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Das »Holz«, von dem Christinchen schrieb, zieht sich in unübersehbarer Breite und unter den verschiedenartigsten Benennungen wie »Hilgenholt«, »Hegebusch«, »großer Hagen« u. s. w. um die Gemarkung Hilgenthal, legt sich gleich einem Riesenmantel um Hügel und Berg und wogt durch Täler und Gründe wie ein tiefes schwarzes Meer, wenn es nicht, wie in diesen Tagen, unter der eisigen Schneehaube steckt. Das Dorf selbst berührt es nur an der Schloßseite, indem es einen schmalen Arm dahin ausstreckt, die »Pfingstallee« genannt.
»Das Holz ist mein Stolz,« hatte der Graf von Hilgenthal einmal gesagt, als er von der Zinne seines Schlosses herab das weite Tal- und Berggebiet mit dem großartigen 13 Waldreichtum übersah. Alles, was er sah, was er im Sturme rauschen und brausen hörte, war sein.
Ja, wäre nur nicht das große Ärgernis gewesen! Der eingesessenen Bevölkerung von Hilgenthal stand nämlich am Grundstocke der gräflichen Waldherrlichkeit, dem stundenbreiten und stundenweiten Hilgenholze, von alters her ein bestimmtes Nutzungsrecht zu, eine sogenannte »Holzberechtigung«, die alljährlich so und so viel Klafter Kluftholz und so und so viel Schock Wellholz ausmachte, je nachdem man »Lose«Ein Los machte genau 16,2 m aus. Die größten Bauern hatten mehrere Lose, die mittleren, die »Kötner« durchweg ein Los. hatte, mehrere oder nur eins oder nur einen Teil von einem. Erhielten die großen Bauern durchweg sechs Klafter, so fiel auf die kleinsten reiheberechtigten Stellen, wozu auch die Lindenhütte und das Bocklersche Anwesen gehörte, nur je ein halbes Klafter.
Dazu aber kam das Weiderecht, wonach die Reiheberechtigten Jahr für Jahr ihre Kühe und Schweine in das Hilgenholz treiben durften; ganz zu geschweigen von dem allen Ortsansässigen zustehenden und namentlich für die kleinen Leute bedeutsamen Rechte auf Laubstreu, Raff- und Leseholz, auf Gras und Kraut, Buchnüsse und Beeren, Eicheln und Kienäpfel und dergleichen mehr. 14
Diese althergebrachte Waldgerechtsame gab dem Dorfe einen bedeutsamen wirtschaftlichen Rückhalt, zumal in schlechten Jahren und ganz besonders in harten Winterszeiten. Sie war, wie einmal der Kantor mit Recht sagte, eine Sparkasse für jedermann.
Von dem blanken Kluftholze suchten die Bauern so viel wie irgend möglich zu erübrigen, um zur Winterszeit, wenn alle anderen Einnahmequellen versiegt waren, mit dem Holzwagen in die Stadt zu fahren. Die kleinen Leute aber huckten die »Köze« auf den Rücken, brachten das wieder gewonnene »Buch«, blank wie Gold, nach der Schlagmühle und freuten sich schon im voraus auf den schülpenden Butt. Denn auch gar zu köstlich ist der Gewinn aus den Buchnüssen, gar zu schmackhaft das liebliche duftige Buchöl, wenn man die Kartoffeln hineintunkt oder ein Stück Brot. Da war keine Familie so arm, daß sie nicht ein paar rundbäuchige Steinbütte voll des süßen Buchöls in der Küche oder Kammer gehabt hätte.
Auf den hohen »Melkbraen« aber, die nicht nur in den Bauernstuben, sondern auch in den 15 Kleineleutewohnungen von der Ofenecke hoch unter der bunten Kante der geweißten Wand hinliefen, standen dichtgedrängt die runden »Milchbriwen«; denn hatten die kleinen Leute, wie die Lindenhüttenleute, nicht eigenes Land genug, um eine Kuh füttern zu können, so war eben die Waldgerechtsame von altersher dazu da, das Mangelnde zu ersetzen; und wo sie nicht ausreichte oder unbequem lag, da setzte die Gemeindeberechtigung ein.
So war Hilgenthal in der Tat ein Dorf, in dem »Milch und Ölig floß«, wie der alte Kantor in einer frohlaunigen Stunde das bekannte Bibelwort einmal umänderte. Blieb dabei in Wirklichkeit auch noch Not und Sorge genug übrig, so erreichte sie doch niemals einen so ungewöhnlichen Grad, wie der Brief an den heiligen Christ ihn erkennen läßt; eben weil die Nährquellen, die in jenen alten Rechten und Gewohnheiten lagen und auch in den dürftigen Zeiten nicht ganz versiegten, beständig den Lebenskreis der Hilgenthaler kleinen Leute umrieselten und namentlich die niedrigen Barlöhne, wie sie nun einmal in volkreichen Orten gängig sind, ergänzten und ausglichen.
So mag es sich erklären, daß alle 16 Hilgenthaler, die kleinen wie die großen, einen starken, wenn auch in sich gebundenen Heimatsinn hatten, daß es eine ganz außerordentliche Seltenheit war, wenn einmal eine Familie fortzog, um in Bremen oder Amerika ein besseres Fortkommen zu suchen, daß aber auch eben so selten eine fremde Familie ins Dorf hereingelassen wurde. Und so mag sich's gewiß erst recht erklären, daß die Hilgenthaler zu aller Zeit, wenn sie in Trupps beisammen waren, so gern das alte Lied sangen:
»Zufriedenheit ist mein Vergnügen.
Das andre laß ich alles liegen
Und liebe die Zufriedenheit.
Wenn alle Donnerwetter brausen
Und alle Unglücksstürme sausen,
Und so vertrau ich meinem Gott« u. s. w.
Wer aber dies Lied nicht sang und nicht singen hören mochte, das war der alte Graf Harald, dem erst vor wenigen Jahren, nach dem Tode seines kinderlosen Bruders, die Herrschaft Hilgenthal zugefallen war.
Graf Harald hatte bis zu den traurigen Ereignissen des Jahres 1866 meistens in der Landesresidenz gelebt, dann seinen Wohnsitz in Paris aufgeschlagen, um schließlich als bejahrter, kränklicher und grämlicher Mann für seine letzte Lebenszeit nach Hilgenthal überzusiedeln. Die 17 Hilgenthaler hatten ihn in einem großen festlichen Zuge eingeholt mit Fackeln und Trompeten, aber gar bald gemerkt, daß er ihnen ein ganz, ganz Fremder war, daß auch sie ihm ganz, ganz Fremde und ganz, ganz untergeordnete Menschen waren. Leider Gottes ist er denn auch ein Fremder unter Fremden geblieben.
Graf Harald wußte nichts davon, was die althergebrachte Waldgerechtsame für die Einwohnerschaft von Hilgenthal bedeutete und wollte auch nichts davon wissen; er wußte nichts davon oder wollte jedenfalls nichts davon wissen, daß das Hilgenholz ursprünglich ein Gemeinbesitz gewesen war, als dessen spärliche Reste man nach alten Urkunden die Waldgerechtsame anzusehen hatte, die übrigens nach den Erinnerungen der alten Leute noch vor fünfzig Jahren bedeutend unbeschränkter gewesen war.
Graf Harald sah in den Leuten, die mit Pferd und Wagen oder Kuh und Wagen oder mit dem Schiebkarren oder auch nur mit der Köze ins Hilgenholz zogen, nichts als unbotmäßige Eindringlinge in seine Selbstherrlichkeit und lehnte ihre geschichtliche Rechtfertigung grimmig ab.
Es kam hinzu, daß der gräfliche Oberförster in seinem Diensteifer und von seinem 18 forstwirtschaftlichen Standpunkte (von dem man nur gegen die Bäume, aber nicht über sie hinaus sieht) einleuchtend darlegte, wie sehr die Waldgerechtsame der Dorfbevölkerung die »rationelle Waldwirtschaft« beeinträchtige. Bereits hätten sich die Holzmärkte von Jahr zu Jahr günstiger gestaltet, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, ließe die Zukunft ein noch weiteres sicheres Ansteigen der Holzpreise erwarten. So würde der Holzhändler, der in dem ersten Herrschaftsjahre des Herrn Grafen 60 000 Mark für Nutzholz bezahlt habe, fünf oder zehn Jahre später für dasselbe Holzquantum aller Wahrscheinlichkeit nach schon 80 oder 100 000 Mark auf den Tisch zählen müssen.
Es paarten sich somit zwei Starke, der Herrengeist und der Mammonsgeist. Und mit der ganzen großen Triebkraft, die in diesen beiden Starken liegt, fühlte der Graf sich gedrängt, die Ablösung der Waldgerechtsame zum unabänderlichen Beschluß zu machen.
Die Gesetzgebung, die diesen Fall schon vorgesehen hatte, lag ungemein günstig für ihn, denn sie stellt die Ablösung aller derartiger Gerechtigkeiten so gut wie ganz ins Belieben des Grundherrn, verpflichtet ihn nur zu einer angemessenen Entschädigung, während sie bei 19 Erfüllung dieser Bedingung die Berechtigten ohne weiteres für ablösungspflichtig erklärt und ohne Rücksicht auf die Lebensverhältnisse preisgibt.
Trotzdem war Graf Harald auf das Gesetz in manchen Stunden nicht gut zu sprechen; mußte er sich doch mit der Anerkennung desselben zu der Einsicht bequemen, daß die gemeinschaftliche Nutzung des Waldes tatsächlich einen Rechtszustand bedeutete, der sich nicht so kurzer Hand beseitigen ließ. Berichteten doch die Zeitungen oft von jahrelangen und bitterbösen Prozessen zwischen Dorfgemeinden und Grundherrschaften.
Graf Harald befahl also seinem Oberförster die Einleitung des Ablösungsverfahrens. Und der Oberförster ging mit Eifer ans Werk. »Für Geld ist die Hölle feil,« dachte er und berechnete die Abfindungssumme so niedrig wie möglich und so hoch wie möglich. Die niedrige Summe wurde dann geboten, und der Glanz des Goldes stach im ersten Anlaufe manchem Bauern in die Augen. Aber wirklich begeistert von dem Angebote war nur »Riepenhusens Fritz«, ein Bauer, der immer den Branntweinsbuddel in der Kitteltasche hatte, schlecht wirtschaftete und ewig in der Geldklemme saß. Als er hörte, daß er 600 Taler auf einem Brette bekommen könne, legte er sich längslang aufs Heu im Scheunenfach und trank und rief: 20 »Herrgott, da werde ich aber gleich mal 'ne Reise nach Hamburg machen! Juch, her mit dem Gelde!«
Allein die großen und gescheiten Bauern wiesen den Ablösungsantrag kurz von der Hand und brachten es zuwege, daß auch die Schwankenden der Verlockung tapfer widerstanden.
Das schöne Geld, ließen sie dem Grafen sagen, könne man ja gewiß sehr gut gebrauchen; doch selbst das schönste Geld rutsche einem, noch ehe einem jungen Sperling der Schwanz wüchse, durch die Finger und wäre dann für immer hin, während die alte Waldgerechtsame, die am Hofe hafte, alle Jahre wieder neu wäre und alle Jahre neuen Segen brächte, überhaupt ein Rückhalt für Haus und Hof sei und ein Band, das den Menschen fester mit der Heimat verknüpfe. Da müßten sich ja die Väter im Grabe umdrehen, wenn man solch ein bedeutsames altes Erbrecht für eine runde Summe, und wäre sie auch noch so rund, auf immer dahin gäbe.
Sie konnten sich auch nicht denken, daß das Gesetz sie zwingen könne, anders zu denken und zu handeln.
Der Graf hätte es ihnen ja nun von Rechtswegen zeigen können; aber die Antwort der Bauern hatte ihn überrascht, einen gewissen Eindruck auf 21 ihn gemacht, vielleicht auch eine gute Regung in ihm ausgelöst. Es kam hinzu, daß ihm das Prozessieren unangenehm war, er wollte sich um solche »Lappalien« nicht aufregen. Er besann sich kurz und ließ das Angebot großmütig steigern. Da aber die Bauern auch jetzt noch in ihrer schroff ablehnenden Haltung verharrten, ihrer Antwort gar noch einen stärkern und nachdrücklichern Ton verliehen, so nahm der Schloßherr in seinem Zorn an, der Oberförster habe die Sache ungeschickt angefangen. Und er drangsalierte seinen Oberförster, daß er wie ein begossener Pudel vom Schlosse herunter kam. Der Oberförster aber ließ seinen Zorn an den Unterförstern aus, und die Unterförster schnaubten jedes Reh an, das ihnen in den Weg lief und drangsalierten die Waldarbeiter, die Holzfuhrleute, die Holzträger, die Krautweiber, die Hirtenjungen, die Beerenpflücker, die Buchfeger und Pilzesucher, und wer sonst noch Brosamen sammelte von dem reichgedeckten Tische des Hilgenholzes.
Der Oberförster suchte nun Breschen in die Mauer des bäuerlichen Widerstandes zu brechen, indem er die schwankenden »Interessenten« heraussuchte und ihnen ein besonderes Angebot machte. Damit hatte er wenigstens den Erfolg, daß zwei richtige Bauern bereits nach kurzem Zureden 22 umfielen und sich im Oberförsterhause das Geld aufzählen ließen. Während aber der eine sich ganz verstohlen durch die Hintertür des Försterhauses hinwegschlich, prahlte Fritz Riepenhusen, denn der war natürlich der andere, die breite Dorfstraße herauf: »Ich hab's!«
Nun fing man zunächst bei den ganz kleinen Berechtigten an, unter denen ja Lindemann der allernächste war. Da er als Oberholzhauer eine bevorzugte Stellung hatte und nicht nur unter allen Waldarbeitern viel galt, sondern auch im ganzen Dorfe in Ansehen stand, so dachte der Oberförster sich in ihm eine Art Helfershelfer, eine Art Schlepper heranzuziehen. Also rief er ihn eines Tages vom Hau, ging mit ihm ein Stück Wegs abseits in den Hochwald hinein, besprach die Bestände, die noch geschlagen werden sollten, und kam ganz wie zufällig auf die Sache.
Wie trat er aber in die »Fittchen«Fittige. »In de Fittchen träen (treten)«, sich aufgeregt, zornig gebärden, eine Hilgenthaler Redensart., als er die Antwort seines doch sonst immer so folgsamen und dienstbereiten Oberholzhauers zu hören bekam! Nicht allein hielt Lindemann es für seine Überzeugung, daß die nur von einer Seite gewollte Ablösung ein schweres Unrecht an dem Dorfe sei und ein Unglück werden könne wie an 23 so vielen andern Orten; nicht nur, daß er es ernst und entschieden von sich wies, in die Ablösung zu willigen und andere Berechtigte zur Annahme der Geldentschädigung zu überreden, erklärte er es obendrein für seine Christenpflicht, jedermann dringend abraten zu müssen, sich in das Ablösungsverfahren einzulassen. Er bekräftigte seine Antwort mit der Antwort Nabots: »Das sei ferne von mir, daß ich meiner Väter Erbe verkaufen sollte.«
So grimmig hatten die Hilgenthaler den Oberförster lange nicht aus dem Walde kommen sehen.
Als Lindemann nach jener Auseinandersetzung im dunkeln Hochwalde gedankenvoll auf den lichten Hau zurückging, trat ihm ganz unversehens der Holzhauer Bockler in den Weg, mit ganz ergebenen Mienen, aber doch einem häßlich lauernden Blick.
Lindemann war noch viel zu sehr mit den aufgescheuchten Gedanken beschäftigt, um den bösen Blick zu bemerken; er sah in Bockler in diesem Augenblicke nicht den argen Menschen und nicht den rachsüchtigen Heimtücker, für den er allgemein galt, sondern nur den Kameraden, der gleich ihm durch die drohende Holzablösung in Mitleidenschaft gezogen wurde. In treuherziger 24 Kameradschaftlichkeit deutete er ihm darum die an ihn gestellte Forderung an und sagte: »Vergiß nicht, die Geschichte von Nabots Weinberg noch einmal nachzulesen. So 'ne Geschichte kann einen stärken, und stark müssen wir bleiben, wenn wir das Unsre behalten wollen. Ja, wir müssen feste stehen, wie die Eichbäume hier und auch treu zusammenhalten; dann soll man uns schon nicht 'rum kriegen. Unser Herr Graf wird gewiß noch einsehen, daß wir deswegen seinen Zorn und seine Verachtung nicht verdienen.«
»Na ja, freilich doch!« pflichtete Bockler ihm bei; tausendmal mehr aber sprachen seine glasfarbigen Augen, die wie Katzenaugen funkelten, wenn sie auf einen arglos singenden Vogel gerichtet sind. – –
Am Abend desselben Tages sah man den Holzhauer Bockler ins Oberförsterhaus gehen.
Der Oberförster saß rechnend in seinem Bureau und brütete zwischendurch darüber, wie er sich die Gunst des Grafen erhalten solle, wenn es ihm nicht gelänge, die Ablösung unverzüglich in Gang zu bringen.
Da trat Bockler ein, bot ohne weiteres seine Berechtigung an und sagte: Wenn's gewünscht würde, könne er auch sonst noch dienen, mit Rat und Tat. Er hielte es für ein Unrecht, daß der 25 Oberholzhauer herumginge und die Leute zum Widerstande gegen die Ablösung aufwiegle; denn es gäbe doch Geld und mehr als die Leute von Rechts wegen verlangen könnten. Das größte Unrecht aber wäre, daß Lindemann seine bevorzugte Stellung als Oberholzhauer mißbrauche, um gegen den Herrn Grafen zu schüren; hätte er doch auch ihm verbieten wollen, seine Berechtigung ablösen zu lassen.
»So!« Dieses kurze und heftige »So!« des Oberförsters bewies Bockler, daß die Kugel schon saß, die er Lindemann zugedacht hatte.
Wenn man schon im Brote des Herrn Grafen stände, müsse man auch sein Lied singen, schloß Bockler den ersten Teil seiner wohldurchdachten Rede ab, um nun, unter gespanntester Aufmerksamkeit des Oberförsters, alsbald zum zweiten Teile überzugehen, der die Rezepte für eine leichte und schnelle Durchführung der Ablösung behandeln sollte. Hei, wie da seine Segel sich blähten, seine Wasser plätscherten!
Das Hilgenholz wäre doch so groß und so weit, leitete Bockler diesen zweiten Teil ein, und die Hilgenthaler hätten doch nicht nur ein Recht auf den nächstgelegenen Teil des Waldes, sondern auf den ganzen Wald und könnten darum verlangen, daß sie es die nächsten Jahre, wenn 26 nötig auch für immer, an der äußersten Grenze angewiesen bekämen. –
Der Oberförster sah in die züngelnden Augen Bocklers und begriff erst allmählich, wo er hinauswollte; dann begriff er's aber, wie sich daran zeigte, daß er sich kräftig aufs Knie schlug und lachend nickte.
Der Hungergrund z. B. wäre gut drei bis vier Stunden weit von Hilgenthal entfernt, erläuterte Bockler sein Hauptrezept; mit Fuhrwerk, zumal mit Ochsen oder Kuhgespann, wären's aber bei dieser hügeligen und wilden Bodengestaltung und den auf weite Strecken nahezu unfahrbaren Wegen gut sechs Stunden und mehr. Sechs Stunden hin, sechs Stunden her, wäre ein ganzer Tag. Na, und was man auf solchen Strecken und bei solchen Wegen laden könne! Da müßten ja die Bauern ewig auf dem Holzwege liegen. Der Lindenhüttenmann aber würde sicher und gewiß gar keinen Fuhrmann für solch einen Weg finden; fände er aber einen, so käme ihm schließlich das Ei teurer zu stehen als die Henne.
Der Oberförster kraute sich hinterm Ohre, harkte seinen roten Bart und rief: »Bockler, Sie sind ja ein ganzer Erzkujon!« Es klang aber so wohlwollend, daß Bockler es für ein großes Lob einheimste und in seiner Weise dreist 27 fortfuhr: Er habe auch schon lange sein stilles Verwundern darüber gehabt, daß die Bauern auf ihre Lose immer ein so ausgesucht schönes Holz bekämen und daß Lindemann immerfort aufklaftern ließe, als ob nicht das leiseste Lüftchen durch so ein Klafter wehen dürfe. Ob denn darüber etwas geschrieben stände, wie geklaftert werden müsse und welche Art Holz man zu verwenden habe? Seine Meinung wäre, man müsse so klaftern, daß die Vögel bequem ins Klafter hinein bauen könnten. Denn es wäre doch ein Unrecht, daß man nur an die Bauern und nicht an die Vögel dächte. Dazu nähme man aber am besten Holz mit vielen sparrenden Ästen.
»Holz mit vielen sparrenden Ästen,« wiederholte er nochmals mit blinzelnden Blicken, zuckte darauf aber sehr bedenklich die Achseln: Freilich, so lange Lindemann Oberholzhauer sei, wäre an eine Besserung der Klafterung nicht zu denken; denn der täte ja gerade, als ob er jedes Klafter selbst bekäme. »Wenn auch gerade nicht das Holz,« fügte der Halunke mit sehr beredsamem Augenzwinkern hinzu, »so bekäme er doch ohne allen Zweifel für jedes so schön luftdicht gemachte Klafter ein Ende Wurst und »sonstigerlei«, was auch nicht zu verachten wäre. Denn von nichts 28 kommt nichts, und für nichts und wieder nichts klaftert man nicht so.« – – –
Nun, die Bäume am Rande sind bald geschlagen.
Drei Tage später wurde Lindemann vom Oberförster zum Wegemachen abkommandiert und Bockler an seiner Statt zum Oberholzhauer befördert. Und drei Jahre später – so lange dauerte der Todeskampf doch immer noch – war die »Realgemeinde«, nachdem sie die niederträchtigsten Schikanen erlitten und einen aufregenden und kostspieligen Prozeß um ihr gutes altes Recht verloren hatte, so mürbe gemacht, daß sie kein Glied mehr rührte und sich »gutwillig« mit dem gebotenen Kapital als abgefunden erklärte.
In der Freude darüber ließ der Graf den Oberholzhauer Bockler aufs Schloß kommen und ernannte ihn zum Holzvogt mit dem Rechte, eine Flinte zu tragen. –
So war denn auf einmal ein großer Haufe Geld ins Dorf gekommen, und einige fingen an lustig zu leben, denn sie wollten nun auch etwas Ordentliches davon haben. Riepenhusens Fritz, der seine 600 Taler schon ziemlich verjubelt hatte, schien sie angesteckt zu haben. »Wenn das Geld auf den Haufen kommt, ist es vom Satan gesegnet,« sagte Vater Lindemann. 29
Vielleicht war es darum für diesen und jenen ein Glück, daß ihm die Abfindungssumme gar nicht recht zu Gesicht kam; denn wer bei der Patronatskirchenkasse, deren Verwalter der Oberförster war, eine Schuld hatte, dem wurde die Abfindung gleich innebehalten, und das war gewiß recht fürsorglich.
Auch die hundert Taler, die auf die Lindenhüttenberechtigung entfielen, gelangten aus diesem Grunde nicht zur Auszahlung, obgleich bei den Lindenhüttenleuten ein solcher Satanssegen wahrhaftig nicht zu fürchten gewesen wäre und ihnen, wie wir von Christinchen schon wissen, eine runde Summe in dieser Zeit besonders gut getan hätte.
Mancher von den Berechtigten mochte, als er die Abfindungssumme einstrich oder in der Kirchenkasse klingen hörte, bei sich gedacht haben: Ha, ich werde schon sehen, daß ich meinem Schaden wieder nachkomme! Ja, sie sahen's! Man hatte die Rechnung ohne den Holzvogt gemacht, der hinter jedem Laubharker und jedem Holzhäkler wie ein Teufel her war. Sie kamen ins Forstverhör, wurden zu einer gehörigen Geldbuße oder auch zu einigen Tagen und Wochen Haft verurteilt. Denn es war »abgelöst«, und jeder hatte sein Geld.
Die alte gute Waldgerechtsame war dahin, 30 unwiederbringlich dahin. Aber – und das war's, was Lindemann schon voraus schauend gefürchtet hatte – es sollten nun auf einmal auch all die hergebrachten Kleineleuterechte am Walde, wie Krauten, Buchfegen u. s. w. nicht mehr gelten; denn sobald die Ablösung beendet war, standen an allen Eingängen zum Hilgenholze große Tafeln mit der Inschrift:
»Es wird hierdurch bekannt gemacht, daß das Sammeln von Bucheckern, Eicheln und Kienäpfeln, das Pflücken von Beeren, sowie das Holzhäkeln und das Schneiden von Gras in den gräflichen Forsten bei Strafe streng verboten ist. – Das Dürrholzlesen soll dagegen bis auf weiteres an zwei Tagen, Dienstag und Freitag, gestattet bleiben.
Die gräfliche Forstverwaltung
zu Hilgenthal.«
Um den Schatten einer solchen rücksichtslosen und ungerechten Verfügung kümmerte man sich auf gräflicher Seite nicht, und so wurde den Leuten, die doch an der Abfindung gar nicht teilgenommen hatten, auch keinerlei Entschädigung erhielten, eine Nährquelle abgegraben, aus der ihnen von jeher, unbeanstandet und ungehindert, ein nicht unwesentlicher Teil ihrer Lebensnahrung zugeflossen war.
Ja, und so wurden aus ihnen, da sie doch von dem herkömmlichen Brauche nicht lassen 31 wollten und konnten, kehr die Hand, lauter »Spitzbuben« gemacht. –
In der Erbitterung, die damals alle Gemüter ergriff, entstand das zweideutige Sprichwort: »Die Gerechtigkeit ist in Hilgenthal aufgehoben!«
Am schwerwiegendsten und fühlbarsten war für die kleinen Leute, die, wie die Lindenleute eine Kuh, aber keine Wiesen hatten, das plötzliche und gänzliche Aufhören der Waldweide, sowie das Verbot, im Walde zu krauten.
Nun hätte man ja immer noch die Gemeindeberechtigung gehabt. Doch wie ein Unglück nie allein kommt, so kam auch die Holzablösung nicht allein.
Der Graf, als der größte Grundherr von Hilgenthal, hatte gleichzeitig mit dem Holzablösungsverfahren noch die Gemeinheitsteilung und Verkoppelung beantragt, denn er wollte nun einmal auf allen Gebieten eine gründliche Scheidung haben. Und die Bauern? – wurden hier die Schlauern! Nachdem sie durch das gräfliche Beispiel einmal munter gemacht waren, erkannten sie bald, daß die Gemeinheitsteilung und Verkoppelung für den Grafen eine schöne Gelegenheit werden könnte, sich ins eigene Fleisch zu schneiden, daß auf jeden Fall sie dabei mehr gewinnen könnten, als er. So kam das 32 Verkoppelungsverfahren in Gang, man wußte nicht, wie. Und als nach überraschend kurzer Zeit die neuen Koppel ausgeteilt waren, – sackerment! – hatte wirklich der Graf den Kürzern gezogen. Die Bauern bekamen seine fetten und wohl kultivierten Äcker, während der Graf auf einmal ein herrliches Quekenreich erwischt hatte.
Er hätte sich nun mit den kleinen Leuten trösten können; denn wer bei dieser Gemeinheitsumwälzung wieder ganz und gar zu kurz kam, das waren sie. Da mit den alten Gemeinheiten auch die 33 Gemeindeweiden nebst allen Hecken und Hörsten verschwanden, so konnten sie fortan weder Schweine noch Gänse, noch Ziegen oder Kühe hinaustreiben, auch so gut wie nichts mehr für sie krauten.
Wohl erhielt die Lindenhütte als reiheberechtigte Stelle einen ganzen VorlingZwei Vorlinge = 1 Morgen. Ackerland als Abfindung; – aber was bedeutete dieser Vorling ziemlich minderwertigen Bodens gegen das Verlorene?
Man mag sich nun erst in die Stimmung der kleinen Leute hineindenken, die keine reiheberechtigten Stellen besaßen und also wieder wie bei der Holzablösung gänzlich leer ausgingen.
Es dauerte nicht lange, da wanderte die Lindenhüttenkuh zum Dorfe hinaus, und desselbigen Wegs ging noch manche andere Kuh. Und die Ziegen wurden in den Rauch gehängt, wo sie nichts mehr zu fressen brauchten. –
Nur Bockler, der Holzvogt, hatte seine Kuh behalten; ja, er konnte sich bald noch eine zweite dazu nehmen; denn immer mehr erkannte die gräfliche Forstverwaltung, wie viel sie an ihm hatte; wimmelte jetzt doch das ganze Dorf von »Dieben« und Halunken, die sich vor keinem so sehr fürchteten wie vor Bockler. Er wachte wie 34 ein Wolf bei Tag und bei Nacht. Ja, in der ersten Zeit, als die Leute noch glaubten an ihren alten Rechten festhalten zu können, verging kaum ein Tag und kaum eine Nacht, daß er nicht da oder dort im Hilgenholze so einen armen »Forstfrevler« ertappte und ins Forstverhör brachte.
Ach, bitterböse war die Zeit geworden und bitterböse die Stimmung, die sich in den Gemütern festsetzte.
Wäre Vater Lindemann nicht gewesen, der nach der Ablösung notgedrungen wieder unter die Holzhauer gegangen war, – wer weiß, wohin die Erbitterung damals schon geführt hätte! War er auch nicht mehr der Oberholzhauer, aus welcher bevorrechteten Stellung er sich übrigens niemals etwas gemacht hatte, so gab ihm doch das natürliche Übergewicht seiner Persönlichkeit, die Festigkeit und Geradheit seines Charakters, die Klarheit und Überlegenheit seines Rates, sein echter und großer kameradschaftlicher Sinn, den jeder wie eine Wohltat spürte, ganz unwillkürlich und unausgesprochen die führende Stellung unter den Holzhauern.
Freilich konnte er sie nicht mehr dazu bewegen, jenes alte Lied von der Zufriedenheit zu singen; doch kam immer wieder eine frische Hoffnung über 35 sie, wenn er ihnen in Augenblicken tiefer Erregung den Vers zurief:
»Wenn alle Donnerwetter brausen
Und alle Unglücksstürme sausen,
Und so vertrau ich meinem Gott.« – –
* * *
So waren die Zustände in Hilgenthal, als Christinchen Lindemann ihren Brief schrieb an den heiligen Christ. 36