Heinrich Sohnrey
Hütte und Schloß
Heinrich Sohnrey

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Siebentes Kapitel.

Ein Spinnabend in der Lindenhütte.

Vom dunklen Nachthimmel wirbelte ununterbrochen feines Schneegestäube. Der Sturm fegte scharf um die Ecken der Häuser, rüttelte boshaft an Ziegeln, Türen und Fenstern und erhob nah und fern ein wütendes Geheul. Ärger aber trieb er es nirgends als dort auf dem kleinen Lindenberge, den eben Vater Lindemann und Fritz Bonder herab kamen, um sich zu einer Arbeiterversammlung in den Winkelkrug zu begeben. Die beiden mußten ihre Mützen festhalten und manchmal ganz schräg gehen, so stark war das Fegen des Schneesturmes.

In dem wütenden, oft von langgezogenem Pfeifen und Heulen begleiteten Gebrause klopfte der alte starke Lindenbaum mit seinen zerfetzten Zweigen fort und fort auf das rasselnde Dach, 101 an die klappernden Schiebfensterchen des kleinen Hauses; – dann war es den Lindenhüttenleuten allemal, als hörten sie rufen: »Fürchtet euch nicht, ihr lieben Menschenkinder! Ich bin noch da! Ich steh' noch auf der Wacht!«

Hinter den kleinen, mit den seltsamsten Eisblumen bemalten Fensterrauten schimmerte ein mattes bräunliches Licht, das ein kleiner Ölkrüsel verbreitete, der an einer vom Balken herabhängenden gezahnten Stange baumelte.

Dicht um den schwelenden Krüsel geschart saß die Lindenhüttenfamilie. Die Mutter hatte ein Höschen, das an verschiedenen Stellen bedenklich klaffte, unter der blitzenden Nadel.

Christinchen saß am schnurrenden Spinnrade und zupfte ohne Aufhören, eifrig wie ein Mütterchen, den seidenartig glänzenden Spinnrocken. Hannchen bewegte emsig die funkelnden Strickstöcker zwischen ihren Fingern; ein großer Fausthandschuh, wie die Holzhauer ihn tragen, wuchs unter den zarten Händen.

Im Kreise vor der Mutter Füßen hockte Christel und lernte seine Lektion. Über seine große Gelehrsamkeit machten die neben ihm unter dem Krüsel krabbelnden Kleinsten, Lorchen und August, oft große Augen. Der kranke Ludwig lag hüstelnd auf der Ofenbritsche. Er hielt eine 102 alte vergilbte Historie in den dürren Händen und las von Zeit zu Zeit etwas daraus vor.

Der Wind führte einen scharfen Ruck gegen das Häuschen, blies zu dem kleinen Eulenloche hinein und stieß plötzlich die an der Giebelseite befindliche Lukenklappe auf, sodaß sie in ihren Angeln hin und her flog und mit erschütterndem Krachen gegen die Giebelwand schlug. Hastig sprang die Mutter auf. Eine Minute später war sie oben in unheimlich lebendiger Finsternis. Heftig mußte sie mit dem Sturme ringen, ehe es ihr gelang, den Schaden zu kurieren.

Als sie wieder ins Stübchen trat, saßen die Kinder mit andächtig gefalteten Händen da.

»Wenn nur unser Haus nicht einfällt!« meinte Christel ängstlich.

»Kind,« entgegnete die Mutter, indem sie den Docht mit der Haarnadel ein klein wenig »ausstörte« und wieder ihr Flickzeug ergriff, »unser Haus hat schon über zweihundert Jahre gestanden. Wer auf Gott vertraut, der hat auf keinen Sand gebaut.«

»Wenn nur die Friedesinchenpate heute abend nicht ausbleibt,« ließ Christinchen sich vernehmen, indem sie den Faden auf der Rolle weiter hakte. 103

»Ihr müßt den Lichtschnuppen einwärts machen, dann wird sie schon kommen,« sagte die Mutter und lächelte.

Da warteten die Kleinen eifrig, bis sich wieder ein Schnuppe bildete.

»Mutter,« fragte der Kleine, »ist die Friedesinchenpate auch eine Mutter?«

»Ja, mein Junge, die ist auch eine Mutter,« antwortete Frau Lindemann und netzte die Finger.

»Ist sie auch eine richtige Mutter?« fragte August weiter.

»Eine richtige Mutter wie unsere Mutter kann sie ja nicht sein,« belehrte Christel ihn, »denn sie hat doch keinen Vater und keine Kinder wie unsere Mutter.«

»Du weißt's ja gar nicht,« erwiderte August gekränkt und wandte sich wieder an die Mutter: »Warum hat denn die Friedesinchenpate keinen Vater und keine Kinder wie du?«

Die Mutter lächelte und seufzte: »Ach, mein Junge, das ist eine ganz, ganz traurige Geschichte. Erinnert die Pate nur gar nicht daran. Ach ja, sie hätte auch einen so lieben und guten Vater haben können wie unser Vater ist; aber der liebe Gott hat es wohl anders mit ihr im Willen gehabt. Ich hab euch doch schon manchmal 104 erzählt von eurem PatenIn Hilgenthal wird nicht nur der wirkliche Pate, sondern auch der nächste Verwandte, namentlich der Oheim, »Pate« genannt., meinem Bruder Lorenz, der ein Drechsler war. Ach Kinder, wenn ihr den gekannt hättet! So groß und gut und schön sah er aus gerade wie euer Vater. Ihr hättet ihn gewiß auch alle so lieb gewonnen wie euern Vater, denn er war ganz so wie euer Vater und konnte auch kein Unrecht leiden und schalt sich mit keinem, hatte aber auch keine Gemeinschaft mit schlechten Menschen. Und darum war ihm auch die Friedesinchenpate so gut. Und Lorenz war ihr aber auch so gut, und es war schon alles bestimmt und abgemacht, daß sie seine Frau werden sollte. Und weil er sein Friedesinchen so lieb hatte, so wollte er's auch so recht groß und glücklich machen. Weil aber dann in der Heimat nichts Ordentliches zu kriegen war und die Bauersleute sich so engherzig zeigten, so hatte er sich's auf einmal in den Kopf gesetzt, er wollte nach Amerika, weil er meinte, daß er dort leicht einen großen Hof würde bekommen können, mit sechs Kühen im Stall. Ach du lieber Gott und Vater! Ein großes Grab, das hat er bekommen. Ihr wißt, Kinder, das Schiff, auf dem Lorenz vorausfahren wollte, um seinem 105 Friedesinchen eine neue und viel schönere Heimat zu bereiten, das Schiff ist untergegangen mit Mann und Maus. Man hat nie wieder davon gehört. Nun hat ja die Pate noch jahrelang im stillen gehofft, ihr Lorenz könne vielleicht bei dem Schiffsuntergange doch gerettet, aber wie Robinson auf eine ferne, ferne Insel im Weltmeer verschlagen sein, von der er nun nicht mehr herunter könne. Ach lieber Gott, und wenn einmal ein fremder Mensch über den Berg kam, der von weitem so aussah, als ob es Lorenz wäre, dann geschah es nicht selten, daß die Pate sich heimlich hinter eine Hecke oder einen Baum stellte, die Hände über die Augen hielt und so lange guckte, bis sie sah, er war's doch nicht. Danach war sie aber ganz gefaßt und ging ruhig wieder ihrer Arbeit nach, zum Weizenschneiden, zum Holzlesen, zum Krauten, oder was gerade an der Zeit war.«

Den größern Kindern glänzten die hellen Tränen aus den Augen, und Christinchen, deren Rad ganz stille stand, fragte: »Ob denn die arme Friedesinchenpate wohl immer noch glaubt, daß der Lorenzpate noch zurückkommen könnte?«

Die Mutter drehte ihren Wocken, um von der andern Seite zu zupfen, und sagte: »Seit einigen Jahren hat sie nicht mehr davon geredet; 106 aber ich merk's wohl, in ihrem Herzen glühen die Kohlen noch leise fort. Nun, Kinder, sie wird ja den Ohm auch wieder sehen, ich meine dort oben im Himmel, wo wir uns alle dereinst wieder sehen werden, wenn wir auferstanden sind von den Toten.«

August hatte die Finger ineinander geschlungen und grübelnd vor sich hin gesehen; jetzt fragte er: »Mutter, wann ist das?«

»Das ist, wenn der jüngste Tag kommt,« belehrt Christine den Kleinen.

Aber der Kleine konnte sich damit noch nicht zufrieden geben. »Wann ist denn der jüngste Tag?« fragte er.

»Ja, Kind,« antwortete nun die Mutter, »das wissen wir Menschen nicht, das weiß nur der liebe Gott.«

»Welcher liebe Gott, Mutter?« forschte der vierjährige Knirps weiter.

Da stieß Christel ihn ganz aufgebracht an und sagte: »Aber es gibt ja bloß einen lieben Gott; weißt du das noch nicht mal?«

»Du weißt es ja gar nicht,« grollte August, worauf Ludwig auf der Ofenbritsche unter Lachen und Husten sagte: »Aber Christel, das kann er ja noch nicht so gut wissen wie du, denn du bist schon nochmal so alt und noch älter 107 als August und du bist auch erst mit den Jahren so klug geworden.«

Hannchen stieß den neuen Lichtschnuppen mit ihrem Strickstock einwärts in den Ölbehälter, als draußen plötzlich stampfende Tritte vernehmbar wurden.

»Seht ihr,« scherzte die Mutter, »da bringt der Schnuppen richtig den Besuch.«

Die Kleinen sprangen nach dem Fenster, während Christinchen flink nach der Tür lief.

Hei, da stand die gute Pate wirklich und leibhaftig auf der finstern Diele und voll von Flocken.

»Hurra! unsre Friedesinchenpate!« jubelten die Kinder.

»Nur flink herein, Friedesinchen!« nötigte die Mutter.

Die Pate klopfte aber erst gehörig die Füße an die Schwelle, schüttelte die Röcke, die Arme, den Kopf mit dem übergebundenen Tuche, den Spinnrocken, daß der Schnee auf die Diele stieben mußte, und sagte: »So, nun komme ich! hat der Dachdecker Kiekebusch auch gesagt; da ist er vom Kirchendache 'runter auf die Erde gefallen, hat aber keinen Schaden genommen. Gun Abend!«

So kam mit der Pate auch gleich das Lachen herein. 108

»Gun Abend, Friedesinchenpate! Seid willkommen!« ertönte es von allen Seiten.

»Größten Dank!« nickte sie, stellte ihr Spinnrad, über dem ein starkrundiger, goldglänzender Flachswocken emporragte, auf die Erde, stellte einen Topf voll Milch in die Ofenpfanne und schüttete aus ihrer Schürze blanke Buchenspäne vor die Tür des kleinen schwarzen Lehmofens.

»Aber, Friedesinchen!« sagte Mutter Lindemann mit einem vorwurfsvollen Blicke, »das hättest du doch lassen sollen.«

»So? Als ob ich's nicht hätt'!« lachte die Schwägerin, band ihr noch nicht flockenfreies Kopftuch ab und schüttelte sich noch einmal, wobei sie ein frostvolles ›Brrr‹ hören ließ und zu dem Kleinen sagte, der sie mit großen, leuchtenden Augen ansah: »Junge, Junge, mich friert wie ein Snegelken!« – Während sie sich darauf mit sorgenvollen Mienen nach dem Befinden Ludwigs erkundigte, eilten die Kleinen, der guten, treugeliebten Friedesinchenpate die nötigen Dienste zu leisten: Christinchen füllte die hohle Netzerübe, welche an dem Spinnrad-Galgen baumelte, mit Wasser; Christel trug ihre Schuhe, nachdem er die Riemen hatte auflösen helfen, unter den Ofen, 109 und Lorchen kroch, mit dem Kleinen wetteifernd, unter das in der ›Butze‹ stehende Bett, um ein Paar alte Pantoffeln herbeizuschaffen. Dann stellten sie sich um die Pate herum, und Christel sagte: »Friedesinchenpate, jetzt müßt Ihr aber die Geschichte von der Kämmekarline erzählen.«

»Ei, Quälgeister, so laßt doch die Friedesinchenpate erst zur Ruhe kommen!« mahnte die Mutter.

Die Pate lachte, zwickte Augusts neugieriges Näschen, stellte mit Christels Unterstützung ihr Rad auf dem unebenen Lehmboden zurecht und begann nun hurtig zu »jäckern«, wie sie das Treten des Rades nannte. Sie trat bald mit dem linken, bald mit dem rechten Fuße und zupfte eben so abwechselnd mit der rechten und der linken Hand den weichen, glänzenden Flachs von dem »Wocken«, der noch ganz ungezaust und von unten bis oben mit einem roten, geblümten Bande, dem »Wockenbriefe«, umschlungen war.

»Ja, ja, Kinder,« begann sie nunmehr, »die Geschichte von der Kämmekarline – ach Kinder, die ist aber gar nicht schön!«

»Doch, doch, Friedesinchenpate!« riefen die Kinder in bittenden Tönen und rückten noch näher um ihr Rad herum, obgleich es kaum noch näher ging. 110

Als die Pate nun in die gespannten, leuchtenden Gesichter um sich herum sah, mußte sie auf einmal hell auflachen, und als sie endlich von der Kämmekarline aufs neue anfangen wollte, sprang sie ganz plötzlich auf und rief: »Ei, ei, da wäre mir die beste Geschichte ja fast in den Taschen stecken geblieben!« Und während Frau Lenore lächelnd den Kopf schüttelte und Ludwig hustete, griff die Pate flugs an ihrem grauen Flausrocke hinunter und langte aus den Taschen eine Anzahl rotbäckiger Äpfel, worüber die Kinder trotz ihrer Ungeduld in lauter Jubel ausbrachen. Einige verteilte sie, die andern rollte sie in die Ofenpfanne, danach begann sie ernstlich zu erzählen:

»Ihr alten Kinder kennt meinen Lebenslauf und ihr jungen werdet ihn noch kennen lernen, wenn ihr erst etwas verständiger seid. Ach, ich habe lange nichts von den Zeiten erzählen mögen, die nach dem Schiffbruche meines Lebens kamen; aber wenn der Mensch welk und steif geworden ist, dann beginnt erst so recht das Wachstum seiner Seele; das hört nie auf oder darf doch nie aufhören, soll einer wirklich ein ganzer Mensch werden, innerlich wie äußerlich tragfähig für große, große Lasten, die der liebe Gott einem auferlegen will. Ja, nicht nur dem Leibe, auch 111 der Seele müssen starke Schultern wachsen, soll so ein Menschenkind nicht fort und fort mit zuckendem Herzen am Weggraben liegen.«

Sie sah Frau Lenore an, die seufzend nickte, und fuhr fort: »So danke ich denn Gott, daß er auch mir vier starke Schultern gegeben hat, festzustehen ohne Wanken und Weichen, ob auch die Last lange unerträglich schien. Ja, Kinder und darum kann ich heute ruhig einmal in jene Zeit zurückkehren, die dicht hinter dem furchtbaren Meere liegt, das all mein Herzensglück verschlang. Denn soll ich euch von der Kämmekarline erzählen, muß ich wohl oder übel erst von mir selber sprechen, weil unser Leben sich an jener verhängnisvollen Stelle berührte, an der sie ihrem ach so bösen Schicksale verfiel. – Es mögen nun schon gut an die zwanzig Jahre sein, als ich eine Zeit und Weile gar nicht mehr wußte, was ich mit meinem so armseligen Leben anfangen sollte. Müde und sterbensmatt wie ich war, rastete ich eine Zeit lang in der Lindenhütte; von euch war noch keins geboren, euer ältestes Brüderchen war nach kurzem freundlichen Blick ins Leben wieder unter die Engel zurückgegangen, und als ich eure Mutter trösten wollte, merkte ich, daß ich's nicht konnte. Da wollte sie mich trösten, konnt's aber auch nicht.« 112

Frau Lindemann nickte leise und bückte sich, um die Träne wegzuwischen, die ihr ins Auge gekommen war.

»Dann wollte ich's noch einmal bei fremden Leuten versuchen,« fuhr die Pate fort, »aber an einem Orte, da niemand mich kannte und niemand mich an mein Unglück erinnern konnte. So kam ich nach Raßdorf an der Leine, – wißt ihr, wo der sanfte Christophvetter her ist. So kam ich auf den merkwürdigen Hof mit den merkwürdigen Leuten und dem merkwürdig vielen Gelde.

Ja, merkwürdig war der Hof, halb herrschaftlich und halb bäuerlich, mit hohem Eingangstor und rundherum »bickelfest« zugemacht, sodaß niemand heraus und herein konnte, dem nicht besonders aufgemacht wurde. Man hieß ihn gewöhnlich den »Lehnhof«. Noch merkwürdiger aber war sein Besitzer. »De ale Riepenhusen« wurde er gewöhnlich im Dorfe genannt, denn er war schon über siebzig Jahre alt; »Herr Riepenhusen« aber wollte er genannt sein und wurde er auch genannt, wenn die Leute direkt mit ihm sprachen. Denn er war kein gewöhnlicher Bauer, sondern ein gebildeter und vornehmer Mann und sprach alles hoch, und seine Frau war eine seine Amtmannstochter. Er trug 113 auch keinen blauen Bauernkittel, sondern einen langen, weißen Mantelrock und eine weiße Zipfelmütze dazu.« . . .

Die Lindenhüttenkinder kicherten; die Friedesinchenpate nickte, hakte den Faden am »Flögelsche«Auch Flögeltüg, Flügelzeug, der mit Haken versehene Flügel, in dem die Spinnrolle läuft. weiter und fuhr fort: »Die Leute im Dorfe lachten auch, wenn sie den Mann sahen, kriegten ihn aber nur ganz selten einmal zu sehen, da er aus seiner fest geschlossenen Burg fast nie heraus ging, sondern immer wie ein weißer Geist darin herum wandelte. Noch viel, viel seltener, nämlich so gut wie gar nicht, kam ihnen seine Frau, die »Riepenhüsen'sche« und »Frau Riepenhusen«, zu Gesicht. Denn die war gelähmt und mußte den ganzen Tag und das ganze Jahr hilflos im Lehnstuhl am Ofen sitzen. Wollte die Ärmste einmal hinaus an die Sonne gebracht werden, stemmte er sich wie ein Baum dagegen und litt es nicht. Ein Kind aber, an das die Frau sich in ihrem Elend hätte wenden können, hatten die reichen Leute nicht.«

»Die reichen Leute haben immer keine Kinder!« warf Christel dazwischen.

»Oder sagen wir,« verbesserte lachend die Pate, »die vielen Kinder haben immer nur die 114 armen Leute.« Ritsch, war ihr der Spinnfaden gerissen, den sie nun erst mühsam auf der Rolle suchen mußte, wobei sie jedoch den Faden der Erzählung ruhig fortspann: »Das zum Lehnhofe gehörige Ackerland, wohl mehrere hundert Morgen, war bis auf den kleinsten Zipfel an die Raßdorfer verpachtet, sodaß Riepenhusen nur das schöne Geld einzustreichen und nichts zu tun brauchte.

›O, da wirst du's aber gut kriegen, da liegt das Geld in allen Ecken!‹ sagten die Leute, als sie hörten, daß ich auf den Lehnhof käme; denn die Leute meinen ja immer: wo viel Geld ist, da ist's gut. Nun, wenigstens in dem einen Punkte hatten sie recht: in dem Lehnhofhause lagen die Taler, Gulden und Goldstücke wirklich in allen Ecken, und wo das Geld nicht offen lag, da stand es aufgeschüttet in Beuteln wie kleine Kartoffelnsäcke, die noch nicht mal zugebunden waren.«

»Aaah!« machten alle Lindenhüttenkinder.

»Wie kleine Kartoffelnsäcke,« bekräftigte die Pate nochmal. »Und da ich noch nie und nirgends so viel Geld gesehen hatte und gar nicht glauben konnte, daß es so viel Geld gäbe und daß man wirkliches Geld so im Hause herum liegen lassen könne, so meinte ich in den ersten Tagen immer, ich träume oder ich wäre gar närrisch geworden. Stieß ich einmal unversehens 115 an einen Haufen, daß die Taler und Gulden nur so umher purzelten, erschrak ich jedesmal, als hätte ich ein klapperndes Gespenst gesehen. Aber wie man sich schließlich selbst an Gespenster gewöhnen würde, hätte man sie alle Tage vor Augen, so waren meine Augen auch bald an den Anblick des Geldes gewöhnt.

Nicht so leicht gewöhnte ich mich an die sonstigen Eigentümlichkeiten des alten Lehnhofherrn. Da er keine Kinder hatte und sich aus seiner kranken Frau nichts machte, so hielt er sich die längste Zeit des Tages unter seinen Tauben und Hühnern auf, von denen der ganze Hof krimmelte und wimmelte. Und das war ein wundersamer Anblick: die Hühner wie die Tauben waren alle schneeweiß befiedert, und man sah unter der großen Zahl auch nicht eine Taube, die gesprenkelt, nicht ein Huhn, das schwarz oder grau gewesen wäre; ja, es sah aus, als trügen alle weiße Mäntel und weiße Zipfelmützen wie der Lehnhofherr selbst. Und wenn er unter ihnen stand und sie fütterte, so gnickerte und gnuckerte und guckerte er immerfort wie ein Tauber, oder er gackerte wie eine Henne. Eines Tages sagte er zu mir: Das wären alle seine Kinder, und gnickerte und verlangte, daß ich auch so gnickere, gnuckere und guckere wie ein Tauber 116 oder gackere wie eine Henne. Und als ich darüber bloß lachte, wurde er furchtbar böse, so daß er sich die Zipfelmütze vom Kopfe riß, stracks hinein zu seiner armen Frau lief, vor ihr mit einem Stocke auf den Tisch schlug, wie er immer tat, wenn er giftig war, und rief: ›Siehste wohl, Weib, was für ein gottloses Mädchen du hast!‹

Da die Frau aber ganz auf meiner Seite war und mich verteidigte und die herumliegenden Geldhaufen als Zeugen für mich aufrief, so warf er den Knüppel wieder hin und machte, daß er zu seinen Tauben und Hühnern zurückkam. Da hörte ich ihn dann ärgerlich weiter gnickern, gnuckern, guckern und gackern.

Nun werden meine lieben Lindenhüttenkrabaten im stillen schon lange gedacht haben: Hei, wird das aber auf dem Lehnhofe sonst ein feines Leben gewesen sein und wird die Friedesinchenpate da 117 alle Tage was Schönes zu essen und zu trinken gekriegt haben: Taubenbraten und Hühnerbraten und noch allerlei andere Braten und die schönsten Würste von allen Sorten und den schönsten roten Wein und die schönsten Äpfel, Birnen und Pflaumen von der Welt, und was alles noch. Ja, siehst du, Christel, dir läuft schon ordentlich das Wasser im Munde zusammen, und dir auch, August, ja, ja und dir, Lorchen!

Kinder, wißt ihr nicht, was der alte Jesus Sirach sagt? Er sagt: ›Wer ihm selber nichts Gutes tut, was sollte der andern Gutes tun? Er wird seines Guten nimmer froh.‹ Wenn Jesus Sirach den alten Riepenhusen noch gekannt hätte, würde ich meinen, der Spruch wäre gerade auf ihn gemünzt, denn so gut und so genau paßte er auf den Lehnhofherrn. Er paßte aber auch noch auf manche andere Leute.

Jeden dritten Tag und öfter mußte ich mit der Köze nach Göttingen auf den Markt; denn alle neugeborenen Tauben und alle jungen Hühnchen und Hähnchen, die von ihren Eltern keine weißen Mäntel und keine weißen Zipfelmützen bekommen hatten, mußten so bald wie irgend angängig in den Korb gesteckt und auf den Markt gebracht werden. Auch von den vielen, vielen Eiern, die manchmal da lagen wie ein richtiger 118 Eierberg, kamen nur selten ein paar in unsere Küche. Wollte ich für die arme, gute Frau einmal ein paar Eier verstohlen mit herein nehmen, hatte Riepenhusen es gleich gemerkt; zornroten Gesichts jäckerte er dann in die Stube, schlug vor der lahmen Frau mit dem Knüppel auf den Tisch und rief wie immer, wenn er sich über mich erboste: ›Siehst du wohl, Frau, was für ein gottloses Mädchen du hast!‹

Mochte der Eierberg noch so groß sein, Herr Riepenhusen wußte genau, wieviel Eier darin steckten und bis zu welcher Zahl man beim Einzählen in die Köze kommen mußte. Ja, er bestimmte immer schon im voraus, wieviel Eier den Tag über noch gelegt werden sollten und von welchen Hühnern. –

Da ich in der Regel jeden dritten, manchmal auch jeden zweiten Tag auf den Stadtmarkt ging und die Einkäufe, die ich für den Haushalt zu besorgen hatte, immer auf das geringste und unentbehrlichste beschränkt bleiben mußten, so könnt ihr euch schon denken, welche schönen Päckchen Geld ich so Woche für Woche auf den Lehnhof trug. Das kam natürlich zu den schon daliegenden Haufen oder in die in den Ecken stehenden Geldsäcke; und wenn's der alte Kujon hinzutat, so wie der Steinklopfer die Steine auf den Haufen 119 wirft, so merkte ich schließlich aber doch, daß er ganz genau und bis auf den Pfennig wußte, wie viel der Haufen nun machte oder wie hoch man zählen mußte, wollte man den oder jenen Sack leer zählen.

Hiernach werdet ihr schon gemerkt haben, Kinder, daß es mit den schönen Braten und Würsten von allerlei Sorten und mit dem schönen, roten Wein auf dem Lehnhofe nichts war. Das einzige, was unser reicher Herr sich und uns gönnte, war ein halbes Pfund Hammelfleisch. Das gönnte er uns aber wirklich und von Herzen. Und so oft ich nach der Stadt ging, so oft mußte ich auch ein halbes Pfund Hammelfleisch mitbringen. Und davon hatte ich dann einen großen Topf voll Reissuppe zu kochen, und das immerfort, Kinder, dreimal in dieser, dreimal in der andern, dreimal in der dritten Woche und so immerfort. Heute noch kriege ich ein ganz murmeliges Gefühl um den Magen herum, wenn ich das Wort Hammelfleisch höre, und ich bin ordentlich froh, Kinder, daß ich so arm bin, daß ich kein Hammelfleisch zu essen brauche. Nun habe ich aber hernach, als ich älter und nachdenklicher wurde, über dies ewige halbe Pfund Hammelfleisch manchmal nachdenken müssen, und da bin ich denn auch dahinter gekommen, woher 120 diese rührende Anhänglichkeit an das halbe Pfund Hammelfleisch kam: Je öfter man das Hammelfleisch erhielt, desto mehr widerstand es der armen Frau und mir; je mehr es uns aber widerstand, desto gütlicher konnte er sich daran tun, denn ihm widerstand es nie. Und so reichte auch ein halbes Pfund immer aus.

So wurde der Reichtum der Lehnhofsleute immer größer und größer, ihre Lebenszeit aber immer kleiner und kümmerlicher. Und ihre Erben, von denen sie nicht geliebt und nicht gelobt wurden, gingen von fern um den Hof herum und lachten. Das ist der Fluch und der Wahnsinn des Reichtums, wenn er in Geiz erstarrt.

Wenn ich's trotz alledem fast ein Jahr in diesen seltsamen Verhältnissen aushielt, so war es nur das Bedauern und das inständige Bitten der armen reichen Frau, was mich hielt. Denn ich konnte doch manches für sie tun und hatte, was sie aus ihrer stillen Beobachtung wohl wußte, die glückliche und gesunde Natur, daß mich die an allen Ecken und Enden winkende Gelegenheit, auf meinen Vorteil bedacht zu sein, nicht verlockte. – – Ja, Kinder, das ist mein bestes Erbteil aus der Lindenhütte! Und wer ein solches Erbteil hat, der kann froh darüber sein und Gott danken, denn der ist gewappnet und 121 geht an mancher schweren Versuchung und an mancher Lebensgefahr vorüber, wie der Wind an Bergen und Abgründen.

Ich wäre auch leicht noch ein Jahr geblieben, wenn sich's nur um ein Gutestun gehandelt hätte, denn nach einem satten, bequemen und erquicklichen Leben verlangte ich in meiner Gemütsstimmung ja gar nicht. Allein je mehr der seltsame Alte merkte, wie gern die Frau mich hatte und wie besorgt sie um mein Bleiben war, desto reizbarer und kindischer wurde er gegen mich; zumal da er nicht vergessen konnte, daß ich mit seinen Tauben und Hühnern nicht hatte gnickern, gnuckern, guckern und gackern wollen. Da er nun gar nichts gegen mich fand, so oft er auch die Geldhaufen und Geldsäcke durchzählte, verlangte er eines Morgens, ich solle das große Hoftor, dem über Nacht ein Schaden zugefügt war, auf die Schulter nehmen und zur Schmiede tragen. Wenn ihr euch nun das große Hoftor vorstellt, so werdet ihr begreifen, daß ich recht darüber lachen mußte. Da schlug er aufs neue mit dem Knüppel auf den Tisch, daß es donnerte und dröhnte, und ich hörte ihn noch heftiger als sonst rufen: ›Siehst du wohl, Frau, was für ein gottloses Mädchen du hast!‹

Dann war er zwei Tage ganz still und 122 tiefdenkerisch, sodaß er auch selbst nicht einmal mehr gnickerte, gnuckerte, guckerte und gackerte. Am dritten Morgen aber kam er schon in aller Herrgottsfrüh auf mich zu und sagte ganz feierlich, daß es mich ordentlich durchrieselte: ›Sieh mal, Mamsel, was für ein feines Mädchen du bist! Aber ich habe diese Nacht mit dem lieben Gott gesprochen, und er hat mir gesagt, daß ich dich nicht behalten könne.‹

Na, Kinder, und so bin ich dann wirklich gegangen, so leid es mir um die arme reiche Frau tat. Ich war des Dienens bei fremden Leuten nun herzlich satt, und da in der Lindenhütte gerade euer Ludwig angekommen war und eure Mutter kränkelte, so zog ich fürerst in die Lindenhütte. Da konnte ich doch nun bei meinen eigenen Leuten sein, und was das bedeutet, Kinder, das werdet ihr erst recht begreifen können, wenn euch erst einmal der rauhe Wind der Welt um die Nase geweht ist und ihr so lange bei fremden Menschen herumgekommen seid wie eure Friedesinchenpate.

Nun denkst du schon, Christel, ich hätte über mir selbst die Kämmekarline ganz vergessen. Doch nicht! Denn gerade da, wo meine Geschichte auf dem Lehnhofe aufhört, da fängt ihre an. Noch lange, ehe Bocklers wußten, daß ich nicht auf 123 dem Lehnhofe bleiben würde, hatten sie schon dem Lehnhofsherrn ihre Karoline angepriesen und dabei nach ihrer Art tüchtig Wasser auf seine Mühle gegossen, indem sie an mir kein gutes Haar ließen. Denn die Bocklerschen gehören nun einmal zu jener schlimmen Menschensorte, die nur hoch kommt, wenn sie rechtschaffene Menschen zu Grunde richtet, die ihre Nebenmenschen überhaupt nur so ansieht, wie der Wolf die Hirschkuh.

Arglos, wie ich von Natur war, habe ich damals wohl die alte Bocklersche mit ihrer Karoline mehrmals auf den Lehnhof kommen sehen, aber, da sie um glaubhafte Vorwände nie verlegen waren, gar an nichts Arges gedacht.

Hernach sind mir freilich die Augen aufgegangen, und ich habe nun gewußt, daß es das Gnickern, Gnuckern, Guckern und Gackern nicht allein gewesen ist, was den alten Riepenhusen veranlaßt hatte, in jener Nacht mit dem Herrgott zu reden.

Nun, und so ist denn Bocklers Karoline an meine Stelle gekommen, – und da hat der alte Gnickerjochen endlich was Rechtes gehabt, denn die kluge Karoline ist ihm ganz, ganz anders um den Bart gegangen, als das dumme Friedesinchen. Da sie auch mit den Tauben und Hühnern gleich so bereitwillig und so schön« . . . 124 »gnickerte, gnuckerte, guckerte und gackerte« (fielen die Lindenhüttenkinder unwillkürlich ein, und die Pate und die Mutter lachten herzlich dazu), . . . »während sie sich,« erzählte die Pate weiter, »um die unglückliche Frau gar nicht kümmerte, so ist zwischen dem Lehnhofsherrn und seiner Magd Karline bald eine ganz große Herrlichkeit gewesen. Und sie hat auf dem Hofe herum gewirtschaftet, als wäre sie die Frau selbst; diese aber, die Allerärmste, konnte hungern und dürsten, in Kälte und Kummer sitzen, das rührte Karline nicht. Hatte sie doch schon am ersten Tage, ja gewiß schon beim ersten Besuche auf dem Lehnhofe gemerkt, daß man mit der Fürsorge für die Frau kein Wohlgefallen beim Herrn fand, und sagte sie sich doch natürlich auch, daß die gefesselte, machtlose Frau sie nicht fördern und nicht hindern konnte. Denn solche Menschen richten ihr Tun und Lassen nur nach dem Vorteil, der für sie dabei herausspringt; von Nächstenliebe und Menschenpflicht haben sie in ihrer Bibel nichts gelesen.

Aber Kirschbäume, Kinder, blühen nicht lange, und auch die Herrlichkeit zwischen dem Lehnhofsherrn und seiner neuen Magd war nur von kirschblütenkurzer Dauer.«

Hier gab's zunächst eine kleine Pause, denn die Äpfel, die in die Ofenpfanne gerollt waren, 125 fingen auf einmal ein so jämmerliches Piepen und Ächzen an, daß August eifrig ausrief: »Ach, Pate, die Äpfel!«, während Christel und Lottchen ebenso jämmerlich zu piepen anfingen.

Darüber mußten sie alle lachen, und das Lachen wurde noch größer, als Christinchen, die rasch aufgestanden war und die Äpfel umgewandt hatte, den Geschwistern zurief, sie meinten wohl, daß sie mit den Äpfeln gnickern, gnuckern, guckern und gackern müßten.

Nun ging erst ein richtiges Gegnicker, Gegnucker, Gegucker und Gegacker los, so daß sich die Friedesinchenpate schon die Ohren zuhalten mußte.

Mutter Lindemann, die unterdessen das kranke Höschen völlig kuriert hatte, lachte kopfschüttelnd mit, gab dem matten Ofenfeuer noch eine kleine Zulage und holte ebenfalls ihr Spinnrad herbei, so daß nunmehr drei »Tretemühlen«, wie die Pate die Spinnräder scherzend nannte, in der Stube gingen. Hurre, hurre, hurre, surre, surre, surre! Und so immerfort, bald langsamer, bald schneller, je nachdem die Füße traten und die Hände dirigierten.

Nachdem die Pate Rad und Stuhl anders gerückt hatte, erzählte sie weiter: »Karline war kaum acht Tage in Raßdorf, als die Bocklerschen 126 schon anfingen, einen großen Aufwand zu machen. Sie schlachteten ein Schwein und ein Schaf gleich auf einmal, brieten und buken, ließen ihr brackliges Haus instand setzen, die Türen gelb anstreichen, ließen überhaupt bei verschiedenen Gelegenheiten viel Geld sehen, und euer Vater hörte den jetzigen Holzvogt auf dem Holzhau prahlen, daß sein Vater Land suche; er hätte eine schöne Erbschaft gemacht und wolle den größten Teil in einer Ackerwirtschaft anlegen.

Nun, euer Vater konnte sich schon denken, welcher Art die Erbschaft war; er wollte sich aber mit dem ekligen Kerl nicht einlassen, schwieg also still und dachte: ›Die Sonne wird es schon an den Tag bringen.‹ Die andern Holzhauer schwiegen indes nicht still, sondern stichelten, sprachen durch die Blume und fragten, ob vielleicht der Erbonkel in Raßdorf an der Leine wohne? Denn es war keiner, der den Menschen ausstehen konnte.

Das kann ihnen nur der Lindenhüttenmann eingeflüstert haben, argwöhnte Bockler und warf schon damals einen rachedurstigen Haß auf euern Vater.

Nun, es ging noch eine Woche hin, da kam eines Abends, der ohne Mond und Sterne war, der Gendarm ins Dorf und ging mit dem Bauermeister ganz leise, leise nach dem Bocklerschen 127 Hause. Sie blieben erst ein Weilchen unter dem Fenster stehen, und da es stockfinster war, so sah sie kein Mensch, weder von drinnen noch von draußen. Auf einmal hörten sie einen großen Geldbeutel rasseln und den alten Bockler zu seiner im Bett liegenden Frau sagen: ›Es sind noch 900 Taler, und den Beutel wollen wir oben unters Dach hängen zwischen die Zipollen-, Bohnen- und Rübenbeutel, damit die Mäuse nicht dran können.«

Als er nun mit dem Beutel unterm Arm und dem qualmigen Ölkrüsel in der Hand auf die Diele trat und die Treppe zum Dachboden hinaufsteigen wollte, sagte der Gendarm, der inzwischen mit dem Bauermeister auf die Diele getreten war: ›He, Bockler, was wollt ihr den Geldbeutel erst noch unters Dach hängen zwischen die Zipollen-, Bohnen- und Rübenbeutel! Gebt ihn lieber nur gleich mir!‹

So war es an den Tag gekommen, obgleich die Sonne noch nicht 'mal geschienen hatte.

Der alte Bockler wurde natürlich auf der Stelle in den Bock gespannt und noch in derselben Nacht nach Göttingen hinters Gitter gebracht, wo er seiner Tochter Karline, die hier schon einen 128 Tag früher angekommen war, guten Morgen sagen konnte. Die alte Bocklersche konnte von Glück sagen, daß sie krank im Bette lag, sonst hätte sie wohl auch 'mal bei Nacht reisen müssen. Und wohnte der junge Bockler nicht schon für sich allein, so daß er sich für das unschuldigste Lämmchen in der Herde hinstellen konnte, so würde der Gendarm sicher zwei Heiducken eingespannt haben in jener Nacht.

Nun, was soll ich noch schlechte Hede spinnen, der Faden ist lang genug!

Karline kam auf sieben Jahre nach Lingen, um dort das Wollekämmen – darum Kämmekarline – zu lernen, und der alte Bockler wurde auf acht Jahre nach Hameln geschickt, um dort Karren zu schieben, während die Bocklersche und der junge Bockler, die sich ganz rein gebrannt hatten, ungezupft zu Hause bleiben und die gekränkte Unschuld spielen konnten. Da sie einen Sündenbock brauchten, so mußten ihnen die Lindenleute dafür herhalten. Wir waren die Angeber gewesen, wir hatten Karline in die Wolle und ihren Vater in die Karre gebracht – aus Rache, weil ich ihrer Karline hätte meine goldene Stelle einräumen müssen. Natürlich hätten wir in die Wolle und in die Karre kommen müssen; wir wären nur nicht so dumm gewesen wie andere 129 Leute und hätten unsern Raub besser in Sicherheit zu bringen gewußt. Aber einmal käme die Ratte doch aus 'm Loch, und man würde schon aufpassen, und so gewiß es Ratzen gäbe in allen Kellerlöchern, so gewiß würde das ehrsame Lindenhüttenfriedesinchen noch nach Lingen kommen und Wolle kämmen lernen, wie ihre Karline, und so gewiß auch würde der ehrsame Lindenhüttenhanfrieder noch in Hameln Karren schieben wie ihr Vater.

Und diese Bosheit hat kein Ende genommen bis auf den heutigen Tag. Ihr wißt nun, woher sie kommt und worin sie wurzelt. Man muß sie so gewähren lassen, denn sie kommt ja nicht aus äußern Anlässen, sondern sitzt den Leuten in der Natur, und sie können ihre Natur eben so wenig ändern wie wir die unsrige. Und weil sie ihrer Natur nach nicht anders sein können als sie sind, so wollen wir auch nicht mit ihnen ins Gericht gehen, sondern den lieben Gott, der auch sie geschaffen hat, für uns wirken lassen und ihm dankbar sein, daß wir allen Menschen offen und gerade ins Angesicht sehen können, und daß außer jenen Unglückseligen niemand im Dorfe den Lindenhüttenleuten eine schlechte Tat zutraut. Mich beglückt, daß mein Gewissen mich nicht drückt.« 130

Die Pate stand auf, klemmte wieder des Kleinen vorwitziges Näschen zwischen ihren Zeige- und Langfinger und ging nach der Ofenpfanne, um die geschmorten Äpfel, von denen schon die ganze Stube duftete, unter die Kinder zu verteilen.

Ludwig, den oft ein sorgender Blick der Mutter und der Pate streifte, hatte sich aufgerichtet und das alte Buch zugeklappt. »Und daß nun solch ein Mensch, mit dem keiner im Dorfe auf einer Bank sitzen möchte,« stieß er mit heftigem kurzen Atem heraus, »in unserem Schlosse so hoch angeschrieben sein kann, das . . . .« Der Husten nahm ihm die letzten Worte von den Lippen.

Die Mutter stand auf und legte ihm das Kissen wieder zurecht. »Ich meine,« erwiderte sie in ihrer milden Art, »wenn unser Herr Graf wüßte, in welchem Geruche Bockler steht und was für ein schlimmer Mensch er ist, würde er sich gewiß nicht mit ihm abgeben; unser Herr Graf weiß ja aber nicht mal so viel von unserm Dorfe und von unserm Leben, wie unser Kleiner weiß.«

August kehrte die Brust heraus und sah die Mutter mit leuchtenden Augen an.

Die Friedesinchenpate, deren Charakter mit den Jahren in den Wirbeln des Lebens schärfere Seiten bekommen hatte, schüttelte den Kopf, 131 zauste den Wocken und erwiderte: »Ich weiß nicht, Lorchen, ob das eine Entschuldigung sein kann. Der Graf ist doch ein Mann, der studiert hat und weit in der Welt gewesen ist und die Welt kennt. Und ich meine, wenn er uns auch nicht kennt, so müßte er doch seinen Bockler nachgerade schon in- und auswendig kennen. Das Wasser treibt die Wassermühle, der Wind treibt die Windmühle, das Pflichtgefühl treibt den redlichen Mann, aber was den Holzvogt des Grafen treibt, das ist nichts als Bosheit und Rachsucht. Und das sollte unser Herr Graf noch nicht gemerkt haben? Nein, Lorchen, weil er Bockler gerade so braucht, wie er ist, und weil er keinen andern solchen in Hilgenthal fände, und weil er ohne Bocklers Bosheit und Rachbegierde die Leute so leicht nicht aus dem Holze 'raus gekriegt hätte, so macht er sich Pfropfen in die Ohren, Binden vor die Augen und Lappen aufs Gewissen!«

»Gnickern, gnuckern, guckern, gackern,« machte der Kleine und piekte Lorchen mit dem Finger auf die Brust, und da Lorchen nun auch anfing zu gnickern, so brachten sie die Pate dadurch aus dem Text. Weil es aber ein schlechter Text war, wie die Pate selbst sagte, so schadete es nicht. 132

Man lachte wieder, und die Mutter stellte das Rad hin und schickte sich an, nach alter Spinnabendgewohnheit ein »Scherben Kaffee« zu kochen, indem sie die Ofentür öffnete, die Kohlen ein wenig auseinanderrückte und einen kleinen Kessel hineinsetzte.

Da stapfte es draußen, und die Kleinen liefen nach dem Fenster mit dem Rufe: »Der Vater kommt!«

Man merkte aber gleich, daß es der Vater nicht war, und als man die Tür öffnete, stand keuchend und pustend die alte Lotte aus der Schloßküche da, ihren obersten Rock wie eine riesige Kapuze über den Kopf gezogen.

»Nur einen Augenblick wollte ich mal 'rein gucken, Kinder,« sagte sie auf die herzliche Bewillkommnung und machte den Rock herunter und hatte ordentlich Not, bis sie wieder hinter den Atem kam.

»Da, Kinder, ein paar Brocken, die von des Herrn Tische gefallen sind!« Mit den Worten verteilte sie aus ihrer aufgenommenen Schürze Kuchen und Süßigkeiten unter die Kinder und freute sich, als sie die Augen der Kinder lachen sah. Nun ging sie an den Ofen, wärmte sich die Hände, machte dabei ein überaus pfiffiges und seltsames Gesicht und sagte: »Heija, es geht 133 bei uns da oben heute hoch her, und die Mäuse in den Löchern piepen ordentlich vor Freude, und wenn sie nur wollten, könnten sie auch auf 'm Tische tanzen, 's würde ihnen heute keiner verwehren. Ich sage euch, im alten Mausturm trippelt's die Treppe 'rauf und runter, als hätten hundert alte Geister und Gespenster neue Schuh mit Nägeln gekriegt. Und oben drauf auf dem alten Mausturme hab' ich vorhin eine wunderfeine, weiße Jungfrau gesehen, die hatte ein langes, weißes Kleid an, das leuchtete von Perlen und Edelsteinen so wundersam, wie die Edelsteine unserer lieben Frau Gräfin; und sie hatte gar weiße Lichter in der Hand, die nicht verlöschten, ob auch der Sturm sich von allen Seiten über sie her stürzte. Was seit vielen, vielen Jahren still und tot war, heute abend ist's wieder lebendig und lustig und lachend geworden. O, du lieber Herrgott, ist das ein Lachen und Jauchzen und lustiges Lamentieren ums ganze Schloß herum und in allen Mauerritzen, daß man nicht weiß, wohin man horchen soll! O Herrgott ja! Ihr guckt mich an, Leute und Kinder, als wenn's in meinem Stübchen hier oben nicht ganz richtig wäre. Klein ist's freilich nur und niedrig und eng, aber richtig ist's, das kann ich euch versichern, denkt euch doch nur, Leute und 134 Kinder, was heute an unserm 69. Geburtstage passiert ist! Ja, Leute und Kinder, habt ihr's denn noch gar nicht gemerkt, warum die Welt so wackelt und mit allen Stühlen rumpelt? Ei, wir haben ja eine verwunschene Prinzessin erlöst, eine Königstochter, die wir schon lange drüben in den Wäldern von Volkerswalde haben gehen sehen, aber immer noch nicht erlösen konnten, weil wir das rechte Zauberwort nicht kannten.

Aha, Friedesinchen, jetzt springst du auf! Du denkst's und denkst's auch wohl nicht. Ja, ja, was wir schon oft unter einander besprochen haben im letzten Jahre und was wir von Herzensgrund gewünscht und gehofft haben, als wir die Hornungsblümchen hier herum und dort herum in den Wäldern aufblühen sahen, das ist nun wirklich und wahrhaftig. Und ich möchte euch gern noch ein bißchen hinhalten, noch gern ein bißchen foltern, wie sie vor alten Zeiten im Mausturm die Menschen gefoltert haben, die armen Menschen, wovon sie jetzt noch um Mitternacht so schreien, die Unglücklichen; – aber, Kinder, ich muß ja machen, ich muß ja laufen, daß ich wieder zurückkomme aufs Schloß. Ich habe nämlich nach dem Pfarrhause gemußt, weil doch die Frau Pastorin krank ist und nicht mit auf dem Feste sein kann; und der Herr Pastor 135 wollte doch, daß es seine Frau auch gleich erführe. No ja, und da bin ich dann rasch 'runtergeflogen, als wenn ich 'n Geistermantel um hätte. Und da habe ich aber doch an der Lindenhütte nicht vorbei können; nein, habe ich gedacht, da mußte doch erst mal 'rein, denn die Lindenhüttenleute müssen's doch auch gleich wissen, ja, die müssen's eigentlich zu allererst im Dorfe wissen, und es täte mir noch lange leid, wenn sie diese Nacht ohne die Freude schlafen müßten. Lorchen, ach du lieber Gott, der Kessel kocht ja über! Ja, wenn man nicht auf seine Sache paßt. So, Kinder, nun muß ich aber schnell machen, daß ich wieder hinkomme.«

Schon wollte die Lottewase den Rock wieder über den Kopf ziehen und nach der Tür huschen, als die Friedesinchenpate von der einen und die Lindenhüttenmutter von der andern Seite zusprangen, sie bei ihrem Oberrock erwischten und rücklings an den Ofen zurückzogen.

So ein Lachen war lange nicht in der Lindenhütte gewesen. Es half der Lottewase also nicht, sie mußte den Faden, den sie so schön angefangen hatte und an dem die Kinder ganz atemlos hingen, schnell zu Ende spinnen. Und so erfuhr man endlich, daß der junge Graf seinem Vater die »allerschönste und allerlieblichste und 136 gutherzigste Braut, die es auf dem ganzen Erdboden Gottes gibt,« zum Geburtstage »geschenkt« hatte. Und der knitterige alte Herr hatte wahrhaftig ja dazu gesagt, obgleich's ihm nach seiner Gesinnung, wie man wußte, gar nicht nach dem Kopfe sein konnte; ja, und er hatte ordentlich eine Rede gehalten und ein Hoch auf das junge Paar ausgebracht, und die Musikanten hatten dazu geblasen und gegeigt, daß es einem durch alle Zehen gegangen war.

Aber erst als man die Lottewase ganz in die Enge drängte, kam sie unter dem allseitigen Jubel der Lindenleute damit heraus, daß die Braut das junge Edelfräulein von Volkerswalde sei, das dem Lindenhüttenvater schon am Vormittage am Schloßberge so freundlich zugenickt hatte.

»Nein, so ein Glück! Und ein Glück für uns alle!« rief Friedesinchen und faltete unwillkürlich die Hände, denn das Spinnrad stand schon ein Weilchen ganz still. Noch am letzten Sonntage sei ihr Meierilsens Dortchen begegnet, die den Hofmeister Henkelmann von Volkerswalde geheiratet habe. Die kenne ja nun die Volkerswalder Herrschaft aus allernächster Nähe, sähe das junge Fräulein alle Tage. Und was die alles von dem herrlichen Mädchen erzählt hätte! So verständig 137 und so liebreich und so mitfühlend sie wäre, immer bereit, Kummer und Sorgen zu verscheuchen und zu helfen und zu lindern. Und wie sie erst zu den Kindern wäre! Wenn die armen Frauen ins Tagelohn gingen und ihre Kranken und Kleinen allein daheim lassen müßten, wäre das Schloßfräulein bald überall und sähe nach dem Rechten. Es verginge wohl kein Tag, daß sie nicht einen ganzen Tropp mutterverlassener Kinder bei sich im Schlosse hätte. Der Herr Baron aber, ihr Vater, ließe sie in allen Stücken ruhig gewähren, denn er wäre selbst auch nicht anders wie sein Töchterchen und in allen Stücken das gerade Gegenteil vom Grafen von Hilgenthal.

Die Lottewase nickte immer lebhafter dazu und fiel ein: »Siehste, Mädchen, just alles das hat mir heute auch der Kutscher gesagt, den ich mal so 'n bißchen aushorchte. Gar keinen Begriff machten wir uns davon, was die alles für die armen Leute täten. Na, sie könnten's aber auch, denn sie wären so reich, daß sie gar nicht wüßten, wie reich. Und dann nur das einzige Kind! Und wir haben doch auch nur den einen Jungen!« Sie kicherte und fuhr fort: »Wie es nun mal so ist: Je reicher die Leute, desto ärmer an Kindern. Als wenn Gott ihnen dadurch so recht sagen wollte: Eure andern Kinder sind dort in den Hütten.« 138

Hei, ließ nun aber die Lindenhüttenmutter die Kaffeemühle knarren! Denn natürlich sollte die Lottewase nun ein ordentliches Scherben Kaffee mittrinken. Sie hätt's auch gar zu gern getan, denn ein gutes Scherben Kaffee verschmähte sie so leicht nicht; da aber die Uhr an der Wand schon auf neun wies, so bekam sie's mit der Angst, daß ohne sie die ganze Feier im Schlosse ins Stocken kommen könne. Da war sie nicht mehr zu halten, schnupperte aber doch, eh' sie ging, noch mit großer Wehmut nach dem aus der Kaffeemühle duftenden Labsal.

»Gute Nacht, Lottewase und seid auch vielmals bedankt!« riefen die Lindenhüttenkinder, während die Frauen sie mit aufrichtigem Bedauern hinausgeleiteten.

Der Sturm hatte sich gelegt, aber den Schnee so hoch gegen die Haustür gehäuft, daß die Lindenhüttenmutter recht tüchtig mit dem Besen arbeiten mußte.

»Das laß nur, der Schnee wärmt, und ich werde schon durchkommen!« wehrte lachend die Alte und stampfte mit hochgehobenen Beinen davon.

Die Lindenhüttenfrauen sahen ihr noch lächelnd nach, und es flogen ihnen feine Schneestäubchen ins Gesicht. Da hörten sie in der 139 plötzlichen und darum so wundersam eigenen Schneenachtstille ein feines, fernes Tönen.

Die Frauen standen eine Weile wie in Andacht, mit angehaltenem Atem lauschend.

»Wüßte man nicht, daß es die Musik im Schlosse wäre,« sagte Friedesinchen, »möchte ich wahrhaftig glauben, die Tür im Himmel stände ein wenig offen und wir hörten die Engel spielen.«

Frau Lore nickte. »Ach, die vornehmen Leute haben ja auch gegen unsereinen den wahren Himmel auf Erden.«

»Nur daß in dem Himmel nicht lauter Engel sind!« sagte Friedesinchen scharf.

Sie wollten sich eben zur Tür zurückwenden, als Lindemann mit Fritz Bonder den Berg herauf kam. 140


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