August Sperl
Burschen heraus!
August Sperl

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4. Der Brandfuchs

Tagebuchblätter aus dem März 1812.

Erinnerung an eine schöne Vergangenheit gleicht einem Engelskinde, das sich zwischen Lichten zu uns herabsenkt, auf den Fußspitzen hebt, die Ärmchen um uns schlingt und flüsternd redet von denen, die gewesen sind. Und aus seinen Augen leuchten längst erloschene Augen, die uns vorzeiten freundlich angeblickt, aus seiner Stimme tönen Stimmen derer, die einst hereingeklungen haben in unser werdendes, wachsendes Leben. Solches Rückwärtslauschen ist nötig wie tiefes Atemholen, und wenn das holde Geschöpf uns wieder verlassen hat, dann schreiten wir neu gekräftigt hinein in die Zukunft.

Aber versunkenes Glück soll nicht werden zur gleißenden Schlange, die sich schmeichelnd heranmacht und in feindlicher Umschlingung ihrem Opfer die Kraft aus den Knochen preßt. Weg damit – den harten Schild des Vergessens über den Rücken geworfen, vorwärts durch eine, wenn auch kalte, Gegenwart hinein in eine gedankenklare Zukunft – und immer danach gerungen, daß schöne Vergangenheit werde zur klaglosen, kraftspendenden Erinnerung.

So will auch ich gedenken des besten, des edelsten Vaters, dessen Leib wir an jenem sonnenhellen und, ach, so düstern zweiten Tage des Jahres 1812 in die gefrorene Erde gesenkt haben, und so will ich ehren sein Gedächtnis und mein Leben führen, als hätte ich ihm alle Ferien Rechenschaft zu geben von meinem Tun und Lassen.

Du aber, mein Tagebuch, sollst nach langer Vernachlässigung wieder zu gebührenden Ehren kommen und in deinen verschwiegenen Blättern bergen, was ich in blöder 378 Scheu auch dem Vater niemals zu sagen gewagt hätte. Ehrlich und gewissenhaft will ich von Zeit zu Zeit den Pulsschlag meines Seelenlebens erkunden, mit unerbittlicher Wahrheitsliebe als eine Beichte niederschreiben, was mich im Wechsel der Monate umgetrieben, was mich im Ringen nach Vollkommenheit bedrückt und erhoben hat.

Freilich sogar dir darf ich nicht alles legen zwischen deine Lederdeckel. Denn es gibt Geheimnisse unserer Gesellschaft, deren auch nur unabsichtlicher Verrat ein Mitglied zum Schurken stempeln, feinfühlige Naturen in den Tod treiben müßte.

Noch vor Weihnachten würdigten mich die Brüder der Teilnahme an all diesen stolzen Geheimnissen unseres Bundes.

Schauer der erhabensten Gefühle rieseln mir heute noch vom Scheitel den Rücken hinab, wenn ich jener weihevollen Stunde der Rezeption in die Gesellschaft der Franken gedenke, und ehrlos müßte ich werden, bevor ich vergessen könnte, was ich damals in die Hände unseres Seniors gelobt habe.

Mit welchen Erwartungen stiegen wir drei Füchse an jenem sonnenhellen Spätherbst-Nachmittage die Treppe zum Konventzimmer unseres Kommershauses empor und überschritten die Schwelle des geheimnisvollen Gemaches, das uns bis dorthin verschlossen gewesen.

Wir standen in einem großen, verdunkelten, von etlichen Kerzen notdürftig beleuchteten Raum. Der Atem stockte mir, und unwillkürlich schloß ich, überwältigt von der Feierlichkeit des Augenblickes, die Lider.

Als ich sie öffnete, sah ich rings an den Wänden schweigende Gestalten sitzen und erblickte die Umrisse eines großen Tisches inmitten des Gemaches.

Dieser Tisch war mit einem schwarzen Tuche verhüllt, dessen goldgestickte Zipfel bis auf den Boden herabhingen. 379 Vier Leuchter mit brennenden Wachskerzen standen auf seinen vier Ecken, in der Mitte aber lag ein offenes Buch, kreuzweise bedeckt von zwei blanken, mit gold-rot-goldenen Bändern umschlungenen Rapieren.

Es war mir, als träte ich vor einen Areopag fremder Richter – da erkannte ich im unsicheren Lichte das stolze Antlitz unseres Seniors Kanz, dessen hochragende Gestalt hinter dem Tische stand, und den Konsenior sowie den Sekretär, die zur Rechten und Linken an den Schmalseiten des Tisches ihre Plätzen hatten.

Nun atmete ich auf, nun wagte ich sogar verstohlen dorthin die Augen zu wenden, wo die honorigen Burschen in feierlichem Konvente saßen, und ein vertrautes Gesicht nach dem andern tauchte auf aus der Dunkelheit, an die sich meine Augen zu gewöhnen begannen.

Die sonore Stimme des Seniors erklang und bannte meine Blicke an seine Lippen.

Er verlas unsere Namen und erklärte, daß wir nach Beschluß des Konvents als die ersten der Konfuchsia dieses Semesters in die Gesellschaft aufgenommen werden sollten. Hierauf befahl er, Fenster und Türen sorgfältig zu verriegeln. Und es geschah.

Dann hieß es: »Rezipiendi hervor an den Tisch!« Und mit klopfendem Herzen standen wir drei dem Senior gegenüber, Auge in Auge.

Durch Mark und Bein gingen mir schon seine ersten Fragen, obgleich ich ein gutes Gewissen hatte und von den besten Vorsätzen beseelt war.

Er rief uns an: »Seid ihr drei Füchse nicht etwa heimlicherweise Mitglieder eines Ordens? Wollt ihr auch wahrhaftig eintreten in die Gesellschaft der Franken? Und wollt ihr unverbrüchliches Stillschweigen geloben über alles, was ihr nun sehet und was ihr hören werdet, für Zeit eures Lebens, hinein bis ins Grab?«

380 Schon öffneten wir die Lippen, schon streckten wir die Hände zum Schwur empor, da erhoben sich wie auf einen Schlag die Burschen rings an den Wänden und sangen nach feierlicher Melodie jene ergreifenden Verse:

Ein Eid versiegelt unsern Bund,
wie schauerlich ist der;
drum, Brüder, haltet reinen Mund,
sonst trifft das Schwert euch schwer!

Die Burschen ließen sich nieder, und jetzt durften wir den Schwur in die Hand unseres Seniors ablegen; der Sekretär aber nahm das Buch vom Teppich des Tisches.

Mit Schweigen übergehe ich die folgende halbe Stunde, in der uns Satz für Satz die Franken-Konstitution vorgelesen wurde, jenes ehrwürdige Gesetzbuch, nach dessen Befehlen ich fortan stets, das heißt nicht etwa nur jetzt als Student, nein, auch als Mann und Greis zu leben habe. Nicht leicht zu behalten ist die Fülle der Vorschriften, und noch oft werde ich unter Aufsicht des Sekretärs in dem sammetgebundenen Kodex studieren, ehe ich alles von Grund aus kenne. Und doch gibt es an sich nichts Natürlichers, als gerade dieses Gesetz unseres Bundes. Es gleicht einem weitästigen Baume, der im heiligen Erdreich ungeheuchelter Freundschaft emporgewachsen ist aus dem Samenkorn der Ehre und seinen Wipfel badet im Sonnenlichte der burschikosen Freiheit. An seinem Stamm aber leuchtet über zwei gekreuzten Rapieren der Wappenschild mit dem Wahlspruch der Franken: Gloria virtutis comes.

Welle auf Welle drängten sich die Erlebnisse an uns heran und überfluteten unsere Seelen.

Der Senior fragte jeden einzelnen von uns: »Hast du sämtliche Regeln wohl verstanden und bist du willens, sie unverbrüchlich zu halten?« Auf das männliche Ja erfolgte neuerdings die Ablegung des Handgelübdes, während 381 Konsenior und Sekretär dem Schwörenden die Spitzen der Rapiere aufs Herz setzten. Als unsere Worte über den flackernden Lichtflämmchen verklungen waren, mußten wir den linken Rockärmel abstreifen und wurden – o weihevoller Augenblick! – mit dem gold-rot-goldenen Bande umkleidet. Dann traten die Senioren und der Sekretär mit uns in einen Kreis und faßten unsere Hände kreuzweise. Rauschend erhoben sich die Burschen an den Wänden, und brausend ertönte der Gesang:

Wenn mich die Schauer des Todes umringen,
wenn sich die Nacht der Verwesung mir zeigt,
dann soll mich Freundesarm tröstend umschlingen,
dann wird, ihr Brüder, das Sterben mir leicht.
Brüder, dann segnet mein brechender Blick
noch unsres Bundes erhabenes Glück.

Mit Händen, die zitterten in Seelenerregung, schrieben wir nacheinander unsere Namen in ein Buch, und ich verstand, wenn meinem Konfuchs Rudloff die Tränen aus den Augen schossen und sich mit der Tinte seines Namenszuges vermischten zum ewigen Gedächtnis – schrieb ja doch auch ich mit zusammengebissenen Zähnen und schwimmenden Augen.

Die Riegel wurden von Fensterläden und Türen zurückgestoßen, die Läden geöffnet. Das Sonnenlicht blendete unsere Augen, und unter den Klängen des Liedes:

Auf, gebt nun den biedern Kuß der Weihe
dem neuen braven Freunde hin –!

umdrängten uns die Burschen, schlossen uns in die Arme und besiegelten die Feier mit dem Bruderkusse. Nur Brocken lachte mir unter schmerzhaftem Händedruck ins Gesicht und raunte: »Das Küssen überlassen wir den Backfischen, mein Lieber.«

Wie ein Träumender ging ich zwischen ihm und Wolfgang Eysen im Schmucke der Frankenfarben hinunter in 382 den Lärm der Gasse, gedachte mit Ernst der hohen Forderungen, deren Gültigkeit ich soeben eidlich als bindend anerkannt hatte, und gelobte mir immer wieder, zu streben nach wahrer Humanität, mich auszubilden für Familie und Staat, selbst alle Ausschweifungen und Roheiten zu meiden und solche auch vom Bunde der Franken nach Kräften ferne zu halten, und rief endlich mit halblauter Stimme: »Bei meiner Ehre, unsere Gesetze sind vortrefflich; und wenn wir nicht gut bleiben, sie tragen die Schuld nicht. Aber wir müssen uns fest zusammenschließen, damit einer den andern stütze im Ringen nach burschikoser Vollkommenheit.«

Da sagte zu meiner nicht geringen Verwunderung Brocken neben mir lachend auf französisch das Sprichwort: »Die Narren knüpfen die Knoten, und die Weisen lösen sie auf.«

Aber Wolfgang Eysen fuhr von der anderen Seite dazwischen und rief zornig: »Schäme dich, Bruder!«

Schweigend gingen wir die Straße hinunter. Das Hochgefühl meines neuen Standes raubte mir fort und fort beinahe den Atem. O, wie bemitleidete ich alle die traurigen Obskuranten und auch die Renoncen, ja selbst die Mitglieder der beiden andern Gesellschaften, die keine Franken waren.

Wie elend aber muß sich vollends einer fühlen, der wie Körbelius verachtet wird von jedem honorigen Burschen! Und der arme Mensch kann ja doch eigentlich gar nichts dafür. Deshalb verfolge ich auch in aller Heimlichkeit einen Plan, der hoffentlich mir und ihm zur Ehre ausschlagen wird. Es könnte sich ja doch eines Tages fügen, daß sein Vater frei würde aus der Pleßbachischen Sklaverei. Dann aber müßte Körbelius seine Burschenehre wieder herstellen, und ich bereite ihn mit allem Bedacht, ohne daß er den Zweck selber so recht ahnt, auf den Waffengang der Reinigung vor. Es vergeht keine Woche, in der wir nicht mindestens zweimal zum Fechten in der Kammer neben meiner Stube 383 zusammenkämen. Und ich kann wohl sagen, er ist ein gelehriger Schüler mit sicherem Auge und nicht gewöhnlicher Leibeskraft.


Jawohl, ich will danach ringen, daß schöne Vergangenheit werde zu klagloser, kraftspendender Erinnerung. Ich habe keinen Vater mehr, an den ich mich wenden könnte in den Kämpfen des Lebens – wohlan, ich habe die große Familie gewonnen, die umschlungen ist vom gold-rot-goldenen Bande. Ich hatte einen Bruder und bin ihm entfremdet – wohlan, ich sehe mich mit Brüdern verbunden, die mir den Verlorenen ersetzen. Und dennoch, es gäbe öde Winkel in meinem Herzen und düstere Ecken in meinem Empfinden – aber mit halbunterdrücktem Jauchzen darf ich bekennen: Ich liebe!

Umschließt und hütet mein wonniges Geheimnis, ihr weißen, unschuldigen Blätter: Ich liebe!

Es war etliche Tage nach Ablauf der Weihnachtsferien. Unser zehn kamen wir die Stiege herab aus Professor Töbings Kolleg über römische Geschichte, das er viermal von elf bis zwölf Uhr in seiner Studierstube liest. Ich hielt mich zurück; denn ich war zu sehr mit meiner Trauer beschäftigt. Und so geschah es, daß ich mich noch im Hausflur befand, als draußen schon der Schnee knirschte unter den Sohlen der andern. Da hörte ich flüchtige Schritte die Stufen herabeilen, wandte mich und sah ihre großen Augen liebreich und gütig auf mich gerichtet.

»Herr Frey, ich bin bestürzt – was soll der Flor bedeuten, den Sie tragen?«

»Mein Vater ist gestorben.«

»Um Gott, Ihr Herr Vater?«

Sie stand vor mir und faltete die Hände, ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre zuckenden Lippen sagten: »O Sie Ärmster, Sie Ärmster!«

384 Es war keine gewöhnliche Beileidsbezeigung, wie ich sie in den letztvergangenen Tagen zu hunderten gehört hatte, und das Mitgefühl, das in ihren Worten zitterte, schlug wie ein elektrischer Funke herüber in mein Herz. Tränen stiegen in meine Augen, und ich wandte mich ab. Sie aber griff nach meiner Hand und stammelte: »Ich glaube, Sie zu verstehen; denn ach, Sie wissen, daß auch ich vor wenigen Jahren meine gute Mutter verloren habe.« Ich nickte und würgte an meinen Tränen. Aber es war mir doch zu Mute, als ginge nun in weiter Ferne hinter den Nebeln eines frostigen Wintermorgens die Sonne auf.

»Sie werden sich um so enger an Ihren Bruder anschließen. – Sie erzählten mir doch von einem Bruder?«

Meine Tränen begannen zu fließen, und mit Mühe brachte ich hervor: »Ich fürchte, auch meinen Bruder verloren zu haben.«

»Um Gott, Herr Frey, Sie erschrecken mich zu Tode – was ist's mit Ihrem Bruder?«

Sie hatte es hastig, ja heftig herausgestoßen, und als ich sie erschrocken anblickte, war ihr Gesicht weiß wie ein Tuch. Gerührt von solchen zarten Beweisen ihrer Teilnahme an meinem Schicksal suchte ich die Wirkung meiner Worte abzuschwächen und stammelte etwas Weniges von vorübergehenden Irrungen. Sie atmete tief auf und fuhr mit der Hand über ihre Stirne: »Nur Irrungen, Herr Frey? Gottlob. Ich hatte aus Ihren Gebärden auf ein entsetzliches Unglück geschlossen.« –

Ich ging aus dem dämmerigen Hausflur auf die Straße. Die Sonne war nun wirklich durchgebrochen. In Millionen von Schneekristallen funkelte ihr Licht – in meiner Brust aber begann sich heimlich die Blume des Frühlings zu entfalten.

Schon am folgenden Morgen erhielt ich einen neuen 385 Beweis vom Wohlwollen des himmlischen Mädchens: Ein Briefchen des Professors lud mich zum Abendtisch ein.

Aber nicht einmal dir, geliebtes Tagebuch, vertraue ich an, welche Gefühle mich durchwogen, wenn ich nun allsonntäglich des Abends bei einer Pfeife Tabak den beiden gegenübersitze, dem großen Gelehrten und seiner Tochter Konstanze. Leider sind wir nicht allein; denn auch die beiden Eysen, Wolfgang und Christian, verkehren schon seit dem Sommersemester bei Töbing. Und doch ist es mir wieder lieb, daß sie zugegen sind. Dann können sie mit dem Professor gelehrte und patriotische Gespräche führen. Ich aber sitze still, meine Augen trinken Wonne um Wonne aus Konstanzens englisch-holdem Angesicht, und ich bin glücklich, wenn sie mich würdigt, den Garnstrang zu halten.

Brocken freilich dürfte mich an solchen Abenden nicht sehen. Vor seinen Augen wahre ich mein Geheimnis. Der zöge den linken Mundwinkel zurück und lächelte, daß seine Zähne blinkten. Ha, ich kenne das Lächeln!

Als mich aber neulich einmal Wolfgang Eysen auf seine gutmütige Art im Kommershaus zu necken begann, bat ich ihn bei nächster Gelegenheit zu einem Spaziergang in den Wald. Dort unter den beschneiten Fichten und Föhren öffnete ich ihm ein Guckfenster in mein Herz, ließ ihn ahnen, wie es um mich steht, und erbat mir seine Verschwiegenheit. Ich hatte ihn nicht vergeblich gerufen: mit Tränen in den Augen gelobte er mir auch in dieser Herzenssache Treue bis in das Grab.


Daß ich Philologie studiere, ist Brocken gar nicht recht. Schon vor Weihnachten hat er wiederholt versucht, mich zur Juristerei hinüber zu ziehen. Er spricht verächtlich von jener Wissenschaft. Etliche Male wäre ich beinahe eingeschnappt. Aber zu seinen boshaftesten Bemerkungen kann er 386 wieder so herzgewinnend lächeln, daß man ihm nicht ernstlich böse sein darf. Alles, was Lehrer heißt, verachtet er, wie Wolfgang Eysen sagt, mit dem Hochmut eines Pennälers. ›Schulmeister willst du werden? Pfui Teufel! Das ganze Leben lang fremder Leute Kindern den Rotz der Unwissenheit von der Nase wischen, wie eine Großmutter vor ihnen sitzen, das trockene Brot der Wissenschaft zu Brei kauen und diesen Brei in die schmutzigen Mäuler streichen jahraus, jahrein?‹ – So höhnt er. Doch ich lasse mich nicht irre machen und finde eine starke Stütze an Eysen.

Oft schon habe ich mich gewundert, daß Brocken in Eysens Gegenwart niemals mit einem Wort gegen die Theologie spricht. Und wie er über diese Wissenschaft denkt, kann man sich vorstellen. Aber fürs erste hat er trotz aller Verschiedenheit eine unverkennbare Hochachtung für Eysen – und wer vermöchte auch anders gesinnt zu sein gegen diesen vortrefflichen Burschen? Und dann – je nun, Wolfgang Eysen hat etwas in seinem Wesen, das die Leute immer so weit von ihm fern hält, als er es für gut findet. Und das imponiert gerade einem Menschen wie Brocken. –

Wundervoll sind die attischen Nächte, die wir meist auf Eysens Bude monatlich einmal der schönen Literatur widmen. Davon will Brocken natürlich nichts wissen. Und ich könnte ihn mir auch kaum als Teilnehmer vorstellen. Nach dem Abendessen kommen wir zusammen, etwa sechs bis acht Franken, aber auch etliche Obskuranten. Unter diesen der ältere Eysen, der unserer Gesellschaft nach jenem Abend in drei unblutigen Mensuren Genugtuung gegeben hat und auf neutralem Boden noch immer mit dem und jenem von unseren Farben verkehrt. Er und sein Bruder sind die rectores spiritus dieser Abende, und es ist unglaublich, welche Feuergarben von Geist und Witz jezuweilen an die Decke der verräucherten Bude emporlodern – nur schade, 387 daß es doch alles unwiederbringlich verpufft. Aber einige von Wolfgang Eysens Epigrammen habe ich mir aufgeschrieben und setze sie gerne hierher.

Klagen der Menschen.Aus dem handschriftlichen Nachlasse eines süddeutschen Korpsstudenten des Jahres 1809.

Der Arzt.
Weh mir, ich greife zum Strick, gebt jammerstillenden Mohnsaft –
    denn es ist alles gesund. Himmel, erhöre mein Fleh'n!
Sende die Fieber des Herbsts, am liebsten wäre die Pest mir,
    brich viel Arm' und Bein', strafe mit Schwindsucht und Gicht!
Dumm war Jenner – noch dümmer sind jetzt die lieben Kollegen:
    jagen den treuesten Freund, jagen die Pocken uns fort.
Ja, ich werde Soldat – der Kräftige zwinget sein Schicksal –
    und, was im Guten nicht geht, setz' ich noch durch mit Gewalt.

Der Henker.
Alte, o herrliche Zeiten, ihr kehrt wohl nimmermehr wieder.
    Welch ein Leben war sonst – alles verschlimmert sich jetzt.
Als ich noch wöchentlich einen gewiß, auch öfters ein Pärchen
    kunstvoll gerädert, geköpft oder am Galgen gehenkt,
da stand Recht und Gerechtigkeit fest, da wurde vom Weizen
    abgesondert die Spreu und in den Ofen getan.
Manchmal tüchtig die Kerle gezwickt, gekniffen, gezwiebelt,
    oder den Pfahl in das Fleisch – gleich war die Wahrheit entdeckt.
Aber heutigen Tags – o Wandel der Zeiten und Sitten! –
    alles verwildert, verfällt, Zucht und Religion.
Wohl mir, bald entrinn' ich, der Greis, dem Verderbnis der Zeiten,
    und wie Asträa verläßt nun auch der Henker die Welt.

Der Bauer.
Krieg muß werden, es gilt das Getreide nichts, alles ist wohlfeil;
    so eine lausige Zeit macht einen ganz desperat.
Aber wenn Krieg – versteht sich wo anders – wieder entstünde,
    ginge Getreide und Vieh ganz gewiß wacker hinauf. 388
Betet nun auch noch der Pfarr' allsontags gegen die Teurung,
    das vertreibet uns doch Andacht wahrlich und Schlaf.

Der Advokat.
Schlecht sind jetzt die Aspekten für ehrliche Leute. Es leben
    Bauer und Bürger in Ruh, Turm und Kerker sind leer.
Eris, huldvolle Göttin, wo weilst du? Säume nicht länger,
    komm, dein Geliebter, dein Sohn, ruft dir mit sterbendem Mund!

Der Philosoph.
Philosophie, du erfreuliches Licht, wohltätige Sonne!
    Überall wärmst du noch nicht, leuchtest nicht überall hin.
Reiß doch den Völkern vom Aug' die Binde, die lange getrag'ne,
    brich die Fessel des Geists endlich, den Glauben, entzwei!
Aber ich weiß es, noch fehlt den Menschen die Reife zur Wahrheit –
    mancher Stocktheolog hindert ihr göttliches Licht.

Antwort auf alle.
Schweigt, ihr Halunken, es klagt ja nur jeder die eigene Bosheit
    oder des eignen Verstands herzliche Dummheit an.
Würde der Wunsch einem jeden gewährt, bald hätte der Teufel,
    was er nur halb hat bis jetzt, gänzlich auf Erden – das Reich.


Das ist Wolfgang Eysen. Ich aber werde ewig stolz sein, daß er mich zum Leibfuchsen genommen hat. –

Das Wintersemester ist seinem Ende nahe. Übermorgen reise ich heim. Vor drei Tagen haben wir Freunde noch ein Symposion gefeiert und in Andacht die Leiden des jungen Werthers bis auf die Neige genossen.

Ich hatte die letzten Seiten zu lesen und war so mächtig ergriffen von der wundersamen Dichtung, daß mir zuweilen vor Schluchzen die Stimme verging. Ich nahm alle Kraft zusammen, um stark zu bleiben. Aber was half es? Wenn ich auch meine Gefühle bezwang, dann unterbrach mich immer wieder das laute Weinen der Brüder.

Lange spähte ich in jener Nacht aus dem Schatten hinauf zu dem Fenster, hinter dem die Geliebte ruhte. Der 389 Mond übergoß das Haus mit seinem sehnsuchterweckenden Lichte, und die Glasscheiben blinkten wie Silber. Lange stand ich und verglich meine Liebe mit der des jungen Werther.

Es kann wohl kommen, daß ich ebenso unglücklich werde wie er. Aber eines weiß ich: das gleiche Unglück hätte nicht die gleiche Wirkung auf mich und mein Leben.

*

Tagebuchblätter aus dem Anfang des Sommersemesters 1812.

Ich bin zu Hause gewesen und habe den Nachlaß meines seligen Vaters geordnet. Dank der Sparsamkeit meiner Eltern ist so viel vorhanden, daß die Mutter unser altes Familienhaus behalten kann und wir Brüder sehr wohl unsere Studien zu vollenden vermögen.

Als ich die Briefe des Vaters durchsah, machte ich einen seltsamen Fund: Zu hinterst in einer Schublade des Schreibtisches lag ein schön geschriebenes Haushaltungsbuch aus dem Jahre 1796 und darin ein Brief von derselben Hand, in dem eine Magd namens Klara Groß in ganz ungewöhnlicher Weise von ihrem Herrn, meinem Vater, Abschied nimmt.

Klara Groß – des Namens mag es viele geben. Aber als ich gestern die Wochenrechnung der Hausjungfer auf meinem Tische fand, kam mir zu meiner Verwunderung ins Bewußtsein, daß ja sie auch Klara Groß heißt, und sogar die Schrift schien mir ähnlich zu sein. Ich erinnerte mich, wie heftig sie bei meiner Erzählung vom Tode des Vaters geweint hatte, und jetzt erst fiel mir auf, daß sie seitdem ein schwarzes Halstuch trägt.

Da beschloß ich, sie zu fragen.

Heute früh, als sie mir meine Morgensuppe brachte, ging ich ohne Umschweife aufs Ziel los.

390 Die Wirkung meiner Worte war eine unbeschreibliche. Sie wurde totenbleich und stellte mit zitternden Händen den vollen Teller auf den Tisch. Dann kreuzte sie die Arme und blickte mich durchdringend an: »Sie haben den Nachlaß Ihres seligen Vaters geordnet?« Ich bejahte. »Dann mögen Sie wissen, daß ich seinen Tod aufrichtig betrauere; denn er ist mir ein gütiger Dienstherr gewesen.«

Da dämmerte mir die halbvergessene Erzählung einer alten Nachbarin auf, die Erzählung von einer Magd, die meine Mutter und uns Kinder vor den Franzosen auf den Turm im Garten gerettet habe.

»So sind Sie –?« begann ich. Aber sie streckte die Hände abwehrend aus und sagte mit bebender Stimme: »Nein, nein, jetzt nicht! Ein andermal vielleicht. Nur das eine noch aus dankbarem Herzen: Ihre Mutter war eine herzensgute Frau, und Ihr Vater ein Ehrenmann. Es mag Ihnen eine stolze, wehmütige Freude sein, von solchen Eltern zu stammen.«

Mehr sagte sie nicht. Und ich hätte doch so gerne etwas aus jener Schreckenszeit gehört, von der mein Vater uns nur selten und wenig erzählt hat. 391

 


 


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