Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Fünfzehntes Kapitel.

Auch im Schlosse ist Seufzen und Weinen.

In der folgenden Nacht saß die Gräfin von Hilgenthal in Glanz und Pracht einsam am Kamin und blickte sinnend in das knisternde Feuer. Ein Zug tiefen Grames lag in dem schönen, feinen Antlitze ausgeprägt. Ihre milden braunen Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Schwere Seufzer entstiegen ihrer Brust.

Klatschend schlug der Schnee an die Fenster, so daß die edle Frau sich unwillkürlich tiefer in ihr Tuch einhüllte und den Stuhl näher an den Kamin rückte.

Und sie starrte ins Feuer und sann und sann.

Den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein hatte sie schalten und walten müssen, daß Kisten und Kasten schwer wurden, daß alles in Ordnung kam, was erforderlich war für die Reise des Sohnes. Ach, wie blutete ihr das Herz! Sie sollte sich in den Willen des gebietenden Gatten 252 fügen und sich gefaßt machen auf eine lange Trennung. Trennung von ihrem einzigen Kinde in der lieblichen Weihnachtszeit. O, wahrlich, einen schwereren Stoß hätte der finstere Gatte ihrem mütterlichen Herzen nicht versetzen können.

Sie gedachte des Gatten und preßte beide Hände auf die Brust. Die einst erhoffte Erfüllung ihres Lebens hatte sie an seiner Seite nicht gefunden. Auf wie viele ihrer Blumen, die sie für ihn gepflanzt und gepflegt, war ertötender Reif gefallen! In der finstern, frostigen Nähe ihres Gatten konnte keine Freude und kein Glück aufkommen.

Alle ihre Seufzer erstickten in dem Tosen und Toben der großen Lebestadt. –

Da, als sie dem Trubel der Weltstadt entrückt war, suchte sie die Erfüllung ihres Lebens in hingebender Annäherung an das arme, trost- und hilfsbedürftige Volk. Ihr liebereiches Herz begehrte nach beglückender Entfaltung. Aber auch diesem Begehren setzte der Graf in seiner Menschenverachtung bald ein Ziel.

Ihr schauderte vor dem Dasein ohne das einzige Glück ihres Lebens, ohne den einzigen Sohn.

Sie gedachte der Stunde seiner Geburt und all des Glückes, das mit diesem Kinde über sie 253 gekommen war; schien doch auch der Gatte im Anblick des Sohnes einen Himmelsstrahl in seine Seele aufgenommen zu haben.

Das Kind wuchs und rankte sich wie eine liebliche Blume an ihr empor. Sie nährte es mit ihrem Herzblute, und ihre Seele verjüngte und erfreute sich in der seinen. Was in ihrem Herzen der Reif getötet, das sah sie in dem seinen aufs neue sich entfalten. So war der Sohn die Erfüllung ihres Lebens geworden.

Dem Gatten konnte sich freilich ein solcher Glücksquell nicht erschließen; ihr treues Herz gab sich aber der zuversichtlichen Hoffnung hin, daß auch seine Zeit noch kommen werde, zumal in der ruhigen Einsamkeit des Dorflebens, die dem Menschen Zeit läßt, ja, ihn zwingt, auf die Stimme Gottes und auf die Stimme des Herzens zu hören. O, wie lange und innig hatte sie sich darum hinweggesehnt aus dem kalten Prunk des Großstadtpalastes, heimgesehnt in die friedevolle, wonnesame Idylle des Dorfes! Sie schüttelte lange den Kopf. Ach, die erträumte Idylle! Was war aus ihr geworden? Ein waldumkränztes Elend war aus ihr geworden.

Sie mußte die harte, ungerechte Behandlung der armen Leute mit ansehen – und konnte sie nicht hindern; sie empfand mit jeder Faser ihres 254 Herzens das Leid der Armen – und konnte es nicht lindern. Eine unaussprechliche Qual. Was sollte ihr die verschwenderische Pracht, die sie umgab? Was sollte sie mit den unermeßlichen Reichtümern, da sie weder ihr noch andern zum Glück und Frieden verhalfen?

Nach all diesen Kümmernissen war dann die neue süße Hoffnung in ihr Herz eingezogen: Im Anblick des geliebten Sohnes und seiner lieblichen Braut fand sie den Ausblick auf einen lichten, glückvollen Abschluß ihres Lebens, als nun abermals der finstere Schatten des bösen Geistes über ihr Herz kam und die schönste Hoffnung ihres Lebensausganges zu vernichten drohte.

Heiße Tränen quollen aus ihren Augen. Da tat sich die Tür auf, und der Sohn stand vor ihr. Eine große Bewegung bemächtigte sich ihrer. »Erwin!« hauchte sie und erfaßte des Sohnes Hände. »Hast du Abschied genommen von deinem Vater?«

»Ja, Mutter!« entgegnete er, tief erregt.

»War er noch böse, der Vater?«

»O, Mutter!«

»Sag', Kind, hat er dir weh getan?«

»O Mutter – was soll ich von dem Vater denken? Was hab' ich denn Übles getan? – Ich wäre nicht, wie ich sein sollte. Der Baron 255 – meine Braut hätten mich – verdorben. Und also ists lediglich ihretwegen, daß ich fort muß. Mein Laufen nach Volkerswalde solle ein Ende haben – o Mutter!«

»Beruhige dich, mein Sohn! Du weißt, wie der Vater ist. Ihn plagt ein böser Geist – und er ist selbst am unglücklichsten dabei. Du bist sein Kind – und er meint es nach seiner Art aufrichtig und gut mit dir. Wenn du fern von uns bist – ach, Kind – dann wird gewiß sein Herz sich bald erweichen. Deine treue Mutter wird ja unablässig wachen und wirken für dein Glück.«

Sie zog den Sohn an sich und sprach zu ihm aus der Fülle ihres Herzens noch manch versöhnendes, stillendes Wort. O wie besänftigend, wie trostreich war diese Sprache der Mutter! Gewitterregen auf dürstendes Erdreich.

Ein heiliger Frieden umflutete des Jünglings Seele. »Dank dir, du herziges Mütterlein,« rief er endlich strahlenden Auges. »Nun wird das Scheiden mir weniger schwer werden. Du hast einen Feuerbrand gelöscht, der in meiner Seele loderte. – Aber, teuerste Mutter, nun laß uns rasch beschließen, wie wir der Not in der Lindenhütte ein Ende machen wollen. Ich hab's meiner Elfriede gelobt. – Draußen stehen Kisten und 256 Kasten, voll und schwer. – – – Was soll ich mit alledem?«

»Du braves Kind! Wie höre ich dies so gern aus deinem Munde. Ja, Erwin, dein Wunsch ist meinem Herzen eine Erquickung. Er soll in Erfüllung gehen, muß ich mich auch in den Schutz der Dunkelheit flüchten! Morgen in der Abenddämmerung soll die gute alte Küchenlotte eine Kiste, voll und schwer, wie die deinigen, in die Lindenhütte tragen. Ich werde das Beste für die arme Familie aussuchen. Das Wohltun wird meinen Schmerz um dich lindern.«

Erwin fiel der Mutter um den Hals und küßte sie. Klare Tränen schimmerten in beider Augen. Die Gräfin zog den Sohn noch einmal an ihre Brust und betete mit frommer Innigkeit: »Schütze, Höchster, mein einziges Kind! Bewahre ihm auch den Himmel der Liebe, den du in seine Brust gelegt hast, so wird dereinst Fried' und Freude wohnen in Hütte und Schloß!« – –

Als Graf Erwin endlich aufbrach, um sein Nachtlager aufzusuchen, und den hallenden Korridor entlang schritt – der Wächter blies gerade die zwölfte Stunde der Nacht – tauchte neben dem Gemache der Gräfin eine schwarze Gestalt auf, huschte lautlos dahin und verschwand in einem finstern Seitengange. War's der ruhelose 257 Geist des Schlosses, von dem die Volkssage ging, der hier begann mit seinem mitternächtigen Rundgange? –

* * *

Unter den schützenden Fittichen des nächsten Abends verließ die Küchenlotte mit einer schweren Last auf dem Rücken das Schloß. Sie sah sich gerade vorsichtig um, als eine barsche Stimme sie anfuhr: »Wohin mit der Kiste da, alte Küchenhexe?«

»I, du meine Güte, wer ist denn das?« keuchte die Alte, und als sie den Holzvogt erkannte, rief sie: »Ach, du gerechtester Gott!«

»Da ist was zu ›gerechtester Gott‹, höhnte Bockler. »Hat sie dem Herrn Grafen noch nicht genug verschleppt? Ei, das soll doch ein Ende haben. Herunter mit der Kiste, alte Topfkratze, alter Stockbesen! Der Herr Graf will doch einmal sehen, was da drin ist.« Mit den Worten riß ihr der Unhold die Kiepe so ungestüm von dem Rücken, daß Lotte hart in den Schnee fiel.

»I, so 'n Ungeheuer!« stöhnte sie und weinte und richtete sich mühsam auf.

Indes hatte der Holzvogt die Kiste, die so viel Kostbares barg, schon auf seine Schultern geladen, und stracks ins Schloß ging er damit.

»I, so ein Ungeheuer!« konnte sie nur 258 immer wieder schelten, und lange vermochte sie keinen Gedanken zum andern zu bringen.

* * *

Am andern Morgen stand die Küchenlotte heulend und klagend am Schloßtore. Sie mußte fort von der Stätte, wo sie so viele, viele Jahre in Treue und Liebe gedient hatte. Eine Weile blieben ihre tropfenden Augen noch an dem Schloßbrunnen haften, an dem die Alte seit vielen Jahren tagtäglich geschöpft hatte, und heftig schluchzte sie: »Lebe wohl, lebe wohl, lieber Born, ich komme nicht wieder!« Darauf wandte sie sich um, drückte das Gesicht in die Schürze und ging schnell davon.

Die Gräfin aber, die mit ihrem furchtbar aufgebrachten Gemahl einen schweren Auftritt gehabt hatte, stand bleich und zitternd am Fenster und blickte der guten alten Dienerin, die unverschuldeterweise davongejagt wurde, in unsäglichem Kummer nach. Das Glück des Wohltuns, nach dem sich ihr Herz so glühend sehnte, sollte ihr noch gänzlich versagt bleiben.

Ja, auch im schönsten Schlosse ist Seufzen und Weinen! 259


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