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Es liegt ein Totes in der Kammer.
Die Leute kommen und gehen und reden mit verhaltenen Stimmen. Ruhig brennen die Kerzen, und das Haus ist erfüllt vom Dufte der Blumen.
Warum doch schneidet man die Blume ab und steckt sie sorglos in den Gürtel? Willst du dich an Blumen erfreuen, dann gehe hinaus, bücke dich und atme den Duft der Rose, wenn ihr Kelch alle Süßigkeiten ausströmt in der heißen Mittagsluft, wandle zwischen Resedabeeten, wenn der Mond golden hinter dem Walde emporsteigt. So tue, nur stecke nimmermehr die abgeschnittene Blume in deinen Gürtel! Wenn aber ein Totes in der Kammer liegt und wartet, bis die schwarzen Träger kommen, dann überschütte den Leib mit der Fülle der Blumen, daß nur das Antlitz hervorschaut aus der schimmernden Decke; bette auch die gelben Hände auf Rosenkissen und überlaß es den abgeschnittenen Blumen, daß sie in Todesnot ihre letzten Düfte hinhauchen über das, was gleich ihnen verfallen ist der Verwesung.
Es liegt ein Totes in der Kammer, die Lebenden aber sind gezwungen zur Geschäftigkeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend und wandeln leise, leise im Dufte der Blumen.
Es liegt ein Totes in der Kammer. Die Zukunft hat sich klein gemacht und kauert draußen vor der Türe. Zu Häupten des Sarges aber steht, so unbewegt, wie der Tote in seinem Sarge liegt, mit geöffneten Augen die Vergangenheit. Und aus ihrem faltenreichen Gewande kommen in buntem Gewimmel die Tage, die gewesen sind, umdrängen den Trauernden und zeigen ihm ihre Stirnen, die leuchten im Abglanz eines versunkenen Glückes, ihre Augen, an denen 134 noch die Tropfen längst vergossener Tränen blinken. Lautlos huschen sie vorüber und schlüpfen in die dunklen Falten zurück. Es liegt ein Totes in der Kammer. Hoheitsvoll ist das Antlitz, hoheitsvoll, wie es niemals im Leben gewesen. Still brennen die Kerzen, und über Vergangenheit und Gegenwart duften die sterbenden Blumen.
Fahl wie eine Tote geht die andere, die Lebende, im Hause umher, die andere, die der Toten da drinnen den ungestörten Augenblick des Sterbens mit der Ehre eines Lebens erkauft hat. Ja, fahl wie das der Toten ist ihr schönes Antlitz, aber die Unruhe der wilden Gedanken blickt aus der Tiefe der Augen, zuckt um den krampfhaft geschlossenen Mund. Wohl der Toten, die da stille liegen darf im zitternden Lichte kleiner Kerzenflammen, umduftet von sterbenden Blumen. O, wie so gerne möchte die Lebende liegen, wo die Tote ruht in unantastbarem Frieden. Aber die Lebende ist in bitterkalte Einsamkeit gestellt auf die Gedankenscheide zwischen Vergangenheit und Zukunft. Vielhundertmal am Tage gleitet ihr Blick zurück, dorthin, wo riesengroß das Entsetzliche steht und alles verdunkelt, was jemals gewesen ist. Da vorne aber hebt aus wallenden Nebeln im tiefen Tale die andere, die blutleere Zukunft ihr starres Antlitz und richtet lautlos ihre unbarmherzigen Fragen an sie.
Schier unerträglich war der Geruch der verwesenden Blumen geworden. Da pochten die schwarzen Männer an die Türe, kamen mit schweren Tritten herein, nahmen die Kränze vom Sarge, schlossen ihn und stampften unter ihrer Last aus dem Hause.
Mit gefalteten Händen, mit tränenlosen Augen steht die Magd in der Stube zur ebenen Erde hinter den Vorhängen 135 und starrt hinaus auf den Marktplatz, wo die Menge Kopf an Kopf sich drängt bis an den Grafenbrunnen hinüber. Und nun singen die Kinder, nun läuten die Glocken, nun schwankt der blumenbedeckte Sarg um die Ecke, nun zieht die Tote ihren letzten Weg.
Den letzten Weg! Und was hindert die Magd?
Schlaff sinken ihre Arme herab, schmeichelnd kommt es herangekrochen und ringelt sich empor an ihr – legt sich um ihren Leib, zieht sich zusammen und züngelt ihr von der Seite her in die Augen. Ein scheuer Blick mißt die Höhe des Kirchturmes drüben vom großen Schalloch bis herab aufs Pflaster, und ein anderer Blick schweift hinüber in die Ecke, wo des Doktors Handapotheke steht und die versperrte Lade mit dem gemalten Totenkopfe. Aber nicht lange, gar nicht lange. Dann richtet sie sich hoch auf, schlingt die Finger fest ineinander und betet seufzend: ›Führe uns nicht in Versuchung!‹
Da löst sich das Tier machtlos von ihrem Halse, gleitet herab und entschwindet.
Das Tier kann warten und kann wiederkommen. Es wird wiederkommen, immer wieder kommen und wird sich süß und immer süßer um sie schlingen. –
Die Glocken schweigen, der Markt ist leer. Die helle Nachmittagsonne leuchtet herab. Ein tiefblauer Himmel ist ausgespannt, und das vergoldete Schwert des steinernen Grafen funkelt über dem fließenden Brunnen.
Noch immer steht die Magd am Fenster hinter den zusammengezogenen Vorhängen und sucht nach einem Wege hinaus in die Zukunft. –
Allmählich kommen auch die Leute vom Kirchhofe zurück: die Männer im schwarzen Rocke, die Frauen im Abendmahlkleide, um den Kopf ein schwarzes Tuch. Und alle tragen die großen, schwarzen Gesangbücher mit dem gelben Schnitt.
136 Endlich biegt der Doktor um die Ecke. Er geht langsam, und sein blonder Bart leuchtet im Sonnenschein. Rechts und links führt er seine zwei Buben. Der Kleine trippelt vergnügt neben seinem Vater und fährt mit dem freien Händchen hin und her. Der größere aber ist bleich, er geht mit gesenktem Kopfe und bemüht sich, so lange Schritte zu machen wie sein Vater. Es ist fast lächerlich anzusehen, und dennoch treibt es der Magd zum ersten Male wieder das Wasser in die vertrockneten Augen. Denn es ist anzusehen, als wollte das Kind im Unglück einherschreiten wie sein Vater, der Mann.
Der Doktor geht nicht in seine Behausung. Er biegt mit den Kindern in die Bachgasse ein. Denn die Kinder dürfen heute bei der Baronin bleiben, bei der Kusine seiner seligen Frau.
Nach einer Weile kommt er zurück. Jetzt geht der Nachbar Martin neben ihm, der Pietist. Auch der schreitet im schwarzen Rock; denn auch er kommt vom Kirchhofe.
»Die Meine begraben, Nachbar Martin, die Euere –.«
»Verrückt,« ergänzt der alte Mann die Rede. »Und Ihre fromme Magd –.« Nun stockt auch er. Dann aber vollendet er mit fester Stimme: »Alles ist Gottes Schickung, mein lieber Herr.«
Der Arzt ist stehen geblieben. »Gottes Schickung? Das ist schwerlich zu glauben.«
Der andere ist auch stehen geblieben. Er hat die Hand ans glatte Kinn gelegt und sieht den Arzt mit großen Augen an. Aber er sagt nichts, gar nichts.
»Wenn solches von dem da droben kommt, dann lös' ich mich heut noch von ihm,« sagt der Arzt.
Der alte Mann reibt nachdenklich sein Kinn und sieht unverwandt auf den andern: »Das kenn' ich, so hab' ich auch schon gedacht.«
»Ihr, solch ein frommer Mann?«
137 »Jawohl, Herr, ich, ein solcher frommer Mann. Denn auch ich sitze nicht in fester Wasserburg – wie tobende Wogen kommen die Gedanken und schlagen über mir zusammen. Und da könnte es wohl sein, daß ich mich endlich mit klappernden Zähnen lossagte von Gott. Aber –.«
»Aber –?« fragt der Arzt.
Der Alte lächelt. »Ich kann ja nimmer los von ihm. Ich bin so fest an ihn gebunden, daß kein Engel und kein Teufel, am wenigsten ich selber mich von ihm zu reißen vermöchte.«
»So habt Ihr Euch das ausgedacht?«
»Ausgedacht? O nein, nicht ausgedacht, Herr Doktor. Das ist so geworden und kann gar nimmer anders werden.«
»Ei wohl, es kann auch anders werden!« ruft der Arzt.
Tränen rinnen der Magd über die Wangen, als sie auf den Vorplatz geht, dem Herrn zu öffnen.
Sie steht hinter der Türe; denn sie fürchtet die mitleidigen, neugierigen Augen der Leute. Sie steht ganz hinten in der Dunkelheit.
Mit schweren, müden Schritten kommt der Doktor die Freitreppe empor, herein in den Hausflur.
Liebreich dankt er der Magd für ihren Gruß. Seine gütigen Augen blicken sie an. Er streckt ihr die Hand hin: »Gute Klara, gutes, tapferes Mädchen. Immer muß ich dran denken – und kann's gar nicht zu Ende denken.«
Sie hat ihre harte Hand in die seinige gelegt und sieht ihn vertrauensvoll an, mit kinderfrommem Blick, wie ein Krankes den Arzt.
Da schießt es ihm heiß in die Augen. Er möchte sich bücken und ihre Hand küssen. Aber das wäre lächerlich. Nur sagen muß er etwas – jawohl, irgend etwas. Und es legt sich mit unbezwinglicher Gewalt auf seine stockende Zunge, und langsam, fast feierlich, sagt er: »Sei getrost, dein Gott ist bei dir.«
138 Er wendet sich hastig ab und geht in seine Stube. Er hat die Hände geballt. Wie kann er so schwach sein? Wie kann er sie trösten mit dem, was ihm gerade jetzt im Zwielichte der Vergangenheit wie ein wesenloser Schatten versinken will?
Je nun, was wäre denn sonst zu sagen gewesen –?
Sie aber geht langsam über die roten Steine des Vorplatzes in ihre Küche. Sie steht mit gefalteten Händen am vergitterten Fenster, vor dem sich leise die Blätter der Holunderstaude bewegen im Lufthauche des sinkenden Tages. Und sie wiederholt halblaut: »Sei getrost, dein Gott ist bei dir.«
Dann schlägt sie Feuer.
Es ist Nacht. Die Magd ist noch durch alle Gelasse des Hauses gegangen, wie sich's gehört. Sie ist auch in der Kammer gewesen, aus der man die Tote getragen hat. Drei Kränze liegen auf dem Fußboden; sie sind von auswärts gekommen und müssen morgen früh hinaus aufs frische Grab.
Sie geht in ihre Stube und stellt das Licht auf den Tisch. Es ist totenstill im Hause. In der einen Ecke steht ihr Bett, in der andern das große Gastbett, das für die Kinder bestimmt ist. Aber die Kinder sind nicht bei ihr. Der Vater hat sie behalten. Sie schlafen in dem verlassenen Bette der Mutter. So kann's wohl auf die Dauer nicht bleiben. Ein Arzt wird mitten in der Nacht gerufen. Er muß ihr die Kinder geben.
Sie hat das Licht ausgelöscht und kniet an ihrem Bette. Sie hat das Antlitz in das Kissen gepreßt. Lange kniet sie, und es ist totenstill im Hause. Dann geht sie zur Ruhe.
Sie liegt auf dem Rücken und hat die Hände unter der Brust gefaltet. Ihre brennenden Augen sind geschlossen, und 139 mit schwerem Flügelschlage bewegen sich ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit.
Flinke Schwalben schießen pfeilschnell im Abendlichte ums Vaterhaus; aber ihr frohes Pfeifen wird zum schrillen Klagen.
Flüchtigen Fußes steigt sie die Treppe empor in die Giebelstube. Der weiße Spitz kommt ihr nach; aber sein frohes Bellen wird zum kläglichen Winseln.
In die kleine Stube fällt zwischen Weinlaub das Licht der Abendsonne und spielt über die Bücher auf dem Holzbrette; aber das freundliche Licht wird zum grellen Gefunkel und tut ihr wehe.
Sie öffnet das Fensterlein, schiebt das Weinlaub zurück und beugt sich hinaus. Im Hof drunten steht ihre Mutter, hebt die Hand und deutet auf den goldnen Abendhimmel. Da wird der Goldglanz dieses Himmels zum drohenden Kupferrot, und schwere, schwarzblaue Wolken steigen lautlos empor hinter den Hügeln.
Die Abendglocke tönt vom Turme, aber sie ist zersprungen und bellt wie das Totenglöcklein draußen auf dem Friedhofe der Stadt, das die Menschen so eilig zur langen Ruhe lädt.
Alles, was hell und weich ist in ihrer Erinnerung, das wird nun hart und dunkel. Das Entsetzliche hat sich gestellt zwischen Sonne und Jugend und sie.
Jählings erwacht sie. Ihr Herz klopft bis an den Hals empor.
Heim! Sie möchte heim mit ihrer Schmach.
Sie richtet sich auf und starrt in die Finsternis –. Ach lieber Gott in deinem Himmel, sie kann ja nimmer heim. Sie hat ja gar kein Vaterhaus.
Wieder liegt sie auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, mit gefalteten Händen. Und wieder sieht sie im letzten Abendscheine hinein in den elterlichen Hof. Ihre Mutter steht unter der Haustür und streckt ihr mit einer Gebärde unsäglichen Mitleides die Hände entgegen. Sie aber kann keinen Schritt 140 weiter. Ihre Füße sind schwer, sie steht wie angewachsen mit ihrem Bündlein in der Hand. Lockend scheint das gelbrote Licht aus den zwei kleinen Fenstern der Wohnstube herüber. Dann ist ihr, als glitte das strohgedeckte Haus lautlos zurück; nur noch aus weiter Ferne grüßen die Lichtlein herüber, gleichwie zwei freundliche Augen. Dann verschwimmen beide Lichtlein in einen schwachleuchtenden Punkt. Und jetzt gähnt Finsternis dort, wo einst ihre Heimat gewesen.
Es ist totenstill. Mit geschlossenen Augen ruht die Magd. Da tritt zur Kammertüre herein die Frau, die man heute aus dem Hause getragen hat. Sie führt die beiden Kinder, das eine zur Rechten, das andere zur Linken. Und es ist seltsam anzusehen, wie der größere Bub sich bemüht, gerade so zu gehen, gerade so zu lächeln wie seine Mutter. Ganz nahe kommt die Frau heran, und die Kinder zupfen leise an ihrer Decke. Das Herz will ihr stille stehen, und mit Gewalt reißt sie die Augen auf. Die Stube ist leer, sie hat geträumt. Und wieder schließt sie die Augen. Da kommt die Frau zum zweiten Male, genau so wie vorhin, und wieder treten die drei an ihr Bett, und die Kinder zupfen an ihrer Decke. Es kostet ihr eine furchtbare Anstrengung, die Augen aufzuschlagen. Und wieder schaut sie ins Leere. Sie steht auf und macht Licht; sie untersucht die Türe, die Türe ist verriegelt. Sie untersucht die Stube, die Stube ist leer.
Wieder liegt sie mit offenen Augen. Ihr Herz klopft heftig, und ganz laut betet sie mit zitternden Lippen ein altes, frommes Lied.
Dann entschlummert sie wieder; denn sie ist todmüde nach all dem Elend der letzten Tage. Und wieder kommen die Knäblein. Ohne die Mutter kommen sie diesmal und setzen sich still auf den Stuhl neben das Bett, sitzen und lächeln auf sie herüber. Und auch sie lächelt im Traume und atmet friedlich. 141