflein neben ihm.
Heftig schüttelte Gerhard den Kopf.
Nun glitt sein Blick empor am Stamme des gewaltigen Kreuzes, das hoch vom Gewölbe des Chores herabhing. Und sein Blick haftete am Antlitz des Gekreuzigten.
Es war das Schnitzwerk eines großen Künstlers aus alter Zeit. Dreihundert Jahre hing es in dieser Kirche, eines frommen Grafen unvergängliche Stiftung. Wer an 240 den süßlichen Schimmer der anderen Heilandbilder gewöhnt war, der wandte die Augen erschrocken von dieser Gestalt. Schwarze Haupthaare – wirkliche Menschenhaare – lagen wirr, fast konnte man meinen feucht vom Todesschweiße, auf den verzerrten Schultern. Hochgeschwollen, als müßten sie zerspringen, waren die blauen Adern an den wachsgelben Armen und Beinen. Blutüberströmt waren die durchbohrten Hände und Füße. Geschlossen waren die Augen im vorgeneigten Gesicht, der Mund geöffnet, als wollte er stöhnen. Wer an unwahre Bilder gewöhnt war, der mochte sich wenden von dieser Schmerzensgestalt des Mannes am Kreuz. Wer sich aber willig in seinen Anblick versenkte, dem leuchtete aus Erdenleid und Todesangst die Majestät des Gehorsams bis zum Tode sieghaft entgegen; der sah im Sterbenden den Überwinder aller Menschennot, der faltete wohl zuletzt die Hände und flüsterte ergriffen und gefangen: Mein Herr und mein Gott!
Unverwandt blickte der Knabe empor, und zuweilen glaubte er zu sehen, daß sich das Haupt zuckend bewege. Und was war das? Hatte der Heiland nicht soeben mit brechender Stimme aus seiner Höhe herab die Worte geseufzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Unverwandt sah der Knabe empor. Seit er denken konnte, war ihm das Bild bekannt und wohlvertraut. Aber so wie heute, so hatte er's noch niemals gesehen.
Immer ferner klang ihm die Stimme des Dekans. Als trübe Flämmchen brannten die Kerzen auf dem Altar. Und jetzt, jetzt glitt es wie ein Schimmer über das Antlitz des Heilandes dort oben am Kreuze – es war der Widerschein der Morgensonne; der flutete vom weißen Gewölbe herüber auf seine verklärten Züge.
»Ihr mögt euch wenden, wohin ihr wollt, Christus lebt, und seinen Augen könnt ihr nimmer entrinnen,« sagte der Geistliche am Altar.
241 Der Knabe saß, wie ihm dünkte, ganz allein in der weiten Kirche zu Füßen des Gekreuzigten. Er vernahm nichts von der Rede des Dekans. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und durch den Flor seiner Tränen war ihm, als bewegten sich die Lippen dort oben, und er glaubte zu hören: Es ist vollbracht.
Dann aber kam es: Rauschend erhob sich die Gemeinde. Stehend sang sie einen Vers. Der Dekan wandte sich betend gegen den Altar.
Die Hände des Knaben schlossen sich um Hutrand und Gesangbuch. Da entfiel ihm der blanke Hut und rollte weit hinaus über die Steinplatten. Es war Gerhard, als stünde sein Herz still. Dann aber pochte es um so stärker, pochte hinauf bis in den Hals.
Vorwurfsvoll streifte der Blick des Grafensohnes den Freund an seiner Seite. So etwas Ärgerliches könnte ihm selber doch niemals begegnen. Hochaufgerichtet stand er da, trotz aller Andacht dessen eingedenk, daß er ja doch der Vornehmste war unter all diesen.
Auf den Fußspitzen näherte sich der Kirchner und gab dem andern seinen schönen Hut zurück.
Und dann kam's, dann kam's –.
Der Dekan hielt die zitternden Hände hocherhoben und sprach mit leiser Stimme: »Nun, liebe Kinder, bekennt im Angesichte all dieser Zeugen, was ihr erkannt habt und glaubet. Ich glaube –«
Mit schallender Stimme fielen die Knaben und Mädchen ein, wie sie's noch gestern mit dem Vikar im Chor der Kirche geübt hatten: »Ich glaube an Gott den Vater –«. Und es war kaum eines unter allen, dem es nicht bitter ernst gewesen wäre mit dem uralten Bekenntnis der Kirche.
Halblaut, jede Silbe betonend, betete Gerhard. Und seinen schönen Seidenhut hielt er nun fest zwischen Daumen und Zeigefinger, krampfhaft fest. Er hatte den ersten Artikel 242 gebetet, von Gott dem Vater, dem allmächtigen, der Himmel und Erde erschaffen, er hatte den zweiten Artikel begonnen von Gott dem Sohne, und als er an die Worte kam ›gekreuziget, gestorben und begraben‹, da hob er die Augen auf zu dem Antlitz des Heilandes hoch droben im Chore. Mit lauter Stimme sprach er noch die Worte »gekreuziget, gestorben und begraben.« Dann aber schloß er den Mund, senkte das Haupt und starrte auf einen Grabstein vor seinen Füßen. Und während die anderen schrieen »niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel –«, stand er mit zusammengezogenen Augenbrauen und starrte vor sich hin auf ein abgetretenes, unkenntlich gewordenes Wappenbild, starrte und schwieg.
Fünfundvierzig Stimmen hatten das Bekenntnis bis zum letzten Worte abgelegt. Wer hatte gehört, wann die sechsundvierzigste Stimme verstummt war?
»Sag mal, warum hast du denn zuletzt nimmer gebetet mit uns?« flüsterte das Gräflein an seiner Seite und sah den Gespielen erstaunt an.
Aber Gerhard blickte geradeaus, preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Und er war sehr bleich, der Sohn des alten Frey.
Palmarum. Die braungoldenen Knospen der Kastanien hatten ihre Hüllen gesprengt und streckten der Sonne grüne, flaumige Spitzen entgegen.
Palmarum. Kleine Leute in lächerlich langen, schwarzen Röcken kamen aus der Kirche heraus in den Sonnenschein und freuten sich auf ein festliches Mahl. 243
Die Sonne war untergegangen, und auf den Höhen lag der feine rosige Schimmer des scheidenden Tages.
Über dem Bergfried der Grafenschlosses blähte sich die schwarzgoldblaue Fahne, und im Prunksaale standen die Fenster offen. Starke Frühlingsluft erfüllte den düsteren Raum.
Unverändert wie vor hundert und hundert Jahren ruhte das Städtchen am Fuße des Schloßfelsens; unverändert wie zu Zeiten der Türkenkriege stand der schwere Hausrat im alten, vertäfelten Saale.
An den Wänden aber hingen die Bilder von vielen Menschen, die einst als Kinder auf diesen Teppichen gespielt, als Gebieter die Huldigungen ihrer Untertanen angehört, als abschiednehmende Bräute mit Tränen an den Wimpern zum letztenmal oder als junge Frauen beklommen zum erstenmal ins weite Land hinaus geblickt hatten. Uralte Bilder auf kleinen Holztafeln, Männerköpfe mit bärtigen Gesichtern und wunderlichen Tuchkappen auf langen, lockigen Haaren; Frauen mit klösterlichen Hauben, verhüllt bis an die Augenbrauen, bis unter das Kinn; große Gemälde auf Leinwand, Mannsleute in Lebensgröße, barhäuptig, in blinkendem Harnisch, umwallt von der verlogenen Fülle fremden Haarschmuckes, mit trotzigen Augen, mit kühnen Schnurr- und Knebelbärten; kaltblickende Frauen mit Perlenschnüren in den Haaren, Frauen mit weißen, steifen Halskrausen, auf denen das Haupt lag wie auf einem mattglänzenden Teller; putzige Kindergestalten mit Federhüten auf den Lockenköpfchen, mit Puffärmeln und lang und steif bis auf den Boden herabreichenden Kleidchen. Und endlich Bilder aus naher Vergangenheit, Leute, deren Stimmen man noch zu hören vermeinte so zwischen Lichten in diesen Gemächern: Männer mit gepuderten, über den 244 Ohren feingerollten Haaren und steif abstehender Zopfmasche im Nacken, mit dem duftigen Spitzengebilde im offenen, farbenfrohen Rocke, mit großem Silberstern über dem Herzen; Frauen mit hochgetürmten, mehlbestreuten Frisuren, Damen, deren halbentblößte Brüste angstvoll aus engen Schnürleibern wie aus Porzellanvasen hervorquollen, kecke Damen mit hochgeschürzten Kleidern, durchbrochenen Strümpfen, Stöckelschuhen, vornehme Damen mit schwarzen Pflästerchen im Gesicht und mit dem alles beherrschenden Schäferstab in der Hand.
In diesen Augen hatten sich die brennenden Burgen des Bauernkrieges gespiegelt, unter diesen Miedern hatte es zum Zerspringen gepocht, als die Masse der Geknechteten im Lande flüssig wurde und sich brodelnd heranwälzte gegen die Mauern der Vornehmen. Diese Leiber waren erschauert unter den Schrecken des dreißigjährigen Krieges, und jene abgelebten Züge trugen sichtbare Spuren schändlicher deutscher Verwelschung.
Diener in festlichen Kleidern mit schwarzgoldblauen Fangschnüren, gepuderte Diener mit glatten Gesichtern, standen jetzt an den Wänden zum Dienst bereit. Im Lichterglanze des Kronleuchters blinkte eine reichgedeckte Tafel, funkelte der Silberschatz, dufteten die Blumen des Gewächshauses.
Noch einmal ging der alte Kammerdiener im schwarzen Leibrock um die Tafel, rückte hier eine Gabel, stellte dort ein Weinglas zurecht. Der Koch kam und setzte eigenhändig die Schalen mit Süßigkeiten zwischen die Blumen. Dann begab sich der Kammerdiener mit kurzen, leisen Schritten zur Meldung in den Empfangssaal, kehrte zurück und öffnete die Flügel.
Gedämpftes Plaudern und Lachen erklang von ferne und kam näher durch die Flucht der Gemächer. Paarweise 245 zogen sie ein zum festlichen Mahle: Der Graf und seine greise Mutter, zwei Schwestern der Gräfin und zwei französische Leutnants, die Gräfin und der französische Kapitän, die zwei halbflüggen Komtessen und der junge Vetter Brocken; endlich die beiden Konfirmierten mit dem Hauslehrer.
Sie standen an ihren Plätzen. Das Plaudern verstummte. Der Graf faltete seine Hände und befahl halblaut: »Johann!« Mit heller Stimme sprach der kleine Graf das Tischgebet.
Die Herren verneigten sich gegen die Frauen, die Frauen nickten, geräuschlos schoben die Diener die Stühle zurecht, und geräuschvoll setzte sich die Gesellschaft.
Die Suppe dampfte in den Tellern, und der Leibjäger begann den Tischwein in die Gläser zu gießen.
Als er zum französischen Kapitän kam, wandte sich dieser und sagte in herrischem Tone: »Ich beginne mit Champagner.«
Der Jäger zog die Flasche zurück und warf einen fragenden Blick auf seinen Herrn. Der war rot bis unter die Haare geworden und nickte fast unmerklich. Bald darauf knallte im Vorsaale der Pfropfen.
Schweigend löffelten die Frauen ihre Suppe, geräuschlos glitten Diener hin und wieder. Die Komtessen sahen sich verstohlen an und lachten mit den Augen. Der Kapitän aber rief zu den beiden Konfirmierten hinüber: »Ein lustiges Fest heute, ihr Kinder – nicht? Solche Zeremonien lasse ich mir gefallen.«
Die Knaben sahen einander an, und der wohlerzogene Graf antwortete halblaut in französischer Sprache: »Gewiß, mein Herr Kapitän.« Gerhard aber warf einen Blick auf den Franzosen, richtete sich empor und sagte auch auf französisch: »Wir sind konfrrmiert worden, mein Herr.«
»Gewiß – konfirmiert, ganz recht.« Der Franzose hob das Glas und trank es aus. »Erstkommunion, an und für 246 sich eine sinnlose Zeremonie, aber, wie ich sage, ganz hübsches Fest mit Geschenken, Champagner und dergleichen.«
Unwillkürlich wandten sich die Gesichter der Kinder dorthin, wo die Großmutter saß. Die Greisin aber verzog keine Miene, legte den Löffel auf den Teller und sagte mit heller Stimme: »Ich hoffe doch, daß unsern Knaben die heilige Handlung keine sinnlose Zeremonie gewesen ist.«
Der Graf räusperte sich und murmelte Zustimmendes, das niemand verstand, und der Franzose verneigte sich lächelnd. »Ich erinnere mich meiner Erstkommunion noch sehr wohl Frau Gräfin. Zuerst war die langweilige Geschichte in de Kirche, dann führte mich mein Pate ins Wirtshaus, und also feierte ich meinen Eintritt ins Leben würdig mit dem ersten Rausche und wußte wahrhaftig nicht, wie und wann ich ins Bett kam.«
»Jeder nach seiner Art,« sagte die Gräfin-Witwe und machte ein hochmütiges Gesicht, saß kerzengerade und nahm einen Schluck Wasser.
Die Lakaien brachten das erste Gericht, der Franzose aber hob das frischgefüllte Glas und trank es leer.
Die Soldaten begannen vom Krieg und von fremden Völkern zu erzählen und hieben tapfer in die Schüsseln. Mit halblauter, gemessener Stimme gab der Graf sein Teil zum Besten, schweigend aß die Gräfin-Witwe, und mit immer gleichem Lächeln quittierte die Gräfin-Gemahlin jedem seinen Beitrag zum Tischgespräch. Die Kinder schwiegen.
Nach einer Weile erhob sich der Graf und sprach stockend den kurzen Trinkspruch auf seinen Landesherrn. Stockend, denn dieser Pflichtspruch auf den Rheinbundfürsten, der die Grafschaft eingesteckt hatte, ward ihm noch jedesmal blutsauer, dem stolzen Reichsgrafen von gestern.
247 Im Dämmerlichte lag der Marktplatz. Jauchzende Kinder haschten einander, in langen Ketten spazierten rings um den Grafenbrunnen die Burschen und Mädchen – fein säuberlich getrennt, wie es die Sitte gebot. Dazwischen aber klirrten französische Reiter in ihren Sonntagsmonturen, fast lauter deutsches Volk. Und sie suchten sich an die Mädchen anzupirschen, unbekümmert um Sitte und Herkommen. Die einheimischen Burschen machten eifersüchtige Augen und wagten doch nichts. Die Mädchen aber gingen eng verschlungen und unbeirrt; sie waren sich ihrer geschlossenen Überlegenheit bewußt und dennoch heimlich durchschauert von widerstrebenden Gefühlen beim Anblick der klirrenden Macht.
Plaudernd saßen und standen die Alten vor ihren Türen.
Da begann die große Glocke der Pfarrkirche mit tiefer Stimme zu rufen, und gleich einem gehorsamen Kinde antwortete das Stimmlein der Schloßglocke herunter ins Tal. Jählings verstummten sie alle, die Jungen und die Alten; und auch von den Fremden schlug manch einer heimlich das Kreuz.
Zitternd verklangen die Töne in der lauen Luft, und nach allen Seiten liefen die Kinder auseinander. Auch aus den Ketten der Mägdlein löste sich die eine und andere Gestalt und huschte heim. Die übrigen aber schlossen sich noch enger zusammen. Schwatzend und kichernd bewegten sie sich – wie lange Uhrenzeiger um den alten Brunnen. –
Noch immer glotzte der Fette Ochse von seinem steinernen Sockel herab auf den Marktplatz, und weitgeöffnet waren die Torflügel, wie damals anno 1796; und wie damals stand ein ungefüger Reisewagen im großen Hof.
Zwei schwere Rosse klapperten hintereinander aus dem Stalle über die Katzenköpfe des Pflasters. Eine Öllaterne warf ihr unsicheres Licht auf die dreifachen Holzaltanen der Hofgebäude, und am dunkeln Himmel glänzten die Sterne.
248 Hinten, zu ebener Erde, waren die Fenster offen, und lautes Gelächter tönte heraus in den Hof. Und während der Kutscher den Handgaul heranführte, sagte er zum Hausknecht, der die Stränge des Sattelgaules ans Wagenscheit spannte: »Die Herrenleut' da drinnen im Hofstübel kümmern sich aber auch nit viel um den heiligen Palmtag.«
Ihm entgegnete der Hausknecht: »Jetzt um die Zeit – das ist noch gar nix; um Mitternacht mußt wiederkommen, da kannst was erleben.« Und er begann leise zu pfeifen.
»Wer sind's denn?«
»Lauter Studierte.«
Zwei dunkle Gestalten kamen über den Hof, ein großer, hagerer und ein kleiner, dicker Mann. Und abermals ließ der Knecht das leise Pfeifen hören. Und als die beiden im Hinterhause verschwanden, sagte er: »Schau, schau – du gehörst also auch zu denen im Paradies?«
»Wer denn?« fragte der Kutscher und stieg auf den Bock.
»Der neue Herr Vikar.«
»Und warum soll ein Vikar nit ins Paradies dürfen?« meinte der Kutscher und wühlte in seinem Geldbeutel.
»Ein sauberes Paradies!« Der Knecht nahm das Trinkgeld und reichte die Zügel hinauf. Der Wagen rollte hinein in den hallenden Torweg.
Eine Magd kam an den Brunnen und bewegte den pfeifenden Schwengel. »Laß, ich will dir pumpen,« sagte der Knecht und schob sie zur Seite.
Aus den offenen Fenstern des Paradieses aber tönte nun gewaltig der Gesang zechender Männer:
Sonst war erwünschte Zeit,
wenn unsre Hieber klirrten
und feine Mädchen schwirrten
ohn' alle Sprödigkeit –
o alte Zeit! 249
Nun ist verwünschte Zeit.
die Gänsefedern pfeifen,
die groben Weiber keifen
ganz ohne Schüchternheit –
o neue Zeit!
Sonst war erwünschte Zeit,
wenn sich die Rosse bäumten
und ins Gebisse schäumten,
zur tollen Jagd bereit –
o alte Zeit!
Nun ist verwünschte Zeit,
es geht mit Schustersrappen
und aufgeflickten Lappen
im Alltagskleid –
o neue Zeit!
Sonst war erwünschte Zeit,
wenn blanke Klingen blitzten
und volle Adern spritzten,
dir oder mir zuleid –
o alte Zeit!
Nun ist verwünschte Zeit,
der Wind streicht her aus Norden,
das Blut ist dick geworden,
ich such' dich weit und breit –
o alte Zeit!
Warum denn weit und breit?
Zu jeder guten Stunde
steigst du aus Bechersgrunde
in neuer Herrlichkeit –
o alte Zeit!
Komm her, du alte Zeit,
mit Lachen und mit Singen,
mit Peitschenknall und Klingen,
stoßt an, wir sind bereit –
o alte Zeit! 250
O liebe, alte Zeit,
wir halten dich in Händen,
du sollst uns nimmer enden
trotz Tod und Ewigkeit –
du alte Zeit!
Vier Talgkerzen brannten auf dem großen, runden Tische, und im unsicheren Lichte, im Qualm der Tabakspfeifen, saßen eng nebeneinander sechzehn Gestalten auf hochlehnigen Stühlen. Ein behäbiger Herr hob den Degen und schlug dreimal mit der flachen Klinge zwischen die Krüge auf die Platte. Dann stand er auf und begann, zum Vikar gewendet:
»Altes, bemoostes Haupt! Wir kennen dich nicht, und wir kennen dich doch; du bist noch nie unter uns gewesen, und ist uns doch, als wärest du immer bei uns gesessen. An der Nasenspitze ist dir's anzusehen, daß du Fleisch bist von unserm Fleisch und Art von unserer Art. Zur Zeit freilich blickt diese Nasenspitze traurig hinein in eine Welt, die ihr neu ist, und schnüffelt mißtrauisch in eine Luft, die zahmer weht als auf hohen Schulen. Einerlei, auch du hast nun die Brücke überschritten, die hinter uns allen liegt, und mußt dich häuslich machen im fremden Lande. Was du auch draußen bist in den Ringmauern dieses Nestes zu Füßen des hochgräflichen Felsens – es kümmert uns nichts. Bist du aufgestellt, mensa, mensae zu treiben mit den Buben der Bürger, so prügele sie; sollst du klarliegende Rechtsfälle mit Kunst verwickeln zu unentwirrbaren Knäueln, so tu's. Bist du willens, das physische Ende der Menschen zu beschleunigen durch Arzeneien und Messer, so treibe deine Kunst im Schatten des Gesetzes; ist es dein Geschäft, die kargen Freuden der Menschen zu vergällen durch dunkle Prophezeiungen und griesgrämige Sprüche, so tu, wofür du bezahlt wirst. Was du auch draußen bist, es kümmert uns nichts. Aber da hierinnen gehörst du uns, da bist du nicht Schulmeister 251 und nicht Doktor, da bist du nicht Juriste und am allerwenigsten Pfaffe, da bist du nur – hörst du? – Bursch unter Burschen und hast draußen zu lassen, was nimmer hereinpaßt, und hereinzubringen, was draußen nicht gilt. Und wenn du das alles beherzigst, dann findest du hier hinten im Hofe des Fetten Ochsen wahrhaftig ein kleines Paradies zwischen den Runzeln der alten Erde. Und also – vivat, ihr Brüder!«
Sie sprangen von ihren Stühlen und stießen ihre Krüge an den Krug des Vikars und brüllten ihr Vivat. Und damit war dieser aufgenommen in die Kumpanei der alten Studenten des Städtleins.
Droben im Schlosse ging das Festmahl seinem Ende entgegen.
Wiederum hatte der Franzose das Gespräch auf die Bedeutung des Tages gebracht; denn es reizte ihn, die alte Gräfin herauszufordern. Und so rief er mit seiner durchdringenden Stimme, als hielte er auf dem Exerzierplatze: »Fürs gemeine Volk ist die Religion eine vortreffliche, vielleicht eine unentbehrliche Einrichtung – allerdings, um Vergebung, hauptsächlich die katholische Religion, als die einzige Volksreligion unter unserem Himmelsstriche. Und so ist es auch ganz in der Ordnung und klug gehandelt, wenn die höheren Stände die religiösen Zeremonien mitmachen und dem Volke mit ihrem Beispiele vorangehen. Im Ernste aber glaubt ja heute doch niemand mehr von uns allen an diese alten Märlein – nicht wahr, Frau Gräfin?«
»So –?« kam's gedehnt zurück.
»Möchte auch wahrhaftig wissen, wie weit einer in dieser Welt der klirrenden Waffen käme mit dem Palmenstengel der Demut in der Hand!«
»Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen,« sagte die Gräfin-Witwe.
252 Der Franzose lachte: »Dieses Rezept sollte einer dem Kaiser verraten.«
»Ich vermute, er kennt es, Herr Kapitän, und er ahnt wohl auch, daß jenes Reich größer ist als das seinige,« sagte die Gräfin-Witwe.
»Größer unter Narren und Schwärmern, Frau Gräfin,« lachte der Franzose. »Nein, nein, Sie irren; Religion ist heutzutage ein dürrer Ast, und keinem darf man raten, daß er sich im Ernste daraufsetze.« Er machte eine Pause und sah herausfordernd umher. Dann rief er plötzlich und unvermittelt: »Es lebe die Erstkommunion!« Aber nur die beiden Leutnants hoben pflichtschuldigst die Gläser; die anderen alle saßen und rührten sich nicht. Der Kapitän biß sich auf die Lippe, schüttete den Wein hinunter und reichte das leere Glas über seine linke Epaulette zurück. Hastig nahm es der Leibjäger und stellte es gefüllt auf den Tisch.
Die Gräfin-Witwe aber griff nun den Kampf auf: »Wo keine Religion ist, da klafft ein leerer Raum. Und was wohnt also bei euch Franzosen an Stelle der Religion?«
Der Franzose reckte sich: »Die Ehre!«
»Herr Kandidat,« rief die Gräfin zum Hauslehrer hinüber, »kann die Ehre die Religion ersetzen?«
»Es kommt darauf an, hochgräfliche Exzellenz, was der Herr unter Ehre versteht. In der Bibel ist vom ersten bis zum letzten Blatte zu lesen von der Ehre des Menschen.«
»Bis dann im Neuen Testamente diese Art von Ehre zusammenbricht unter dem Spruche von den zwei Ohrfeigen,« unterbrach ihn der Kapitän. »Aber ich vermute, daß die Deutschen von Ehre zunächst überhaupt noch nicht allzuviel verstehen.«
»Wieso, mein Herr?« fragte nun der Graf.
»Ich bedauere. Ihnen von einer Wahrnehmung erzählen zu müssen.« Der Franzose strich lächelnd seinen Bart. »Es 253 ist noch nicht lange her, da lagen wir einige Monate in einer deutschen Universitätsstadt. Ich interessierte mich für die fremden Sitten und knüpfte mit den Vornehmsten der Studenten Bekanntschaft an. Und da machte ich meine Wahrnehmungen. Herr Kandidat, Sie waren auch einmal Student?«
»Natürlich, mein Herr. Vor kurzem noch und in honoriger Gesellschaft.«
»Nun, dann frage ich Sie, kennen Sie das Sprüchlein:
Es sind nur Ehrenwort gewesen.
Es ist doch alter Brauch und Sitt,
daß Ehrenwort die binden nit –«
Der Offizier hatte die Verse auf deutsch gesprochen.
»Ich habe das Sprüchlein wohl auch schon gehört.«
»Und nun frage ich Sie, wenn ein Student sein Ehrenwort verletzt, was geschieht ihm?«
Eifrig versetzte der Kandidat: »Also will es der Brauch: Wer es das erstemal bricht, muß freundschaftlich, wer es das zweitemal bricht, muß ernsthaft ermahnt werden.«
»Und wer es das drittemal bricht?«
»Der wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen,« stotterte der Kandidat.
»Also doch ausgeschlossen?« Der Kapitän schnitt ein höhnisches Gesicht. Dann rief er laut über den Tisch: »Und wissen Sie, wie wir französischen Offiziere es in diesem Punkte halten? Wenn einer sein Ehrenwort gebrochen hat, dann schicken wir ihm den schwarzen Kasten mit den Pistolen.«
»Sogleich?« fragte der Kandidat.
»Sogleich?« Der Franzose schnitt eine Grimasse. »Jawohl, sogleich. Auf was denn noch warten? Kann er das Ehrenwort, das er einmal gebrochen hat, zum zweitenmale brechen? Mein Herr, wächst uns denn die Ehre nach wie der Eidechse der Schwanz? – Diener, noch ein Glas! Und mit solchen Männern, mein Herr Graf, erobert der Kaiser den Erdkreis.«
254 Es war totenstille im Saale, und mit Hingebung begann sich der Kapitän der süßen Speise zu widmen. Die Gräfin aber an seiner Seite flüsterte lächelnd: »Herr Kapitän, glauben Sie, daß das Philosophieren zu den Tafelfreuden zu rechnen ist?«
Der Fremde verneigte sich leicht. »Wie die gnädigste Gräfin befehlen. Nur noch einen Augenblick. Haben Sie heute morgen von Ihm gehört, Herr Graf?«
»Von wem –?«
»Nun, wenn ich von Ihm spreche, so spreche ich vom Kaiser,« kam's in drohendem Tone zurück. »Und ich denke, das Städtchen ist voll von der Nachricht.«
»Man hat uns gesagt, daß Seine Majestät heute nacht draußen im Lande die Heerstraße passiert hat,« antwortete der Graf mit Zurückhaltung.
»Also vermisse ich, daß noch niemand den schuldigen Trinkspruch auf Seine Majestät den Kaiser ausgebracht hat,« rief der Franzose. »Diener, füllen sie die Gläser – alle Gläser bis an den Rand!«
Die Diener warfen nicht erst verstohlene Blicke auf ihren Herrn. Sie glitten eilig und füllten die Gläser. Und mit finsterem Gesichte saß der Graf, der nichts mehr zu sagen hatte in seinem eigenen Schlosse.
Der Franzose erhob sich: »Seine Majestät der Kaiser, gleich einem Blitze fährt er herauf, und geblendet schließen die Völker ihre Augen. Die Straßen stäuben unter den Hufen seiner Rosse wie unter dem einherfegenden Sturmwinde, und der Sand fliegt den Unterworfenen in die Augen. Wenige Menschen haben sich ein Ziel gesetzt, sehr wenige von ihnen verfolgen ihr Ziel; dann und wann verfolgt ein Genie zu jeder Stunde sein Ziel – und dieses ist Herr über die sehr wenigen, die wenigen und über die Zahllosen. Seine Majestät der Kaiser ist solch ein Genie, 255 und auf den Fittichen der Ehre werden seine Befehle getragen in alle Lande. Ehre heißt die neue Religion, und sie hat die Verheißung, daß ihr der Erdkreis gehört. Ehre ist die Religion der Herren, und es steht in den Sternen geschrieben, daß eine Nation herrsche in Ehren, und daß ihr die anderen dienen als Knechte.«
Alle waren aufgestanden, alle hatten ihre Gläser erhoben. Die Gläser klangen zusammen. »Es lebe der Kaiser!«
»Warum stehst du denn nicht auf?« sagte der Grafensohn leise zu Gerhard, und der Kandidat stieß sein Glas an das des Konfirmierten. Der aber saß zurückgelehnt auf seinem Stuhle, hatte die Fäuste in die Hosentaschen gebohrt und sah störrisch vor sich hin.
Alle hatten sich gesetzt, nur der Franzose stand noch mit dem vollen Glas in der Rechten. »Haben Sie gehört, junger Mensch da drüben – der Kaiser –?«
»O ja, ich hab's gehört.«
»Nun also – Glas nehmen, aufstehen und sprechen – es – lebe der – Kaiser –!«
Der Knabe rührte sich nicht.
»Wird's bald –?« drängte der Franzose. Und auf der einen Seite zischelte der Kandidat, auf der anderen puffte der Grafensohn.
Da brach der Knabe mit bebender Stimme los: »Lieber lass' ich mich totschlagen.«
»Oho, warum denn, junger Mensch?«
»Weil – ich ihn hasse.«
»Ihr Sohn –?« Der Franzose richtete die schwarzglitzernden Augen auf den Grafen.
Zögernd antwortete dieser: »Der Sohn meines Arztes.«
Der Franzose leerte sein Glas und schleuderte es über die Köpfe an die Wand. »Junger Mensch, merken Sie sich: Er wird nicht kleiner durch Haß, und Er hat noch alle seine 256 Feinde bezwungen. Gegen Kinder freilich kämpft weder der Kaiser noch sein Soldat.«
Schweigend knabberten die Damen am Konfekt, schweigend aßen die Herren vom Käse. Dann glitten die Diener und stellten die dunkeln Schalen und die Gläser mit dem warmen, wohlriechenden Wasser vor Herrschaft und Gäste.
Als stände er vor seinem Waschtische, so kräftig spülte der Franzose seinen Rachen und spuckte geräuschvoll in die Schale. Hinter den Grafen aber trat der Kammerdiener und flüsterte, was nur sein Herr verstehen konnte. Die Rechte des Grafen lag auf dem Tisch und spielte mit dem Mundtuch. Kein Zug veränderte sich in seinem glatten Antlitze; nur die Augen flackerten, und die Finger schlossen sich krampfhaft um das Tuch.
Die Gräfin erhob sich, und lächelnd bot ihr der Franzose den Arm. Ruhig, als wäre nichts geschehen, führte auch der Graf seine Mutter aus dem Saale.
Der Letzte war der Kandidat mit den beiden Konfirmierten. Vor ihnen ging der junge Brocken mit den Komtessen. Der Grafensohn hatte den Arm in den seines Lehrers geschoben. Der Sohn des Arztes aber ging nebenher mit gesenktem Kopfe.
Da wandte sich der Grafensohn zurück: »Hör mal, Gerhard, es ist ja ganz nett gewesen, was du gesagt hast, aber –«
»Was aber, Johann?«
In diesem Augenblicke kam der Graf mit raschen Schritten aus dem Empfangssaale zurück; er machte ein finsteres Gesicht und ging wieder in den Speisesaal.
»Aber so 'was hätte ich in Gegenwart meines Herrn Papa niemals gewagt,« vollendete der Grafensohn. »Hab' ich nicht recht, Herr Köhler?«
Der Kandidat flüsterte mit trockenen Lippen: »Er hat's ihm doch ordentlich heimgegeben, dem frechen Franzosen.«
257 »Es ging um die Ehre,« sagte Gerhard Frey.
Da wandte sich Brocken und lachte: »Ach was, unsereiner hat doch noch gar keine Ehre.«
»Keine Ehre?« Der Arztensohn reckte sich. »Und wann kriegen denn Sie Ihre Ehre?«
Brocken lachte noch immer: »Ich glaube mit achtzehn Jahren. Aber ich will mich vorher noch einmal erkundigen. Es hat ja Zeit.«
»Dummes Zeug!« murmelte der Kandidat. Aber man konnte nicht so recht verstehen, was er sagte und wen er meinte.
Die Ältere der Komtessen lehnte neben der Türe zum Empfangssaale, zog ihr Gesichtchen schief, verdrehte die Augen und rang die Hände: »Abscheulich heute – nicht wahr, Herr Köhler? Aber Sie, Gerhard, na, Sie haben sich tapfer gehalten, das muß man Ihnen lassen.«
Gerhard war dunkelrot geworden und griff zaghaft nach der hingestreckten Hand. Das Gräflein aber meinte sorglich: »Es kommt doch noch sehr darauf an, was unser Herr Papa dazu sagt.«
Die schlanke Komtesse wandte ihm das feine, schmale Gesichtchen zu und sagte von oben her: »Ei, Brüderchen, ich hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn ihr alle miteinander sitzen geblieben wäret.«
»Jawohl, daß der Kaiser käme und unser gutes, altes Schloß in die Luft sprengte. Nein, Schwester, wir Grafen können da nicht mittun; wir haben politische Rücksichten zu nehmen.«
Im Speisesaal stand der alte Kammerdiener vor seinem Herrn. »Ich will zu ihm –!« sagte dieser.
Eilig ging er den Korridor entlang, und neben ihm trippelte der Alte, immer einen Schritt hinterdrein, und 258 erzählte hastig atmend, mit bebender Stimme: »Der lange Michel ist doch sonst ein so ruhiger Mensch, aber heute hab' ich ihn gar nimmer gekannt.«
»Also noch einmal, wie ist's angegangen?« forschte der Graf und ging die Stiege hinunter.
Klirrende Schritte kamen hinterdrein, und der Franzose drängte sich neben den Grafen. »Ich höre, es hat Streit gegeben zwischen Ihren Leuten und meinen Soldaten?«
»Ich begebe mich soeben an die Stätte des Unglücks, Herr Kapitän.«
»Warst du dabei?« herrschte dieser den Kammerdiener an.
»Zuerst nicht, Herr Kapitän. Die Herren Soldaten wurden drunten im Saal gespeist, und der lange Michel wartete ihnen auf.«
Der Graf übersetzte die Worte des Alten.
»Wer ist der lange Michel?«
»Ein Jägerbursche,« sagte der Graf.
»Also weiter, Kammerdiener!«
»Nun also, ich hatte die Ehre, die Herrschaften bei der Tafel zu bedienen. Doch als ich vorhin, gegen Ende der Tafel, hinabkam, sah ich den langen Michel am Tische der Herren Soldaten stehen, und vor ihm stand der kleine Herr Wachtmeister.«
»Mein braver Wachtmeister,« sagte der Kapitän drohend.
»Und der lange Michel hatte den Herrn Wachtmeister an beiden Schultern gepackt –«
»Einen Soldaten des Kaisers?« schrie der Kapitän.
»Aber ich muß doch alles erzählen?« fragte der Kammerdiener ängstlich. »Und der lange Michel rief: ›Du, das sag du noch einmal!‹ Da riß sich der Herr Wachtmeister los, griff in die Tasche, streckte den linken Arm aus, warf sich in die Brust und rief, wie wenn er wollte – ich muß doch alles erzählen? – wie wenn er Komödie spielen wollte: ›Sengnörs 259 – Herren – wirr‹ – o, ich hab's wohl verstanden, so viel Französisch kann ich, ›wirr‹, sagte er, und damit schlug er sich auf die Brust – ›mäh schiängs, Hunde, Deutsche, wuh, irr –!‹ Und damit tippte er den langen Michel mit dem Zeigefinger vor die Brust. Das verstand nun aber der Michel nicht.«
Der Graf übersetzte.
»So, er hat's nicht verstanden, der lange Michel? Es ist aber doch deutlich gewesen,« unterbrach ihn der Kapitän.
»Nein, er hat's gewiß nicht recht verstanden,« sagte der alte Mann bekümmert; »denn es ist doch nur Spaß gewesen von dem Herrn Franzosen, und der lange Michel hätte lachen sollen – so aber, ach du Gott, griff er den Herrn Franzosen an, preßte ihm die Arme an den Leib, hob ihn hoch, hielt ihn weit ab, trug ihn, so sehr dieser auch zappelte und kreischte, hinaus vor den Saal und schloß die Türe. Aber – um Vergebung, ich muß doch alles genau so erzählen, wie ich es gesehen habe? – wie eine Katze sprang der Herr Franzose wieder herein, sprang an dem langen Michel hinauf und stieß ihn vor die Brust. Da wankte der lange Michel und stürzte zusammen.«
»Es ist ihm recht geschehen,« sagte der Kapitän und kehrte um.
»O, wenn er doch nur den Spaß verstanden hätte, der lange Michel!« jammerte der Kammerdiener. »Ist er denn nicht der Einzige von seiner alten Mutter?«
»Wo liegt er?« fragte der Graf mit tonloser Stimme.
»Wir haben ihn da herein gelegt.« Der Kammerdiener öffnete eine Türe am Ende des Korridors zu ebener Erde.
Im Paradies brannten die Talgkerzen düster genug und vermochten den Qualm kaum noch zu besiegen.
Die Stimmen schwirrten. Neben dem Vikar saß der dicke Königliche Notar. Der nahm gerade einen kräftigen Schluck, 260 sog den Rauch aus seiner Pfeife und paffte ihn nachdenklich in die Höhe. »Da bleibt nimmer viel übrig, Bruder, wenn man die neue Theologie bei Lichte beschaut.«
»Noch immer genug.« Der Vikar kicherte in sich hinein. »Mir langt's.«
»Da hast du's ja eigentlich nur noch mit dem ersten Glaubensartikel, Bruder?«
»Nun also!«
»Ei, den tät' ich aber auch noch ab, Herzbruder.«
»Und warum denn?« Der Vikar sah den Dicken mißtrauisch an. Der aber machte ein bekümmertes Gesicht. »Schau, der erste Artikel allein – da steht's doch drinnen von einem Allmächtigen, der volle Gewalt hat über uns, und schau, ich fürcht' mich nicht leicht, aber vor dem könnt's einem schon grauen. Denn ich will doch leben und will leben auf meine Art. Und da könnt' sich's auf einmal fragen, ob's dem da oben auch recht ist, so wie ich's treibe. Ich sag' dir, Bruder, der erste Artikel – weg auch mit ihm! Der erste Glaubensartikel ist zu viel zum Leben und –.«
»Und?« fragte der Vikar.
»Ei, wenn du's wissen willst – zu wenig zum Sterben.«
Ärgerlich ergriff der Vikar den vollen Krug und wandte sich zu seinem andern Nachbarn: »Prost, Bruder!« Und er trank den Krug bis auf den Grund aus und machte die Nagelprobe.
»So ist's recht,« rief der Assessor, trank Bescheid und schwenkte auch seinen Krug. »Laßt doch das öde Geschwätz von der heiligen Theologie! Wir wollen lustig sein. Aber mir scheint's, Bruder, du hast eine respektable Gurgel. Du hast nun in der halben Stunde vier Krüge geleert.«
»Predigen macht eine trockene Kehle,« rief ein anderer.
»Aber ich mein', das Saufen schlägt dir nicht an,« setzte der Assessor hinzu.
»Wenn mir's anschlüge, ihr Brüder, dann müßte ich 261 dick sein wie ein Prälat,« lachte der Vikar. »So aber – ihr Brüder, habt ihr schon einen so zaundürren Doctor cerevisiae gesehen?«
»Potz, du bist Doctor cerevisiae?« fragte der Assessor fast ehrerbietig. »Und mit wieviel Halben hast du doktoriert?«
»Mit fünfundvierzig Halben auf einem Sitz,« sagte der Vikar. –
Im Hofe draußen entstand ein Tumult. Die Türe sprang auf, und ein Mann wurde in die Stube geschoben.
»Der Salomon – der weise Salomon!« riefen sie von allen Seiten.
»Ihr Herren, ich bitt' euch, lassen Sie mich gehen, wie ich bin gekommen.«
»Nichts da, Salomon, du mußt uns jetzt eins vorsingen,« brüllte der Rechtspraktikant und schob den Juden am Genicke gegen den Tisch vor.
»Wie heißt singen? Der junge Herr will sich machen mit dem armen Salomon einen Spaß?«
»Singen – singen!« riefen sie durcheinander.
»Lassen Sie mich heim, gnädige Herren, es liegt mir krank ein Kind, mein jüngstes, und es ist mir nicht zum Lachen und es ist mir nicht zum Singen, warum sollt' ich also lachen, warum sollt' ich singen in der bösen, betrübten Zeit?«
»Er lügt,« sagte der Rechtspraktikant.
»Bei Gott, er lügt nicht, ihr Herren; es ist wahr, was er gesagt hat.«
»Und wenn auch,« rief der Notar durch den Qualm; »du hast – Salomon, wieviel Kinder hast du?«
»Elfe, Herr Notar.«
»Also, was heulst du alter Stallhase, wenn eines krank ist von den elf Stallhasen, den jungen?«
»O Herr, ist uns nicht immer das Liebste von allen das Kind, wo ist krank?«
262 »Weiß ich's?« rief der Notar zornig. »Bin Junggeselle!«
»Salomon, du mußt bedenken, daß der Notar unmöglich wissen kann, welches von all seinen Kindern eben gerade krank ist,« rief ein anderer am Tische.
»Ich verbitt' mir solche Scherze,« murrte der Notar und nahm einen Schluck.
»Ruhe, ihr Herren!« rief ein Dicker von der anderen Seite herüber. »Und du, Salomon, sing!«
Der Jude machte ein klägliches Gesicht. »Haben Sie Barmherzigkeit, gnädiger Herr, ich kann nicht singen, es ist mir, als tät' mir stecken im Hals ein Brocken, ein großer.«
In diesem Augenblick wurde dem Notar eine Wurst gebracht. Mit einem grimmigen Blick auf den Juden teilte er die fette Wurst, steckte die eine Hälfte in den Mund, nahm die andere vom Teller und trat vor ihn: »Da hast einen Brocken!«
Salomon bog den Kopf zurück und sagte: »Bin ich 'n Hund, daß Sie mir reichen ein Stück von Ihrem Teller, wo ich doch nichts will von Ihnen?«
»Oho, Jude, du wirst frech,« rief der Notar. »Maul auf!«
Der Jude zitterte am ganzen Leibe: »Sie sollen mich lassen in Ruhe.«
Einer nach dem andern war aufgestanden und nahegetreten. Sie pafften und lachten und hetzten und höhnten, und mitten in dem qualmenden Knäuel stand der Hebräer in seinem schwarzen Kaftan, und seine Blicke fuhren hilfesuchend von einem zum andern, seine Locken baumelten heftig, und mit vorgestreckten Händen rief er: »Sie machen Spaß, die Herren, die gnädigen, wo sie doch wissen, daß es mir Sünde ist, zu essen von dem Unreinen.«
»Was mir, dem Königlichen Beamten, rein ist, das kann auch dir rein sein,« sagte der Notar mit Würde. »Also – Maul auf!«
263 Lachend und paffend standen sie alle um den kleinen Mann. Der Rechtspraktikant aber packte ihn von hinten und preßte ihm die Arme an die Seiten.
»Maul auf!« befahl der Notar.
Da erspähte der Hebräer den Vikar unter den anderen und rief: »Euer Wohlehrwürden, ich wollt' Sie haben gebeten, daß Sie mir helfen in meiner Bedrängnis, daß Sie zureden den Herren, Ihren Freunden, daß sie nicht Unrecht tun an mir.«
»Ich bin fremd hier und kenne die Ortsgebräuche nicht,« lachte der Vikar.
Und ringsumher qualmten sie und wieherten und johlten.
»O, Sie wissen doch auch, daß einer halten muß, was ihm vorschreibt der Glaube seiner Väter, Herr Vikar –?«
Die Türe ward aufgerissen, und der Hausknecht stand auf der Schwelle: »Herr Vikar, Sie sollen aufs Schloß.«
»Wer hat's gesagt?« fragte die hohe Stimme aus dem Qualm.
»Der Herr Graf läßt bitten,« rief nun der Lakai hinter dem Hausknecht.
Da trat der Vikar mit der Pfeife unter die Türe, und hinter ihm drängten sich die Brüder. Der Jude entwich.
»Also was gibt's noch heut' abend?«
»Die Franzosen haben einen hochgräflichen Jäger gestochen.«
Als sie den Berg hinanstiegen, erkundigte sich der Vikar: »Ein Junggeselle?«
»Ein Junggeselle, Euer Ehrwürden.«
»Eine Liebesgeschichte?«
»Es ist keine Liebesgeschichte gewesen, Euer Ehrwürden.« Und der Lakai erzählte den Hergang.
»Er ist sonst ein ordentlicher Mensch, dieser Jägerbursche?«
264 »Es kann ihm niemand 'was Böses nachsagen, Euer Ehrwürden.«
»Das ist die Hauptsache,« meinte der Vikar und wischte mit dem Taschentuch über seine Stirne.
An der dicken Säule, die das Gewölbe der Dienerstube trug, staken in Ringen etliche brennende Kienspäne; der Rauch zog in Wölkchen über den kunstvoll gemeißelten Knauf und verlor sich im Dunkel des Gewölbes, und von Zeit zu Zeit fielen kleine, glühende Kohlenstücke herab in das Wasserbecken, zischten auf und erloschen.
Auf der Pritsche hinten an der Wand, neben dem Holzgestelle, auf dem die gewichsten Schuhe in Reihen nebeneinander glänzten, lag der Jägerbursche, der lange Michel, bleich, mit geschlossenen Augen; neben ihm kniete die Gräfin-Witwe. Am Fußende der Lagerstätte stand der Graf, und seitwärts von ihm warteten etliche Diener.
»Es dauert so lange,« flüsterte die Gräfin-Witwe zu ihrem Sohn hinüber.
»Er kann unmöglich schon da sein, Frau Mama,« kam die leise Antwort zurück.
»Der arme, der tapfere Mensch!« flüsterte die Gräfin, als spräche sie zu sich selber.
Da öffnete der Mann vor ihr die Lider, und das flackernde Licht der brennenden Späne spiegelte sich in großen, verwunderten Augen. Mühsam bewegten sich die Lippen, und fast unhörbar lispelte er: »Wo bin ich denn?«
»Ganz ruhig liegen bleiben, Michel – hörst du?« sagte die Gräfin und legte ihre Hand auf seine Stirn.
»Jetzt kommt mir alles,« flüsterte der Gestochene. »Die Franzosen – o du mein Gott!«
»Und nichts reden – gelt Michel?«
Der Jäger schloß die Augen.
265 »Ich will dir nun alles sagen, was du denkst, mein lieber Patensohn,« begann die Greisin. »Da ist deine alte Mutter – was soll aus der werden?«
Der Jäger öffnete die Augen, sah die Gräfin an, seine Augenwimpern zuckten, und seine Lippen bewegten sich lautlos.
»Nichts reden, Michel, ich rede für dich und ich denke für dich. Du liegst nun in Gottes Gewalt, der wird's machen mit dir, wie's ihm gefällt. Aber das versprechen wir: Solange wir selbst Brot haben, wird deine Mutter niemals hungern.«
»Niemals,« bekräftigte der Graf.
Mühsam wandte der Knecht die Augen und erkannte seinen Herrn.
»Also, das Irdische wäre abgemacht,« tröstete die Gräfin. »Und für das andere ist auch schon gesorgt.«
Die Türe ward geöffnet, die Späne qualmten, und der Vikar trat auf die Schwelle. Der Graf ging ihm entgegen. »Ein trauriger Anlaß, der Sie heute zum erstenmal unter mein Dach führt.«
Der Vikar verneigte sich. Dann sagte er mit hoher, lauter Stimme: »Wird ja noch nicht aller Tage Abend sein – dum spiro spero – da darf man nicht gleich den Kopf hängen lassen. Wie viele kommen von hohen Schulen und laufen ihr Leben lang mit Lungenfuchsern herum, werden alt, kriegen Kinder und Enkel –.«
»Er liegt in Gottes Gewalt, Herr Vikar,« flüsterte die Gräfin-Witwe, die leise aus der Dunkelheit herangetreten war, und reichte ihm die Hand. »Der Arzt muß auch bald kommen. Aber ich fürchte, er kommt zu spät. Wollen Sie dem armen Manne einstweilen Trost geben?«
Abermals verbeugte sich der Vikar. Er küßte die Hand und richtete sich auf, und ein Brodem von Bierdunst kam aus seinem Munde, als er die Stimme gewaltsam zum 266 Flüstern zwang: »Das wollen wir schon machen, Eure hochgräfliche Exzellenz.«
Der Graf und seine Mutter traten zur Dienerschaft. Der Vikar ging an das Lager und begann: »Na, mein Sohn, sterben müssen wir alle, da beißt die Maus kein' Faden ab, das weiß Er von Jugend auf so gut wie ich. Heute dir, morgen mir. Aber nur Mut, so geschwind geht das doch nicht immer. Hoffentlich ist Er für alle Fälle so klug gewesen, in seinem bisherigen Leben die Tugend zu lieben und das Laster zu hassen.« Er hielt inne und schnappte hörbar nach Luft; denn er hatte von Anfang an falsch geatmet.
Da legte die Gräfin-Witwe die Hand auf den Arm ihres Sohnes und umklammerte ihn. Unmutig schüttelte der Graf den Kopf.
Mit frischen Kräften begann der Vikar: »So wird Er dann, wenn's ihm bestimmt ist, als sanfter, edler Mensch hintreten in den Lichtkreis des unfaßbaren und unsichtbaren höchsten Wesens und ihm bescheidenlich den Beglaubigungsbrief seiner guten Taten zu Füßen legen – verstanden?«
Mit leisen Schritten kam die Gräfin-Witwe neben den Vikar. Ein Hüsteln befiel sie; denn er roch so stark nach Tabak.
Mit offenen Augen lag der Todwunde auf seinem Bette und sah empor zum finstern Gewölbe, und der Widerschein der brennenden Späne funkelte in seinen Augen.
Der Vikar warf einen Seitenblick auf die greise Frau, hob und senkte krampfhaft die gefalteten Hände und fuhr fort in seiner Trost- und Erbauungsrede: »Aber wie gesagt, guter Jüngling, verzage Er nicht, wenn Er auch in Andacht den Geist richtet auf eine entfernte Möglichkeit; denn Gott verläßt einen wackeren Deutschen nicht, und nicht jedes Bette muß zum Sterbebette werden – Amen.«
Da zupfte ihn die Gräfin-Witwe am Ärmel und sagte: 267 »Mit Verlaub, so kann ich's auch, gehen Sie weg da!« Und sie schob ihn ohne Umstände zur Seite, kniete am Lager des Jägers nieder, faltete die Hände und begann über ihm: »Hörst du mich, lieber Michel?«
Der Knecht wandte die Augen herüber und senkte die Lider. Da begann die Greisin wie eine Mutter am Lager ihres Kindes zu beten:
Wann ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir –
Die Lippen des Todwunden bewegten sich, und seine Augen waren starr nach oben gerichtet. Ein großer Tropfen quoll ihm aus dem Auge und rollte zur Seite über sein Gesicht. Da gingen auch die Augen der Greisin über; Träne auf Träne rann über ihre welken Wangen, und langsam fuhr sie fort in ihrem Gebete:
Wann ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür.
Wann mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein!
Und als sie den anderen Vers anhob, da fiel auch der Graf mit seiner tiefen Stimme ein:
Erscheine mir zum Schilde,
zum Trost in meinem Tod –
Und nun beteten sie alle, und die Türe öffnete sich, und die draußen standen, kamen auf den Fußspitzen herein, und die Stube füllte sich, und wie murmelnde Wellen ging es weiter und weiter und wurde zu langgestreckten, hochgehenden Wogen:
und laß mich seh'n dein Bilde
in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken,
da will ich glaubensvoll 268
dich fest an mein Herz drücken.
Wer so stirbt, der stirbt wohl.
Das Antlitz des Jägers hatte sich sehr verändert. Der Kopf sank nach vorn, ein Blutstrom quoll gurgelnd aus seinem Munde, die Augen wurden glasig. Die Wogen des Gebetes fluteten über seinen Leib, sie fluteten aus der engen Zeitlichkeit, hinaus ins Unermeßliche, Unendliche, hinüber an die Gestade der Unbeschränktheit und nahmen die freigewordene Seele auf ihren kristallenen Rücken.
Die an der Türe traten zur Seite. Der Arzt kam.
Die Gräfin wischte das Blut von den Lippen und von den Wangen des Jägers und erhob sich: »Er tritt die große Reise an, Herr Doktor.«
Der alte Frey beugte sich herab auf den Röchelnden. Dann richtete er sich auf und nickte.
Mit einem tiefen Seufzer verschied der Mann. Die Gräfin-Witwe aber fuhr mit leisen Fingern über seine Lider und schloß sie.
»Pro patria!« sagte der Arzt feierlich und faltete seine Hände.
Der Graf aber neigte sich nahe ans Ohr seiner Mutter und raunte bewegt: »Da sollte nun ich liegen, nicht aber der Knecht.«
Nacht war's. Karl Frey saß neben dem Bette des Bruders. Auf dem Tisch am Fenster brannte ein Talglicht.
»Man könnte dich beneiden,« sagte Karl. »Aber ich bin froh, daß ich einen solchen Bruder habe.«
»O laß doch, ich hab' ja gar nicht anders können.«
»Und vergiß mir die Schmach niemals – hast du gehört?«
Der Kleine nickte.
Der Große fuhr flüsternd fort: »Hast du schon einmal von den Kreuzfahrern gehört, die gegen die Ungläubigen ausgezogen sind?«
269 »Mit einem weißen Kreuz auf dem Rock und mit dem Rufe, Gott will es!« rief Gerhard.
»Ganz recht. Und hörst du, es muß auch jetzt wieder zu solch einem Kreuzzug kommen in deutschen Landen.«
Er sprang auf und hob die Arme: »O dürfte ich doch von Hochschule zu Hochschule und dürfte durch alle Gassen laufen und emporschreien zu allen Fenstern, wo Studenten wohnen – Burschen heraus! Denn es ist die Zeit vorhanden, wo alles ankommt auf uns Studenten.«
Der Gymnasiast hatte sich aufgesetzt und rief: »Dann müßten sie kommen, ob sie stehen oder liegen, müßten kommen mit der nächsten, besten Waffe in der Hand und müßten weiterrennen mit dir und schreien: Burschen heraus!«
»So lieb ihnen ihre Ehre wäre,« sagte der Student.
»O Bruder, ich kann's kaum erwarten!« 271