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Die Historiker der Prostitution, deren es eine ganze Masse gegeben hat, sind seit langem darüber einig, daß die Prostitution auf dem Aussterbeetat steht. In den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schrieb Paul Lacroix in der Einleitung zu seinem wissenschaftlichen Koloß, betitelt »Die Prostitution«: »Der Augenblick ist nicht weit, wo die Prostitution vor sich selbst erröten wird, wo sie für immer das Heiligtum der Sitten verlassen wird, wo sie in Dunkelheit und Vergessenheit geraten wird. Es gibt solche Krankheiten, sowohl des menschlichen Herzens wie des Körpers, die verschwinden, indem sie sich selbst verzehren, und die ihre verderbliche Wirkung unter dem Einfluß eines geordneten Lebens verlieren.« Inzwischen hat sich eine Sexualwissenschaft konsolidiert, eine Wissenschaft, die, um mit den eigenen Worten eines Sexualforschers zu reden, »gleich in voller Wehr und Rüstung dastand wie die aus dem Haupte des Zeus entsprungene Wissensgöttin selbst, schwer belastet mit den Ansprüchen eines schon zu voller Entfaltung gediehenen enzyklopädisch aus- und durchgearbeiteten selbständigen Forschungsgebietes«. Inzwischen hat die Lösung der sexuellen Frage, die Aufklärung über das Sexualleben des Menschen, Ladungen von Papier verschlungen, daß man damit alle Schweineställe der Welt austapezieren könnte und die Wohnungen einiger Sexualforscher noch dazu. Inzwischen hat sich an dem sogenannten kulturellen Leben herzlich wenig geändert, die Zahl der Prostituierten ist auch prozentual gewachsen, die zunehmende Ehelosigkeit erhöht sichtlich die Bedeutung der Prostitution für das öffentliche Leben. Die Prostitution tritt von Jahr zu Jahr mehr in die Öffentlichkeit, und sie hat sich in dem Nachtleben der großen Städte ein Gesellschaftsbild geschaffen, in dem sie allein dominiert. Die optimistische Stellungnahme der berufenen oder berufsmäßigen Historiographen der Prostitution ist noch immer die gleiche: »Viele Momente bereiten eine neue Gesellschaft vor, die von der heutigen so verschieden sein wird, wie die für uns bereits der Vergangenheit angehörige Neuzeit sich vom Mittelalter unterscheidet. In diesem Zusammenhange gewinnt auch die Prostitutionsfrage ein ganz anderes Aussehen, als sie früher hatte, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, vor der Zeit des Industriestaates, des Sozialismus, der allgemeinen Volksbildung und der Frauenbewegung. Besonders die letztere wird von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Prostitution werden, und die Frage, ob sie ein notwendiges Übel im Leben der modernen Kulturvölker sei, im negativen Sinn bestimmen«, so schreibt Iwan Bloch im Jahre des Heils 1912 über den Untergang der Prostitution.
Man kann es sehr wenig nett von den Historiographen der Prostitution finden, daß sie jener Erscheinung, der sie selbst die intensivste Forscheraufmerksamkeit schenken, so wenig Zukunftsmöglichkeit zusprechen, und man kann es für ein eigentümliches psychologisches Phänomen ansehen, daß sie sich ausgerechnet mit der Erscheinung des sexuellen Lebens beschäftigen, die ihren tiefsten Abscheu erregt. Das absprechende Urteil beruht jedoch in beiden Fällen auf durchaus verschiedener Basis. Bei Lacroix ist es mehr eine Verbeugung vor dem Publikum, das damals wie heute nach außenhin seinen Abscheu vor der Prostitution proklamiert hat. Der Optimismus Lacroix' durchdringt sein Werk durchaus nicht, innerlich kann er sich nicht zu jener erhabenen Verachtung aufschwingen, und die schöne wilde Bestie Weib scheint ihm sehr begehrenswert. Er vermag nicht, grundsätzlich jene starken Kurtisanen »abzulehnen«, die durch die Verachtung der sogenannten anständigen Welt keineswegs deformiert werden wie die schwachen und talentlosen, sondern deren Kräfte durch sie nur gesteigert werden, daß sie alles erreichen und üben, was an Schönheiten diese anständige Welt für sich allein nur hervorbringen und halten zu können glaubt.
Ganz anders Iwan Bloch. Bei ihm ist die Darstellung der Prostitutionsgeschichte von einer Tendenz durchdrungen, von der Tendenz, daß die Prostitution sich überlebt hat, daß sie in die moderne Welt nicht mehr hineinpaßt und daß die Bedingungen, die die Prostitution geschaffen haben, heute nicht mehr bestehen oder jedenfalls, daß deren Bestand nicht notwendig ist. Da nun aber die Prostitution ein »negativer Faktor des menschlichen Artprozesses« ist, muß ihre Ausrottung eine soziale Pflicht sein. So berühren sich Optimismus und Tendenz, und man gelangt so weit, daß man die Sexualwissenschaft völlig zur Sexualpolitik macht und in ihr vornehmlich die Vorbereitung auf die Verwirklichung der Sexualreform sieht. So schaffen Optimismus und Tendenz dem Autor die Illusion der billigen Lorbeeren, ein eminent moralisches Buch geschrieben zu haben.
Daß es der Wissenschaft nicht ziemt, irgendeiner Erscheinung mit Abscheu gegenüberzutreten, ist schon sattsam betont worden. Denn der wissenschaftliche Arbeiter, der sich ausgerechnet diejenige Erscheinung zur Bearbeitung heraussucht, bei deren Behandlung ihn eine ständige Seekrankheit überkommt, macht sich selbst wegen dieser Idiosynkrasie seines Geschmacks zum Objekt der Forschung. Ernster ist die Erscheinung, daß man eine ganze Wissenschaft, eine neue Wissenschaft in die Kette einer Tendenz pressen will. Der Wissenschaftler, der eine Tendenz vertritt, vergewaltigt notwendig die Erscheinungen, schon weil er sich bemüht zu beweisen. Überdies will er zum Reformator werden, zum Revolutionär, und damit ist schließlich gegeben, daß die Vergewaltigung die ultima ratio wird.
Die Wissenschaft soll die Erscheinungen aufdecken, sie soll sie in die logischen Denkbeziehungen des Menschen eingliedern. Die Aufgabe einer Sexualwissenschaft kann also nur sein, das Liebesleben der Menschen aufzudecken, und zwar von den primitiven sexuellen Instinkten des Menschen bis zu allen »Umwandlungen«, die das Liebesgefühl in der Psyche erleben kann. Die Psychologie der menschlichen Liebesempfindung und die Stellung, die des Menschen Sexualität in den einzelnen Epochen für die Gestaltung des Kulturprozesses eingenommen hat, sind die Aufgaben der Sexualforschung und der Sexualgeschichte. Wenn die Wissenschaft diese Aufgabe gelöst hat, wird ihr vielleicht auch eine Erkenntnis möglich sein, wie sich der Prozeß des Liebeslebens in Zukunft gestalten wird. Ob der Versuch der Beeinflussung dieses Umgestaltungsprozesses Sache und Ziel der Wissenschaft ist, diese Frage stellt ein Problem dar, dessen Beantwortung ich hier nicht vorwegnehmen will. Sie ist auch sekundärer Natur. Bestehen bleibt die Aufgabe der Sexualwissenschaft: Das Aufdecken der sexuellen Anlagen, und wenn sich diese Anlagen nicht als zeitlos herausstellen sollten, der sexuellen Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Nur bei dieser Problemstellung verdient die Forschung den Namen einer Wissenschaft; sie ist prinzipiell unterschieden von dem, was sich bisher Sexualwissenschaft nannte. Die Prostitution als eine Form des sexuellen Lebens, ist eines der von ihr zu lösenden Probleme; es ist jedoch falsch, in der Prostitution das Zentralproblem der Sexualwissenschaft zu sehen und so die Wissenschaft ganz zu einem Tendenzmittel zu machen.
Da mir nicht allein daran liegt, ein eminent moralisches Buch zu schreiben, so entsteht die Frage nach Zweck und Ziel der Darstellung. Der Leser fürchtet vielleicht für sein Seelenheil und glaubt, daß dies Werk eine Verherrlichung der Prostitution werden sollte. Einem Historiographen der Prostitution stünde es vielleicht noch eher, sein Forschungsphänomen zu bewundern, statt sich davor zu ekeln. Wer in der Prostituierten mehr deren Lichtseiten sieht, wem es durch scharfes Nachdenken klar geworden ist, daß sie, die nachts bei Wetter und Wind durch die Straßen geht, genau so ein arbeitendes Wesen ist wie irgendein anderer zivilisierter Mitteleuropäer. Wer ihre »Ehrlichkeit« bewundert, daß sie sich dem Mann hingibt, auch nachdem sie die Bezahlung empfangen hat, könnte logischerweise viel eher dazu kommen, sich mit ihr auch wissenschaftlich zu beschäftigen als jemand, der bei dem Wort »Dirne« schon in Ohnmacht fällt. Und allerdings, die Aufgabe nachzuweisen, daß die herrschenden sexuellen Zustände nicht die idealsten sind, und daß es eine Schweinerei ist, den Genitalschlauch einer Prostituierten zu benutzen, diese Aufgabe erlasse ich mir, weil sie zu leicht ist. Auch erscheint die Arbeit verlorene Liebesmühe, denn ich bin nicht unlogisch genug, aus den Schattenseiten einer Jahrtausende alten Erscheinung zu schließen, daß sie sich überlebt hat, und nicht optimistisch genug, um ohne weiteres an die Möglichkeit eines erfolgreichen Kampfes zu glauben.
Das Ziel meiner Darstellung sei dieses: die Bedeutung der Prostitution in der Psychologie des menschlichen Liebeslebens festzulegen, die Grundlage in der Sexualempfindung von Mann und Weib aufzudecken, durch die eine Möglichkeit der Prostitution geschaffen wird, und die Bedeutung zu skizzieren, die die Existenz der Prostitution in der Geschichte der Menschheit besessen hat. Es handelt sich also nicht darum, die Prostitution, die als ein Minus in der Gesellschaftsordnung empfunden wird, im Sinne irgendeiner modernen Theorie auszuschlachten, worauf es im letzten Grunde mit der Bekämpfung der Prostitution im jenseitigen Lager der Sexualwissenschaft ankommt, sondern es handelt sich darum, die Prostitution als Erscheinung des Lebens verständlich zu machen, ihre psychologischen und historischen Wurzeln zu erkennen und ihr im Liebesleben des Menschen diejenige Stelle anzuweisen, die sie einnimmt, nicht die, die sie »verdient«.
Die Methode der Forschung kann also nur eine psychologisch-historische sein, eine Methode, die heute sehr wohl am Platze ist, nachdem die Pionierarbeit der Wissenschaft von der Medizin geleistet ist, nachdem die Medizin besonders die Komplexe, die von der sogenannten normalen Sexualempfindung abzuweichen scheinen, umschrieben hat. Die Sexualwissenschaft lag bisher ausschließlich in den Händen von Medizinern, den Anbetern des Gesunden und Normalen, das sie im menschlichen Körper zu konservieren streben. Aber mit der Normalität dessen, was nicht mehr Körper ist, mit den Mißbildungen, die man nicht einfach abschneiden kann, hat die Sache doch einen Haken. So ist denn die Gestalt des Normalmenschen, den sie sich konstruierten, keine besonders lebensvolle Puppe geworden. Und die Aufgabe, das gesunde Liebesleben in diesen Normalmenschen hineinzupressen, die der Mediziner spielend löst, belächelt der Psychologe wie eine Zaubervorstellung. Der Psychologe kennt überhaupt nur den Einzelfall, oder er traut mindestens nur ihm Beweiskraft zu. Der Psychologe bildet aus der Kenntnis der Einzelfälle die Variationsbreite der psychologischen Möglichkeiten, aber er stellt keine Norm auf, weil er jedem Fall das gleiche Daseinsrecht zuspricht. Die Kenntnis von den sexuellen Anlagen von Mann und Weib kann sich nur nach dem Einzelfall verbreitern und bilden. Der Mediziner stellt die Norm auf, um das Krankhafte, das von der konstruierten Norm abweicht, zu erkennen und vor allem, um es zu »heilen«, davon lebt er nämlich. So war eine Sexualwissenschaft auf medizinischer Grundlage dazu verurteilt, den Begriff des Krankhaften in die psychologischen und sozialen Momente des Liebeslebens hineinzutragen; und indem man ihre Heilung anstrebte, zwängte man die Erkenntnis der sexuellen Zustände in die Tendenz. Für die echte Wissenschaft kann aber die psychologische oder sexuelle Variation niemals den Begriff des Krankhaften darstellen; sie beschränkt sich darauf, die gegebenen Verhältnisse zu erkennen, sie von allen möglichen Seiten zu beleuchten und ihre Notwendigkeit im Sinne eines Naturgesetzes nachzuweisen. Die veränderte Problemstellung rückt auch eine Erscheinung wie die Prostitution in ein völlig verändertes Licht. Ich interessiere mich nicht für das Problem: »Ist die Prostitution ein notwendiges Übel?«; denn es geht von einer Voraussetzung aus, die man gar nicht in der Tasche hat: Wer die Prostitution erforschen will, dem soll sie kein Übel und nichts Gutes sein, sondern eben eine Erscheinung, auf deren »Gesetzmäßigkeit« es ihm ankommt; urteilen, moralisch werten über Phantasiephänomene ist viel leichter als »voir clair dans ce qui est«. Die wirkliche Erkenntnis der Prostitution ist aber erst dann möglich, wenn klargelegt ist, welche Elemente in dem Sexualleben des Menschen die Prostitution zur Notwendigkeit machen; aus welchem Grunde oder Instinkte heraus das Weib sich zur Prostituierten gemacht hat oder der Mann sie zur Prostitution zwingt. So werden die ersten Kapitel der Durchdringung des Komplexes der sexuellen Empfindungen dienen, und es wird zunächst von der Psychologie des »Prostitutionsvorganges« die Rede sein.