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5. Die Renaissance.

Die wirtschaftlichen Momente bestimmen das sexuelle Niveau der Renaissancezeit, der Mann der rohen Kraft dominiert in dem männlichen Schönheitstypus, das erigierte männliche Glied, das die Kleidung vorzutäuschen sucht, hat gleichsam eine symbolische Bedeutung. In der Sexualität des Mannes ist alles Brutalität und Prostituierung. Der Koitus als solcher ist mit Liebe identisch. So war die psychologische Not des Weibes mit der Renaissancezeit durchaus nicht beseitigt, auch als die Sinnlichkeit und das Recht zur Sinnlichkeit offiziell anerkannt werden, denn was anerkannt wird, ist nur »männliche« Sinnlichkeit.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Frauen, aus der Knechtung der Sinnlichkeit im Mittelalter befreit, die geschlechtliche Vogue trotzdem als einen Sieg des Weibes empfinden. Die Frau empfand eben schon eine Besserung ihrer Situation in der bloßen Anerkennung der Sinnlichkeit.

Die Gründe für das ausschließliche Dominieren des Sexualtypus: »Horaz« im öffentlichen Liebesleben sind mannigfaltiger Art; ihr Hauptgrund liegt wohl in der Psychologie des Mannes, dieser in der Renaissancezeit ganz auf das Ego gestellten Persönlichkeit. Das ansteigende nationale Prinzip machte überdies nach den alle Staaten stark dezimierenden Kriegen neues Menschenmaterial außerordentlich notwendig, während die Menschennot dem Mittelalter fremd war. Hinzu kam, daß die Geldwirtschaft die Gefahr der Übervölkerung von Grund auf beseitigte. Die Menschenzahl, die das wirtschaftliche Niveau bisher drückte, muß jetzt, um die Arbeitsmöglichkeiten zu erfüllen, gesteigert werden. Diese wirtschaftlichen Momente sind für die Wandlung der sexuellen Auffassungen von ausschlaggebender Bedeutung. Wie weit man damals von den christlichen Normen offiziell abwich, ist allerdings eine von den Historikern gern unterschlagene Tatsache. Der Kreistag von Nürnberg faßte am 14. Februar 1650, also nach dem Dreißigjährigen Kriege, in einer Zeit stärkster Entvölkerung folgenden Beschluß: »Demnach, auch, wie unumgänglich des heiligen römischen Reiches Notdurft erfordert, die in diesem dreißigjährig blutigen Krieg ganz abgenommen durch das Schwert, Krankheit und Hunger verzehrte Mannschaft wiederum zu ersetzen, … so sollen hinfür innerhalb der nächsten zehn Jahre jeder Mannspersonen zwei Weiber zu heiraten erlaubt sein.« Man sieht, wie wirtschaftliche Notwendigkeiten die moralische Grundlage umgestaltet.

Es ist bekannt, daß man der Renaissancezeit die Geburt der individuellen Persönlichkeit zuschreibt, und damit auch der individuellen Liebe. Ich habe in der Einführung die individuelle Liebe als einen zeitlosen sexuellen Typus gekennzeichnet und in der Darstellung des Altertums und Mittelalters gezeigt, daß die Faszination des einen Mannes durch die eine Frau nicht mehr zu erfinden war. Das Nebeneinander von individueller und allgemeiner Sexualspannung hat zu allen Zeiten bestanden. Ich finde jedoch in der Renaissancezeit durchaus keine Momente, als sei hier die individuelle Sexualspannung besonders in den Vordergrund getreten, es ist vielmehr eine Zeit sehr starker allgemeiner Sexualspannung einer gesteigerten Sexualbetätigung, nicht aber eine allgemeine Kultivierung, Hebung des Sexualtriebes.

Es ist eine bekannte Erscheinung, daß die dominierende Klasse eines Kulturkomplexes der sexuellen Moral den Stempel aufdrückt, so hatten wir im Altertum wesentlich eine Moral der Herrenmenschen, in der Frühzeit des Mittelalters wurde die sexuelle Moral bestimmt durch die Kirche, in der späteren Zeit durch das ritterliche Ideal, in der Renaissancezeit durch den regierenden Herrenmenschen, im Ancien Regime durch den Adel, im 19. Jahrhundert durch das Bürgertum. Die Moral geht immer von einer Klasse aus, weil die Moral eins der erheblichsten sozialen Bindungsmittel der Gesellschaftsklassen ist. Dominierend werden in der Renaissancezeit der Fürst und der Krieger, deren Persönlichkeit den allgemeinen Moralgesetzen die Gestaltung gibt.

Die Renaissancezeit ist also die Zeit des erobernden und kriegführenden, kraftstrotzenden Menschen, des Menschen der großen Gesichtspunkte, nicht des beschränkten Milieus. Das Niveau der Renaissancegesellschaft wird von den aufsteigenden Klassen bestimmt, aber aufsteigende Klassen sind niemals sentimental. Darum wird eben der Rest der aus dem Mittelalter kommenden Vorurteile über den Haufen geworfen, das Imponierende der Renaissancezeit, das, was ihr den genialen Zug gibt, liegt eben darin, daß sie die Zeit großer Genies gewesen ist, das Können der vielen kleinen Geister dieser Zeit ist nichts als eine genialische Geste.

Die Renaissance ist die Zeit der Verschwender, der Menschen, die Summen verschwenden, die früheren Zeiten unvorstellbar waren – es war ja die Frühzeit der Geldwirtschaft. In Zeiten der Naturalwirtschaft produziert man für den Einzelbedarf, die Zeit der Geldwirtschaft bringt eine außerordentliche Erhöhung des wirtschaftlichen Niveaus, weil hier zuerst ein Austausch im großen stattfindet. Die Bedeutung dieses neuen Wirtschaftssystems hat man ja erst in der Gegenwart voll gewürdigt. Die politische Bedeutung der Renaissance liegt in der Ausbildung des nationalen Staates, weil durch diese Ausbildung ein außerordentlicher Bedarf an Menschen sich einstellt, und weil auf diesen Bedarf ja die Umgestaltung der sexuellen Auffassungen hauptsächlich zurückgeht. Darum wird auch im letzten Grunde der Sinnenmensch zum Idealtypus erhoben, der Mensch, der imstande ist, animalisches Leben zu erwecken. So werden das Schönheitsideal der Mann im Kulminationspunkt seiner physischen Kraft und seiner geschlechtlichen Potenz, und die Frau in dem Alter, in dem ihre Formen die volle Entfaltung erreichen und ihr ganzes Wesen die glühendste Erfüllung zu bieten vermag. Die krasseste Ausbildung dieses Schönheitsideals der Mode ist eben jener Hosenlatz der Zeit, der das ständig erigierte Glied des Mannes vorzutäuschen sucht.

Die weitere Ausbildung der kapitalistischen Systeme bringt eine Ausdehnung des Besitzes und der wirtschaftlichen Interessen auf breitere Schichten mit sich, und damit ist auch die Bedeutung der Konvenienzehe gewachsen. Es war damals einer viel größeren Menschenmasse die Möglichkeit geboten, durch die Ehe wirtschaftliche Werte zu akkumulieren und sozusagen neu zu schaffen, und damit mußte die Ehe in viel breiteren Volksschichten in den Bann wirtschaftlicher Interessen treten. Bei der starken erotischen Signatur der Zeit konnte auf diese Weise aber die Ehe nicht mehr den Bedarf an Sinnlichkeit decken, der außereheliche Geschlechtsverkehr und die Prostitution füllten die Lücken aus. Allerdings betrachtete man den vorehelichen Geschlechtsverkehr damals noch in viel breiteren Kreisen in naiver Weise, ohne sich gegen ihn zu empören:

Sollen die Jungen wachsen und masten,
so dürfen sie nicht lang' fasten.

Und von den Jungfrauen sagte man:

Hungert die Dirne ob ihren Knien,
so soll man sie nicht lange verziehen
und ihr geben einen jungen Gesellen,
der da hat einen guten Schnabel,
zwei Handbreit unter seinem Nabel.

Über die Begierde der Frauen in der Renaissance hat man das Wort geprägt, daß dreierlei unersättlich ist: die Landsknechte, die Kirche und der Frauen Bauch. Dieses Urteil ist psychologisch leicht verständlich. Es mußte sich in einer kraftstrotzenden Zeit einstellen, in der die sexuelle Veranlagung der Männer horazisch war.

In der Renaissancezeit läßt sich die Existenz des Flirts literarisch zum ersten Male belegen. Der Mann erhebt die apodiktische Forderung, daß die Ehefrau ihm in der Hochzeitsnacht eine unberührte Jungfernschaft präsentiert. Das jus primae noctis des Ehemannes wird nur in Zeiten einer starken Prostituierung des Weibes hoch bewertet. Auf die Renaissancezeit geht auch die Trennung der in die Ehe tretenden Bräute in würdige und unwürdige zurück. Ebenso sind der Flirt in der Form, wie ihn die Renaissancezeit kennt, und die künstliche Jungfernschaft nur eine Folge der Anbetung der Virginität. Trotzdem kamen die Frauen damals noch leichter an den Mann, weil die Eheschließung eine sehr bequeme Sache war. Zum Matrimonium ratum genügte das einfache gegenseitige Gelöbnis, damit die Ehe als gültig geschlossen betrachtet wurde. Folgte darauf der Beischlaf, so galt die Ehe als vollzogen (consumptum). Es war selbst bei jugendlichen Ehekandidaten nicht einmal der Heiratskonsens der Eltern notwendig, und trotz allen Sträubens mußte die Kirche eine Anzahl von Winkelehen anerkennen. Selbstverständlich war infolge dieser leichten Eheschließung die böswillige Verlassung ein sehr häufiger Zug in der sexuellen Physiognomie der Renaissance, und es ist eine Tatsache, daß diese sogenannte Ehe vielfach nur ein Verführungsmittel war. In den besitzenden Kreisen hielt man natürlich auf die Ausstellung eines Ehekontraktes, und man sträubte sich gegen ein gar zu fixes »Konsumieren« der Ehe. Infolgedessen war die »sexuelle Not« durch das Verbot des vorehelichen Geschlechtsverkehrs für die besitzenden Kreise gegeben, und hier erstritten sich das Surrogat des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, der Flirt und das Universalheilmittel die künstliche Jungfernschaft die Daseinsberechtigung.

Über den Flirt dieser Zeit gibt es Dokumente, die interessant genug sind, um hier wiedergegeben zu werden: allerdings trug der Flirt damals noch einen wesentlichen anderen Charakter als heute, weil er den Probe- und Kommnächten noch viel näher stand, aus denen er sich entwickelt hat. Jene Anwendung der bäuerlichen Grundsätze, keine Katze im Sack zu kaufen, auf das sexuelle Leben war damals auch bei den Gebildeten Geschäftspraxis. Die folkloristischen Forschungen des vergangenen Jahrzehnts haben ja zur Genüge erwiesen, daß auch in der Gegenwart nicht nur bei den Südslaven, sondern im Kerne Deutschlands die Bauern in der Liebe für genaue Prüfung der Ware sind. Die unvornehme Einrichtung, daß das Mädchen vor dem eigentlichen Abschluß der Ehe ihrem Zukünftigen ein Gastspiel gibt, aus dem sich erweisen soll, ob sie allen erotischen Anforderungen ihres Zukünftigen genügen wird, konnten die besitzenden Kreise mit ihrem Kultus der Jungfernschaft nicht bestehen lassen, eine reine moralische Reaktion, da sie sich um den Ausfall des Examens doch nicht zu sorgen brauchten. Man war raffiniert genug, das saturierende Diner in ein appetitanregendes Frühstück zu wandeln, in einen Flirt bis zur Leibesvisitation im Bett, natürlich in allen Züchten.

Was in diesen Nächten die Nürnbergerin Barbara Löffelholz, die Nichte des Martin Holzschuer und des Paul Imhoff, und Sigismund Stromer, beide aus »unseren« Kreisen getrieben haben, ist in einem Sensationsprozeß des 15. Jahrhunderts zu einwandfreier Gerichtsnotorischkeit erhoben worden. Der Prozeß, den Sigismund Stromers Sippe gegen die Löffelhölzer anstrengten, weil Barbara ihr in den Nächten gegebenes Eheversprechen nicht anerkannte, hat auch kulturhistorisches Interesse. Dr. Reicke berichtet über den Prozeß nach den Akten: Barbara mußte zugeben, den Kläger nächtlich in ihre Kammer gelassen zu haben, und wenn sie ihn auch anfangs nur zwei Stunden bei sich gehabt haben will, so rechnet man ihr doch fünf volle Nächte an, die sie mit dem Kläger zusammen gelegen hat. Die Beklagte konnte bei ihrer Vernehmung nicht leugnen, doch behauptete sie, daß das in allen Züchten geschehen sei …

Paul Imhoff und seine Frau – als nahe Verwandte von Barbara Löffelholz – in deren Wohnung Barbara die nächtlichen Visiten Siegismund Stromers empfing, gingen auch nach der naiven Sitte der damaligen Zeit in das Zimmer, setzten sich auf ihr Bett und schliefen mit ihr und dem Kläger in demselben Zimmer. Das Ganze macht den Eindruck, als ob wenigstens einer der Eheleute immer als Anstandsperson mit im Zimmer gewesen ist. Das Ganze, etwas symbolisch und in die feineren Sitten unserer »kultivierten Zeit« übertragen, nennen wir Flirt.

Zu allen Zeiten ist der Flirt ein gefährliches Spiel gewesen, und auch heute wandelt sich das Glimmen oft in flackerndes Feuer. Die Männer waren sogar in der Regel für ein abgekürztes Verfahren. Man kannte in der Renaissancezeit noch eine Art gastlicher Prostitution, eine »Ausartung« mittelalterlichen Minnedienstes. Der Ehemann sah es gern, wenn seine Frau von anderen angebetet wurde. Dann merkte er scheinbar erst, was er von ihr hatte. Allmählich gestattete man nicht nur die platonische Anbetung, und die Bewunderung brauchte sich nicht auf die Augen zu beschränken: denn eine schöne Frau hat nichts zu verbergen. Darum gab der Ehemann dem Gastfreund die Nacht über seine Frau ins Bett, er »legte sie auf guten Glauben bei«. Die Schwanke der Zeit erzählen Hunderte von Schnurren, wie der junge Gast den guten Glauben rechtfertigte, das heißt den der Frau. Aus dieser Sitte entwickelte sich in der Renaissancezeit eine besondere Form gastlicher Prostitution; der Mann schenkte sich den guten Glauben und ließ sich lieber seine Nachsichtigkeit bezahlen, auch dann, wenn die Frau schon Geschenke bekommen hatte.

Mit ehelicher Treue nahm man es eben in dieser Zeit nicht so genau. Der eheliche Stand galt offiziell gewiß als der höchste Stand, aber darum waren doch die Liebesverhältnisse der Frauen an der Stundenordnung. Man darf nicht der Gesamtheit zugute buchen, was sich nur bei den Klassen findet, in deren wirtschaftlicher Existenzbedingung diese Ideologien wurzeln. Bei den Kleinbürgern, den Proletariern und den Kleinbauern war die Frau hauptsächlich die Sachwalterin des Hauses, und darum wurde die Monogamie als wirtschaftliche Existenzbedingung zum reinen, absoluten Moralphänomen, das den Kreisen sehr entbehrlich war, in denen die Frau ein Lustobjekt darstellte.

In den kleineren Verhältnissen war durch die ganze Tätigkeit der Frau die Verführung zur Untreue gering. Die Frau herrschte im Hause, sie herrschte auch bis zu einem gewissen Grade über ihren Mann – in diesen Kreisen ist das Pantoffelheldentum gebürtig.

Wo aber die Genußgüter des Lebens im Überfluß sprudeln, da wird die Frau prostitutiert. Da ist sie das Genußobjekt, das selbst ewig kalt bleibt, wenn andere sich an ihm erregen.

Das sind die Voraussetzungen für eine Verbreitung der Prostitution, wie sie sich von der Renaissance bis zur Gegenwart vollzieht. In einer kapitalistischen Zeit kann sich die Prostitution ihre gesellschaftliche Daseinsberechtigung erkämpfen. Der Liebeshandel nimmt mit einem Schlage einen solchen Aufschwung, daß auch die Klöster betriebsame Bordelle errichten. Wie es in den Nonnenklöstern zugeht, bezeugt das ebenso wahre wie verleumderische Sprichwort: »Die Augustinerin will zur Nacht immer zwei Köpfe auf einem Kissen.« – »In manchen Klöstern findet man zweierlei Pantoffeln unter dem Bett.« – »Fast alle Klöster Roms sind richtige Hurenhäuser«, sagt der Geheimschreiber Burckhardt über die heilige Stadt. Zu Sölfingen bei Ulm ging es so arg zu, daß die moralischen Bürger es nicht länger mit ansehen mochten und die Kirche zum Eingreifen zwangen. Was früher die ausschließliche Domäne geistlicher Brunst gewesen war, wurde eben jetzt, wo der letzte Schleier von menschlicher Liebeslust fiel, das Betätigungsfeld der Ritter, der Bürger und schließlich sogar der Proletarier.

Statistiken über die Prostitution, die von der Gegenwart ein Zerrbild entwerfen, fehlen für die Renaissance – Gott sei Dank – ganz. Lebendigeres Material lehrt, daß es damals im Frauengäßchen reger wurde, teils weil es bevölkerter wurde, teils weil man sich hinaus aus den Häusern getrauen konnte. Denn die Ächtung der Dirne hat sich in der großen Gesellschaft überlebt. Nur gewisse Kreise des mittleren Bürgertums haben aus ihrer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus die moralische Ideologie noch de facto konserviert, obwohl diese Lehre seitdem zu einer schrumpligen Mumie geworden ist, die nicht nur das moralische Abbild ihrer bürgerlichen Mutter ist. Die moralische Ideologie vermag allein, diese sonst diffuse Klasse zu binden.

Der Kampf um die Befreiung von der Ehenotwendigkeit und gegen die Ächtung des außerehelichen Verkehrs ist also nicht der Kampf gegen die moralischen Auffassungen der gesitteten Menschheit. Er ist im Grunde nur der große Radau, den eine Fronde des mittleren Bürgertums machen muß, um einem sinnlosen Kampfe einen gewissen Gehalt zu geben. Weil sich die sogenannte alte Moral vornehmlich auf wirtschaftliche Faktoren gründete, besteht und fällt sie mit ihren wirtschaftlichen Voraussetzungen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen fallen aber erst bei einer Erhebung dieser Kreise in das Gebiet der Besitzenden oder bei einem Herabsinken ins Proletariat. Es ist bezeichnend, daß in Ländern, wo der Mittelstand nicht die große Rolle spielt wie in Deutschland, auch der sogenannten sexuellen Krise nicht annähernd die Bedeutung zugemessen wird.

Das Korinth der Renaissance war das heilige Rom, in dessen zahllosen Klöstern vornehmlich die Venus Pandemos verehrt wurde. »Alle Wege führen nach Rom«, sagte man damals, »und in Rom führt jeder Weg zur Unzucht.« Nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, das auf die Liebe jedenfalls besser paßt als auf den Kartoffelhandel, bedingen Fremdenverkehr und Priester ein Anwachsen der Prostitution. Und der Fremdenverkehr war in Rom tatsächlich infolge der mit der Renaissance beginnenden Reiselust sehr bedeutend. Die Reiselust ergriff natürlich auch die galanten Damen. Die frühe Renaissance ist die Zeit der Konzilien und Reichstage, und man beriet damals sehr lange. Dort war für schöne Frauen das allerbeste Geschäft zu machen, und niemals hat den Dirnen die Witterung für Fremdenverkehr und Priester gefehlt. Zur Zeit des Konzils in Konstanz sollen dort 1500 Dirnen gewesen sein. Die Städte, in denen Konzile tagten, machten einen ganz internationalen Eindruck, und Prostitutions- und Bordellwesen nahmen einen Aufschwung – wie heute bei Weltausstellungen. Eberhard Dacher beschreibt die Bordelle in der Konstanzer Konzilzeit: »Also ritten wir von einer Frawn Hauss zu dem andern, die solch Frawen enthielten, und finden in einem Hauss etwa 30, in einem minder, in dem andern mehr, ohne die in Ställen lagen und Badestuben, und funden also gemeiner Frawen bei 700. Da wollt ich ihr nicht mehr suchen. Da wir die Zahl für unsern Herren brachten, so sprach er, wir sollten ihm die heimliche Frawen auch erfahren. Da antwortete ich ihm, daß seine Gnade das thete, ich were es nicht mechtig zu thun, ich würde vielleicht um die Sach ertödtet und möchte auch finden, des ich nicht gerne hette. Da sprach mein Herr, ich hette Recht, und das bestund also.«

Die zahllosen kriegerischen Verwicklungen der Zeit mußten naturgemäß die Prostitution befördern. Schon bei der Darstellung der Kreuzzüge habe ich die große Bedeutung dieses Zusammenhanges von Heereswesen und Prostitution gewürdigt. Mit der Renaissancezeit fing man an, den Dirnentroß, welcher dem Heere folgte, zu organisieren. Das 15. Jahrhundert schuf den »Hurenweibel«, der in die wachsende Disziplinlosigkeit etwas Ordnung hineinbringen sollte. Je mehr das Söldnerwesen überhand nahm, je mehr jedes Regiment Selbständigkeit gewann, um so mehr Nachsicht wurde geübt.

Der Landsknecht suchte im Kriege das ungebundene Leben und den ungebundenen Geschlechtsverkehr. So ist das Heer in dieser Zeit eine sehr bedeutende Pflanzstätte der Prostitution. Über den Umfang, den das Dirnentum im Heerwesen annahm, belehrt reiches Material. Karl der Kühne soll bei der Belagerung von Neuß 4000 Dirnen mit sich gehabt haben; Werner von Urslingen hatte bei einem Heere von 3500 Mann 1000 Dirnen und Strichjungen. Dieser außerordentliche Prozentsatz zwang zu dem Versuch, die Dirnen irgendwie für das Heer nutzbringend zu verwenden. Das war neben der Ordnung die Hauptaufgabe des Hurenweibels. Er mußte darauf sehen, daß »die gemeinen Weiber getreulich ihren Herrn abwarten, auf dem Marsche das Gepäck tragen, im Lager kochen, waschen, die Kloaken reinigen, Kranke pflegen, sonst, wo man zu Feld liegt, mit Behendigkeit laufen, rennen, einschenken, essen, trinken und Speis holen und sich neben anderer Notdurft bescheiden halten«. Der Hurenweibel hatte auch das Recht, Vergehen »durch mächtig übel Schläge« zu ahnden, und es wird ihm geradezu zur Pflicht gemacht, die Weiber streng zu halten – bei Todesstrafe ist das Stehlen verboten – und sie zu nützlichen Arbeiten anzuhalten: Wege auszubessern, Gräben aufzuwerfen oder zu füllen, Holz zu den Schanzkörben und Verhauen herbeizuschleppen, Hand anzulegen, wenn die Bagagewagen oder die Geschütze im Wegmorast stecken bleiben usw. Trotzdem wurden die Soldatendirnen mehr und mehr zu Parasiten, als der Krieg zum Raubkrieg ausartete. Die Soldaten verdienten viel, und folglich auch die Dirnen. Das Heer, das 1570 unter Strozzi nach Italien ziehen sollte, wurde von den galanten Damen so aufgehalten, daß es kaum von der Stelle kam. Der sehr energische Strozzi ließ daraufhin 800 Weiber einfach in den Fluß werfen.

Die gesellschaftliche Infamierung, die im späteren Mittelalter die Dirne traf, wurde in der Renaissancezeit von ihr genommen. In Deutschland allerdings besteht sie noch bis tief ins 15. Jahrhundert hinein, aber das Mutterland der großen Umgestaltung, Italien, das Land der genußsüchtigen Prinzen und Kapitalisten, das Land der Emporkömmlinge, hat sie schon viel früher beseitigt. Man fing damals auch an, die Dirne in der ewigen Stadt zu schätzen, weil sie ein so sehr ausgiebiges Besteuerungsobjekt darbot, und der Geldbeutel geht zu allen Zeiten über die Sittlichkeit. Als die soziale Infamierung schwand, wuchs natürlich das Heer der Kuppler ins Ungemessene. Die professionelle Kuppelei wurde in den allerbesten Kreisen betrieben. Aerentina läßt eine alte Kupplerin sagen: »Ich fühle es mir bis in die Fingerspitzen kribbeln, wenn ich daran denke, wie die einstmalige Glückseligkeit unseres Kupplergewerbes uns geraubt ist, und zwar von den Frauen und Damen, von den Hofkavalieren und Hoffräuleins, von den Beichtigern und Nonnen. Heutzutage regieren diese vornehmen Kuppler die Welt, sie sind Herzöge, sie sind Markgrafen, Kavaliere, ja sie sind Päpste, Kaiser, Könige, Großtürken, Kardinäle, Bischöfe und Patriarchen.«

Die Erotomanie der Zeit trübte das gesellschaftliche Urteil. Der Geschlechtsverkehr wird der Hauptinhalt der geselligen Unterhaltung, und der Ledige geht ganz offen, wenn er sich einen fröhlichen Abend machen will, nach dem Frauengäßchen. Man konnte damals sehr leicht zu Geld kommen, und man gab es darum sehr leicht wieder aus. Die Herrengesellschaft trinkt ihren Wein immer im Bordell, der Bordellbesuch wird eben wieder öffentliches Recht des Mannes. Gesandte und Beamte zählen in ihren Rechnungen offen die Beträge auf, die sie auf Dienstreisen in Frauenhäusern ausgegeben haben. Ein Frankfurter Rat, der 1446 von der Stadt nach Köln gesandt wurde, berechnete seiner Stadt bei der Rückkehr folgende Beträge: »Verzehrt ich in der Herberge sechs Weißpfennig, so ging ich den Abend zu dem Tanz. Führten mich die Gesellen zu den Frauen, ließ ich Wein holen für fünf Weißpfennig, so schenkt ich der Herberge zwei Weißpfennig.« Auch die Beamten, die die Bordellsteuern einzutreiben hatten, berechneten der Stadt dabei ihre Spesen, ganz wie heute die Weinreisenden. Ein Straßburger Beamter notiert in sein Rechenbuch: »Hab a gebickt, macht 30 Pfennige.«

Untersagt war der Prostitutionsverkehr nur den Juden und den verheirateten Männern. Eine Mainzer Polizei-Verordnung des 15. Jahrhunderts bestimmt, daß »dem Juden, der mit einer Frau Unkeuschheit treibt, man sein Ding abschneiden oder ein Aug ausstechen sollt, oder sie mögen um eine Summe darum dingen«. Natürlich waren auf Grund dieser Gebote der Jude und der verheiratete Mann die liebsten Gäste des Frauenwirtes. Denn sie mußten um des Geheimnisses willen am meisten zahlen.

Eine Folge des Schwindens der sozialen Infamierung und der Hebung der wirtschaftlichen Bedingungen war die Wiedererstehung der vornehmen Kokotte. Die Hetäre tritt mit der Renaissance wieder in die Geschichte ein, denn die Renaissance kannte auch ihr männliches Widerspiel, den reichen Lebemann. Es gab damals Männer, die drei und mehr Mädchen aushielten, besonders in der reichen Aristokratie Italiens und später auch Frankreichs. Oft hielten sich auch mehrere Freunde zusammen eine große Kurtisane. In Florenz, Venedig und Rom wurden diese reichen und eleganten unterhaltenen Frauen gesellschaftlich sehr bald tonangebend. Philippus Strozzi, der Gatte der Maria von Medici, hielt für sich und seine Freunde ein eigenes Lupanar, in dem die großen Wüstlinge der Zeit verkehrten: Lorence de Medici, der Herzog von Urbino, Francisco degli Albizzi und Francisco del Nero. Das elegante Leben so vornehmer Herren war natürlich ein blendendes Vorbild. Das zierlich geputzte Haus der Kurtisane wird vielfach beschrieben: ihr Bett, das mit seidenen und goldenen Umhängen behängt ist, die Tücher aus der allerbesten Leinwand, die Kissen auf das stattlichste gestickt, die Stühle schön überzogen, die Tische mit den besten türkischen Teppichen bedeckt, das Gemach mit Sammet und mit güldenen Stücken behängt, der Tresor mit dem schönsten Silbergeschirr geziert, alle Simse mit schönen und üppigen Gemälden bestellt, die Wände mit Blumen und Laubwerk bemalt und das ganze Haus mit gutem Geruch von Rauch und Wasser erfüllt. Hier triumphierte die Sinnlichkeit.

Die »Vornehmheit«, welche die Halbwelt ausstrahlte, machte Propaganda für die Umbildung der sexuellen Auffassungen, für die in der Wandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse die nötigen Voraussetzungen gegeben waren. Am meisten hatte die Kokotte natürlich in den Modebädern zu sagen. Das Publikum, das in den Heilbädern zusammenströmte, setzte sich aus der internationalen Lebewelt zusammen. Und hier triumphierten die schönen und raffinierten Frauen, hier war ein hervorragendes Betätigungsfeld für alle Arten von Kupplern, und hier war auch die beste Gelegenheit für die Prostitution der sogenannten ehrbaren Frauen. Die Massensuggestion der Eleganz, die Leichtigkeit der Lebensformen war nirgends so stark, und dann, man sah sich nur in der Fremde, man konnte sich hier gehen lassen, denn man kannte sich nicht.

Von dem üppigen Leben in den Heilbädern bietet die Kunst ein Gemälde von Taciteischer Knappheit und Schärfe. So ist, wie einst im Altertum, die Herrschaft des Sinnenmenschen und mit ihr die Freude an einer erotischen und ästhetischen Ausformung des Lebens und seines Beiwerks wieder hergestellt, und die gewollte Schrankenlosigkeit und bewußte Ungebundenheit des gesellschaftlichen Verkehrs, jener Rückschlag gegen jahrhundertelange Bindung, wird nur gestört durch die Entdeckung der Syphilis.

Es ist eine vielvertretene Ansicht, daß die Syphilis im 15. Jahrhundert in Europa zuerst aufgetaucht ist. Zweifellos mußte damals durch den ungebundenen Geschlechtsverkehr jedes venerische Leiden sich besonders stark weiterverbreiten. Außerdem kannte man in der Renaissance nicht die strengen hygienischen Reinigungen, die im Altertum die Wirkung der Syphilis wesentlich gehemmt haben.

Man argumentiert in der Regel, das Altertum hätte die Syphilis als Krankheitsphänomen kennen müssen, wenn sie damals existiert hätte. Man vergißt dabei, daß die Übertragung der Syphilis durch den Geschlechtsverkehr sehr schwierig zu erkennen ist. Bei der Darstellung der Verhältnisse des Altertums habe ich außerdem erwähnt, daß das Krankheitsbild durch die Ähnlichkeit mit der Lepra sehr leicht verwirrt wird. Natürlich bleibt es sehr auffallend, daß der entwickelten antiken Medizin die Kenntnis der Syphilis gefehlt hat, und auf dieses Rätsel ist es wohl mit zurückzuführen, daß lange ein consensus doctorum bestanden hat, die Syphilis, von der man in den Jahren 1495 und 1496, also zwei, bis drei Jahre nach der Entdeckung Amerikas, in ganz Europa zu reden begonnen hatte, sei mit der ersten Reise des Columbus von den Bahamas oder den Großen Antillen eingeschleppt worden.

Die direkte Behauptung, daß die Syphilis durch die paar Matrosen des Columbus, der im März 1493 von Haiti aus heimkehrte, nach Europa übertragen worden sei, begegnet uns zuerst 1559 in greifbarer Gestalt, also über ein volles Menschenalter nach dem Ereignis. Außerdem sind die Zeugen nicht die besten. Daß die Krankheit immer und immer wieder als neu bezeichnet wird, beweist natürlich ebensowenig, daß sie aus Amerika gekommen ist, wie man umgekehrt aus der Tatsache, daß sie nicht aus Amerika gekommen ist, schließen darf, die Antike sei von der Syphilis durchseucht gewesen. Andrerseits ist es auch nicht stichhaltig, wenn man schließt, daß die entwickelte alte Medizin die Syphilis hätte erkennen müssen, wenn sie damals bestanden hätte, weil die Alten auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten an einer sehr auffallenden Sehschwäche litten und nicht einmal den sehr einfachen Zusammenhang der Gonorrhoe erkannten. Der Versuch des literarischen Beweises für die Existenz der Syphilis im Altertum ist jedenfalls nach den Blochschen Untersuchungen als gescheitert zu betrachten, und man wird zunächst die Untersuchung an Knochen aus dieser Zeit abwarten müssen. Bis jetzt sind auch für Amerika keinerlei Knochen gefunden worden, die für die Zeit vor 1492 zweifellos Existenz der Syphilis bezeugen. Direkte Beweise sind also von keinem der beiden Weltteile gegeben, und wir sind auf die indirekten angewiesen.

Es wäre zunächst sehr wunderlich, wenn die angebliche Einschleppung von den Antillen in Sevilla und Barcelona, wohin die Matrosen zuerst kamen, übersehen worden wäre; es ist dies geradezu ein Gewaltakt, um so mehr, als man gleichzeitig von schweren Syphilisformen spricht, die die schlimme Initialepidemie einer neu aus den Tropen eingeschleppten Krankheit mit sich brachte. Die Krankheit soll dann sich von den spanischen Häfen nach dem arragonesischen Süditalien, besonders nach Sizilien und Neapel verbreitet haben und durch die neapolitanischen Dirnen auf das Heer Karls VIII. übertragen sein, das sich aus den streng disziplinierten französischen Kerntruppen und schweizerischen und deutschen Söldnern zusammensetzte. Bei der Rückkehr sollen dann diese Truppenkontingente die Syphilis in ihre Heimat eingeschleppt haben. Unwahrscheinlich ist bei dieser ganzen Theorie besonders, daß man in diesem Falle die neue Krankheit nicht gleich in Spanien entdeckt hat, sondern erst bei der dritten Übertragung in Frankreich und Deutschland, während man doch in Spanien seit mehr als einem Jahrhundert auf die Einschleppung pestartiger Krankheiten auf dem Seeweg besonders geachtet hat und sie durch Hafensperren und Quarantänen bekämpfte. Das völlige Übersehen der neuen Krankheit ist also sehr auffallend. Aus Spanien selbst verlautet bestimmt kein Wort vor dem 8. Juni 1495, wo nach Barcelona die Kunde von der neuen schrecklichen Krankheit kommt, und zwar in einer Weise, die keineswegs für die amerikanische Theorie spricht. Am 8. Juni 1495, als Karl VIII. schon seit einigen Wochen auf dem Rückmarsche sich befand, stieß in Barcelona der eben mit dem medizinischen Doktorhut gekrönte Dozent der Philosophie Nicolo Scillacio aus Pavia auf Syphilitische in erheblicher Zahl, und man erzählte ihm, die Krankheit sei seit kurzer Zeit aus Frankreich herübergekommen. Die Reiseaufzeichnungen eines deutschen Arztes beweisen ferner, daß man im September 1494 in Barcelona von der Syphilis noch nichts wußte, und in ganz Spanien spricht niemand von ihr vor Anfang des Jahres 1495. Barcelona kommt also als erster Syphilisherd nicht in Betracht.

Ebensowenig läßt sich aber eine schwere Syphilisepidemie in Neapel in der Zeit von März bis Mai 1495 erweisen. Die sorgfältige Untersuchung der Archivbestände hat ergeben, daß man erst 1496 von der neuen Krankheit etwas erfuhr, und auch in Norditalien sickert die Syphiliskenntnis erst im Sommer 1496 durch und wird zum großen Teil auf das Büchlein des Scillacio: »Novus morbus, qui nuper a Gallia defluxit« zurückzuführen sein, das im März 1496 erschien. An der furchtbaren Dezimierung des unter dem Herzog von Montponsier und dem Connetable d'Aubigny zurückgelassenen Besatzungsheeres ist nicht die Syphilis schuld, sondern die entsetzliche Typhusepidemie der Jahre 1495-96.

In Deutschland war die Syphilis aber schon viel früher bekannt. Johannes Trithemius will sie schon im Jahre 1493 dort kennengelernt haben, ebenso der Straßburger Wundarzt Hieronymus Brunschwig, und der Zisterzienser-Prior Johann Nibling sogar schon zu Anfang der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts. Am 26. März 1495 kommt die Syphilis auf dem Reichstag zu Worms zur Sprache; man sieht in ihr ein Zeichen des göttlichen Zorns über die sündige Menschheit, und das Reichstagsedikt, das später gedruckt in alle Länder verschickt wurde, warnt die Stadtverwaltung »für die neue Seuche, genannt die bösen Blattern«, was die kurz darauf erschienene lateinische Übersetzung mit »Malum Francium« wiedergibt. Die neue Bezeichnung wird ins Französische übertragen mit »Grosse vérole« und »mal franzose«. Das Reichstagsedikt war am 7. August 1495 erlassen worden, und wenige Monate später unternimmt man überall im Lande eine durchgreifende Abwehraktion. Man geht ähnlich vor wie gegen die Leprakranken und weist die Syphilitiker, soweit sie nicht Stadteingesessene sind, aus der Stadt aus. Die Einheimischen sucht man zu isolieren.

Von Besançon bis Wien liegen im Winter 1495-96 die Landstraßen voll Luetikern, unter denen sich sehr viele Bordelldirnen und Badejungen befinden. Ein derartiges Bild mußte natürlich die Vorstellung von einer Syphilisepidemie erwecken und trug außerdem erheblich zur Verbreitung der Krankheit bei, da die Reisenden natürlich trotz aller Warnungen vielfach mit diesen Ausgestoßenen verkehrten. Im Frühjahr und Sommer 1495 setzt eine Syphilisliteratur in Deutschland und dem kulturell von ihm abhängenden Italien ein, die sich nur auf Grund der oben geschilderten Verhältnisse erfassen läßt. Sudhoff hat für die Zeit von 1495 für eine bedeutende Anzahl mittel- und süddeutscher Städte das sämtliche in Frage kommende direkte Aktenmaterial geprüft und hat daraus festgestellt, daß von einer großen Syphilisepidemie nicht die Rede sein kann. Allerdings ergreift man überall Abwehrmaßregeln, geht jedoch von dem Grundsatz aus: »O heiliger St. Florian, verschon' unser Haus, zünd' andere dafür an.« Zwei bis drei Jahre brennt dieses Strohfeuer der Vielgeschäftigkeit, dann aber erweist sich die besonders von der Geistlichkeit als schwere Gottesgeißel ausstaffierte Krankheit als äußerst harmlos, und man glaubte sie durch eine gleichzeitig bekanntwerdende Kur bereits in zwei bis drei Wochen beseitigen zu können. Die Maßnahmen der Städte beschränkten sich nun auf eine kurze Kur in den Stadthäusern für Stadteingesessene und die Dienstboten von Stadteingesessenen. Die allgemeine Syphilidophobie führte natürlich dazu, daß man viele Krankheiten für Syphilis erklärte, die gar nicht so gedeutet werden konnten, und auf diese Weise entsteht die Legende von der furchtbaren Verbreitung. Der Aktenbestand erweist aber trotzdem nur mäßige, ja sogar kleine Zahlen von Kranken und ausgegebenen Gulden im Stadtbudget.

In Frankreich und England herrscht dagegen absolute Stille. Die Krankheit findet sich auch dort aller Orten, aber sie verursacht weiter keine bedeutende Aufregung. Die Abwehrmaßregeln sind den deutschen ähnlich. Daß es überhaupt solche syphilisstillen Länder gibt, widerlegt schon die Theorie von dem damaligen Seuchencharakter der Syphilis, denn es ist nicht möglich, daß man eine schwere Initialperiode einfach übersieht.

Wie war nun der wirkliche Hergang? Im Mittelpunkt der alchimistischen Studien des Abendlandes steht vom 11. bis zum 16. Jahrhundert das Quecksilber, das Antimon und das Arsenik. Die Alchimistenkreise unterhielten nahe Beziehungen zu den Chirurgen Italiens, später auch Frankreichs und Deutschlands, und man hat in der Alchimie zu allen Zeiten neben den metallurgischen auch den therapeutischen Zwecken große Beachtung gewidmet. Die Erzwingung des Goldglanzes durch Reinigung der Metalle war ebenso ein Ziel, wie die Reinigung des Körpers von den Schlacken der Krankheit. Schon im 12. Jahrhundert begann man das Quecksilber unter Beimengung organischer Stoffe zu Einreibungen zu verwenden, besonders für die Heilung chronischer Hautkrankheiten. Jahrzehnte werden vergangen sein, ehe man eine Scheidung der Hautkrankheiten vorgenommen hat in solche, die durch Quecksilber heilbar sind, und solche, die es nicht sind. Ferner macht man schließlich die Erfahrung, daß die Wirkung eine weit gleichmäßigere war, wenn man nicht die kranken Stellen, sondern nicht affizierte behandelte. Literarisch fixiert werden diese Kenntnisse bereits im Anfange des 13. Jahrhunderts. In der Mitte des 14. Jahrhunderts trifft man zum ersten Male auf eine zusammenhängende Benennung dieser chronischen Hautekzeme, die durch Quecksilbereinreibungen zur Heilung gebracht werden können, und man scheidet sie von den übrigen Hautkrankheiten, von der allgemeinen Gruppe der Scabies durch die Benennung Scabies Grossa. Wenn man bedenkt, daß vor noch nicht langer Zeit die Heilbarkeit eines Hautekzemes durch die Quecksilberschmierkur für den bündigsten Beweis für Syphilis galt, so ist es sehr wahrscheinlich, daß in einer Zeit, die diese Quecksilberschmierkur erfunden hat, auch die Syphilis existierte, da die Häufigkeit der übrigen durch Quecksilber heilbaren Ekzeme prozentual verschwindend ist gegenüber des Syphilis. Man wandte diese Schmierkur übrigens auch gegen die Lepra an, und natürlich ohne Erfolg. Es mußte als die Folge der Quecksilberbehandlung eine genauere Scheidung der durch Quecksilber heilbaren Chronizität von der leprösen sein. Dieser Scheidungsprozeß hat scheinbar in Italien im 12. und 13. Jahrhundert begonnen, im 13. und 14. Jahrhundert dringt das neu erworbene Wissen der italienischen Chirurgen dann nach Frankreich, und im 14. Jahrhundert ist die Kenntnis und Durchforschung dieser Erscheinungen in Westfrankreich am weitesten vorgeschritten. In Frankreich nannte man das mehrfach geschilderte Krankheitsbild Variola Grossa, wie das Volk sagte, grosse vérole; dort in Frankreich wurde nun aber auch noch der letzte Schritt getan, indem man im 14. Jahrhundert die Übertragbarkeit dieser Krankheit durch den Geschlechtsakt erkannte. Diese Erkenntnis reifte in dem Milieu der Dirnen, Zuhälter und Lebemänner und ihrer Verbündeten, der Barbiere, und sie blieb auf diese Kreise beschränkt. Einen Einblick in dieses Milieu gewährt das Protokoll eines Dijoner Prozesses aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, in dem eine Dirne bekennt, daß sie sich einen Mann vom Leibe gehalten habe, indem sie ihm vorgeredet, sie sei am gros mal erkrankt. In den gleichen Kreisen Oberitaliens hat man für die Lues die Bezeichnung des mal Franzoso, gegen das ein Bologneser Wundarzt in seinem gemeinen Rezeptbüchlein Erdrauchsyrup zur Heilung empfiehlt. Auf diese Kreise blieb die Kenntnis des Krankheitsphänomens zunächst beschränkt, und sie sickerte erst allmählich durch, bis 1495 die Kenntnis des neuen Leidens sich über ganz Europa verbreitet. Damals aber sagten bereits erfahrene Veroneser, der Dichter Giorgio Sommariva und der Arzt Natale Montesauro: das ist die Krankheit, die das Volk »mal Franzoso« nennt. Aus dieser Bezeichnung wurde nun, als die Volkswut Italiens nach dem Einfalle Karls des VIII. aufgepeitscht war, eine Beschimpfung, während sie viel richtiger einen Ehrentitel der Franzosen als Entdecker der Lues darstellt. Überdies ist es sehr unwahrscheinlich, daß eine ganz neue Krankheit, die eben erst aus Amerika eingeschleppt ist, sofort als durch den Geschlechtakt übertragbar erkannt wird, in einer Zeit, in der nicht einmal die Übertragbarkeit des Trippers den Ärzten bekannt war, und noch unwahrscheinlicher ist es, daß man sofort für diese Krankheit die Heilbarkeit durch das Quecksilber entdeckte. Diese fertige Methode der Syphilistherapie, wie wir sie in deutschen Städten schon 1496 finden, wäre, wenn sie sich in drei Jahren entwickelt haben sollte, etwas vollkommen Irreguläres in der Geschichte der Medizin. Das Ende des 15. Jahrhunderts war also nicht die Zeit des Ursprungs der Syphilis, sondern nur die Zeit ihrer Entdeckung und ihrer Heilung.


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