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Nun besaßen sie den Feuerkorb, in dem sie die Glut als schützenden Begleiter mit sich tragen konnten. Das gab den beiden ein solches Gefühl der Sicherheit, daß sie sich ohne Angst in die Gegend der Südwand wagten, um dort mit der Kastanienernte zu beginnen.
Für Eva war der erste Erntetag ein Freudenfest. Der Herbstwind schüttelte die Kastanien massenhaft aus den Kronen und trug den Qualm des Schutzfeuers in alle Richtungen, so daß ein dünner Rauchschleier weithin durch den Wald zog.
Peter ließ Eva allein sammeln und folgte den Spuren der Wildschweine, bis er ihrer am Eichenbestand unterhalb des Alten Steinschlags ansichtig wurde, wo sie eine große Schlafgrube, den Kessel, bezogen hatten. Er brachte den halben Tag damit zu, dem weiterziehenden Rudel nachzuspüren. Von der anfangs gehegten Absicht, mit Pfeil oder Speer einen Frischling zu erlegen, kam er ab, da er die Bache und nicht minder einen abseits vom Rudel wühlenden Keiler fürchtete. Er suchte nach etwas Wuchtigem, das sich schleudern ließe, um das junge Tier aus sicherer Entfernung durch einen einzigen Wurf zu töten. Endlich fand er einen armlangen Wipfelstummel mit einer mehr als faustgroßen Wucherung, eine natürliche Keule. Behutsam nahm er sie auf und schlich, von Baum zu Baum Deckung suchend, dem Schwarzwild nach. Erst als er sich dem Waldrand näherte, wo das Rauschen des Moorbachfalles das Knacken der Reiser unter seinen Füßen übertönte, wurde er kühner. Da merkte er, daß einer der Frischlinge hinter den anderen zurückgeblieben war und zwischen zwei toten, von hohen Farnen überwucherten Baumriesen im feuchten Grunde wühlte. Über den weichen Moderboden hin gelang es Peter, lautlos näherzuschleichen; dann duckte er sich unter die Farne und schlug den Frischling gerade in dem Augenblick mit seiner Keule zu Boden, als der Kleine sichernd den Kopf hob. Lautlos war das Jungtier zusammengebrochen. Mit klopfendem Herzen hob Peter es auf, blieb aber, die Keule in der Rechten, hocken, jeden Augenblick bereit, sich zur Wehr zu setzen. Nichts regte sich, nur das gleichmäßige Rauschen des Moorbachfalles war zu hören.
Vorsichtig erhob er sich und lugte aus. Ihm schien, als sei die Alte unruhig geworden und suche ihr Junges. Er schnellte empor und jagte mit seiner Beute zurück. Ohne umzuschauen, stürmte er weiter, über tote Bäume, durch Morast und Ried, der Stelle zu, woher der Wind ihm den Rauch entgegentrug. Atemlos langte er bei Eva an. Die Freude, mit der sie die Beute entgegennahm, schien ihm ein wenig lau. Als sie ihn bat, ihr einen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen, begriff er, warum sie nicht zum Jubeln aufgelegt war. Obwohl er den nur leicht eingedrungenen Dorn entfernt hatte, konnte Eva vor Schmerzen kaum auftreten. Erst als er zerkaute Beinwellblätter auf die Wunde gelegt und den Fuß mit großen Huflattichblättern und grünen Rindenstreifen verbunden hatte, konnte sie humpelnd weitergehen. Und nun kehrte auch ihre gute Laune zurück. Wohlgefällig streichelte sie das noch weiche Borstenkleid des Frischlings, an dessen rötlicher und gelber Längsstreifung sie sich nicht sattsehen konnte. Dann zeigte sie stolz, was sie gesammelt hatte. Ihr und Peters Korb, beide waren beinahe voll brauner Kastanien, aber auch Bucheckern, Mispeln und einige Wildäpfel waren darunter. Neben den Körben lagen große Sträuße von Mehl- und Eisbeeren, zwei Büschel Steinquendel und Lauchzwiebeln, die Eva am Waldrande ausgegraben hatte.
Langsam legten sie mit ihren Lasten den Heimweg zurück. Durch den Wald wagten sie sich nicht. Sie mußten einen Umweg machen. Als sie aus dem Laubwald auf das Steinfeld hinaustraten, ging die Sonne gerade hinter der Henne unter, umgeben von rotgolden gesäumten Wolken, in deren Widerschein der Sonnstein leuchtete, während die Firne hoch über den Salzwänden in feierlichem Alpenglühen erstrahlten.
Glücklich saßen sie am Höhlenfeuer und atmeten den köstlichen Duft des bratenden Frischlings ein, der an einem grünen Stab von beiden abwechselnd über der Glut gedreht wurde. Und als das Fett herabtroff und im Feuer ungenützt verprasselte, beeilte sich Eva, eine der gereinigten, längst geruchlos gewordenen Rehschädelschalen darunter zu halten, in deren Nasenhöhle sie einen Stab gesteckt hatte. Dieser »Schöpflöffel« fing den Saft auf, der, mit Wasser versetzt, eine warme, schmackhafte Suppe ergab.
Am Rande des Feuers hüpften und knisterten die Kastanien; die Schmausenden malten sich aus, wie behaglich sie den Winter verbringen wollten: geschützt vor Kälte, mit reichen Vorräten an Kastanien, Rauchfleisch, Salz und Gewürz versehen. So mochte er denn kommen, der harte, lange Bergwinter!
Als am nächsten Morgen ein heftiger Herbststurm den Regen gegen die Außenwand ihrer Höhle peitschte, schliefen die Sorglosen lange in den Tag hinein. Eva war als erste wach. In ihrem verletzten Fuß brannte und klopfte es. Sie stand auf, nahm eine Handvoll Werg vom Bergflachs, tauchte ihn in das Wasser, das noch vom Vortag im Wasserkorb war, und begann den Fuß zu kühlen.
Peter, der endlich auch aufstand, holte einen Klumpen frisches Fichtenharz, bestrich damit Evas Wunde und verband sie mit Werg, das er auch noch mit Harz tränkte.
Vom Frischling, dessen Rest am Gestänge des Trockenbodens im Rauch hing, nahmen die Kinder weniger als am Vortag, aßen statt dessen reichlich Kastanien und versuchten auch einige Holzäpfel, die aber viel zu sauer waren. Gebraten ließen sie sich genießen. Eva, immer darauf bedacht, die Vorräte zu mehren und zu sichern, begann gleich, Apfelschnitze zu machen, die sie in der Nähe des Feuers auf Steinplatten zum Dörren auflegte. Peter nahm seine neue Keule vor, mit der er den Frischling erschlagen hatte, entrindete sie, verstärkte ihr dickes Ende durch eingetriebene Hartsteinsplitter, wirbelte sie um den Kopf und dachte dabei an einen Kampf mit Bären, vor denen ihm jetzt nicht mehr angst war.
Eva drängte Peter, auf einem Zeichenstein die Ereignisse des Tages festzuhalten. Geschmeichelt nahm er das neue Bild in Angriff. Eine geeignete Mergelplatte war bald gefunden. Er zeichnete zunächst den Frischling, wie er von der Keule getroffen wurde; daneben ritzte er stachelbesetzte Kreise für die Kastanien ein, dann einen übergroßen Dorn und daran das wenig gelungene Abbild von Evas Fuß. Über alles aber setzte er die Sonne, wie sie hinter der Henne unterging – und mitten in die Fläche einen einzelnen Strich.
Die eingeritzten Zeichen bedeuteten: »Im ersten Jahr unseres Daseins im Heimlichen Grund, zur Zeit, als die Kastanien reif waren und die Sonne gerade hinter der Henne unterging, habe ich mit der Keule ein Jungschwein erlegt, und Eva hat sich einen Dorn eingetreten.«
Während Peter die Striche noch mit Rötel verstärkte, begann Eva, sich eine schützende Fußbekleidung zurechtzumachen. Sie wollte sich nicht wieder einen Dorn eintreten.
Murmeltierbälge mochten das richtige sein. Eva schlitzte die Bauchseite auf, fettete die Felle innen tüchtig ein, walkte sie geschmeidig und verlängerte die Haut der Pfoten mit daran geknüpften Fellstreifen, so daß sie diese »Schuhe« kreuzweise über den Knöcheln befestigen konnte. Um die wunde Sohle nicht unmittelbar mit dem Fell in Berührung zu bringen, wollte sie Birkenrinde einlegen, Rinde von einem jungen Baum. Ihre Oberfläche ist glatt und zart wie Leder und nicht knorrig und rissig wie das Rindenkleid alter Bäume. Sie holte sich ein passendes Stück, ergriff einen Brocken Holzkohle, stellte erst den rechten Fuß auf die Rinde und fuhr mit der Kohle seine Umrisse nach. Mit dem linken machte sie es ebenso und schnitzelte mit einem Jaspissplitter die Rindensohlen nach der Zeichnung zurecht. Da sich die trockene Rinde immer wieder aufrollte, weichte sie sie ein und legte sie dann in ihre Schuhe, die sie gleich anzog und ungeachtet der Schmerzen, die ihr der Druck in der Wunde verursachte, an den Füßen festschnürte. Die klaffenden Maulöffnungen der Murmeltierfelle, aus denen ihre Zehen hervorguckten, verschnürte sie so gut es ging und war nicht wenig stolz auf ihre Leistung.
Als der Regen nachließ, zog Peter allein zur Ernte aus, für die ihm der Wind gut vorgearbeitet hatte: Der Waldboden war mit Früchten dicht besät.
Die reiche Ernte machte das Flechten neuer Vorratskörbe notwendig, und der Dörrboden in beiden Höhlen mußte verbreitert werden.
Eva fiel die Aufgabe zu, das Eingesammelte zu ordnen und so zu schichten, daß es möglichst wenig Platz einnahm. Brombeeren, Schlehen und die vom Liegen weich gewordenen Mispeln dörrte sie auf erhitzten Steinplatten.
Peter betrieb das Früchtesammeln nicht lange. Bald ging er wieder der Jagd nach. Auch von erlegten Kleintieren wurde das Fleisch eingesalzen, geräuchert oder getrocknet. Ebenso wurden die Bälge der Hörnchen und Vögel in den Rauch gehängt. Bald zeigte sich, daß eingesalzene und geräucherte Felle, sorgfältig gewalkt, den üblen Geruch und die Sprödigkeit verloren.
Jeder Tag machte die Kinder müde. Evas Fußwunde eiterte zwar, verheilte aber bald.
Sonntags wurde nicht gearbeitet. Wohlgewaschen und gekämmt, machten sie ihren Morgengang zum Grab der Ahnl. Hier berichteten sie der Toten von ihren Erlebnissen, ihren Arbeiten, ihren Sorgen, Freuden und Hoffnungen; hier beteten sie zum Allmächtigen, den die Verstorbene angerufen hatte und von dem sie so wenig wußten.
Den Rest des Tages verbrachten sie, durch den Heimlichen Grund schlendernd, in eifrigem Gespräch über die Arbeiten, die in der nächsten Woche getan werden sollten.
Viele Mühe machte ihnen das Feuer, das nicht ausgehen durfte. Wenn sie auch zeitweise nur Moder auflegten und es auf diese Weise erhielten, so brauchte es doch Holz, und es war für Peter nicht leicht, genügend herbeizuschaffen. Er kannte von früher her, als die Ahnl noch lebte, die Schrecknisse eines Gebirgswinters. An den Geierhängen waren oft wochenlang die Schneemassen so hoch um die Hütte angeweht gewesen, daß keine Möglichkeit bestanden hatte, vom tiefliegenden Wald Brennholz zu holen. Darum war die Ahnl immer darauf bedacht gewesen, große Holzvorräte für den Winter um die Hütte her anzuhäufen. Diese Erfahrungen trieben Peter, rastlos Holz einzuschleppen und vor der Höhle aufzustapeln.
Die Tage wurden merklich kürzer, und die Notwendigkeit, die Arbeitszeit um einige Stunden zu verlängern, zwang die Kinder, darüber nachzudenken, wie sie die unstete Beleuchtung, die das flackernde Feuer gab, verbessern könnten. Bald kamen sie darauf, Föhrenzweige in Ritzen der Höhlenwände zu klemmen. Weil aber gespaltene Zweige mehr Licht gaben als runde, wurden fortan nur gespaltene verwendet.
Nicht immer lebten die beiden in Frieden. Obwohl Peter wiederholt erfahren hatte, daß Eva in manchen Dingen nicht minder findig war als er, hatte er sich ein herrisches Wesen angewöhnt, das sie oft verletzte. Wenn sie etwas, das er ihr auftrug, nicht gleich oder nicht so geschickt ausführte, wie er es haben wollte, fuhr er sie ungeduldig an. Daß sie jünger und schwächer war als er, darauf nahm er keine Rücksicht.
Es kamen neblige Tage mit Regenschauern, und Eva wurde von einem Schnupfen befallen. Zum Schneuzen hatte sie nichts als Moos und Werg. Sie war nicht in bester Stimmung. Peters Grobheit und sein allzu großes Selbstbewußtsein verletzten sie mehr denn je. Sie wehrte sich auf ihre Art, wurde scheu und abweisend, und plötzlich stand zwischen ihr und ihm eine unsichtbare Schranke.