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Vier Schwadronen des Dragonerregiments Graf Schmettau waren auf Befehl der Division nach Eydtkuhnen abgerückt, um bei der Abwehr dort eindringender russischer Kavalleriemassen zu helfen, die fünfte allein war mit einer Kompagnie Infanteristen im Heimatbezirk verblieben. Auf verlorenem Posten, denn sie hatte den Befehl, möglichst viel Wesens von sich zu machen, dem Feinde die Anwesenheit einer größeren Truppenmenge vorzutäuschen. Das hieß angreifen, beunruhigen und bei anrückender Übermacht jeden Fußbreit Boden bis auf den letzten Mann verteidigen. Der Zweck lag klar auf der Hand, der deutsche Aufmarsch hinter dem Schutz der Masurischen Seen war noch nicht fertig. Auf Befehl der Obersten Heeresleitung war bis zum Augenblicke der Kriegserklärung jede Maßregel unterblieben, die von der Gegenseite als feindliche Handlung hätte gedeutet werden können. Das war sehr deutsch und ehrlich, aber es kostete Blut …
Die Schwadron lag in dem kleinen Flecken Neuendorf im Alarmquartier. Die Mannschaft schlief in den Kleidern, die Gäule standen gesattelt in den Ställen. Fünfhundert Meter vor dem Dorfe hob die Infanterie mit den wenigen Bewohnern, die noch nicht geflohen waren, Schützengräben aus, spannte Drahtverhaue. Wenn es gut ging, war die Stellung einen Tag zu halten.
Der linke Flügel stützte sich an das unpassierbare Baranner Torfmoor, rechts zog sich wohl eine halbe Meile weit der tiefe Sdrinsnosee. Die Russen hatten Prostken besetzt und sengten in den Grenzdörfern. Für den Morgen war ein starker Vorstoß auf der nach Ordensburg führenden Chaussee zu erwarten. Mit einer Brigade hätte man ihn in dem günstigen Verteidigungsgelände zum Scheitern bringen können, die paar hundert Männerchen aber wurden natürlich von der Masse erdrückt und überrannt …
Auf dem freien Platze vor dem Dorfwirtshause stand der Rittmeister von Foucar mit dem Leutnant Karl von Gorski. Die Nacht war weich und mild, von den im Osten brennenden Dörfern kam ein rötliches Licht herüber, ähnlich einem feurigen Sonnenaufgang. Nur das Licht hatte einen unreinen Schimmer, denn zuweilen mußte es sich seinen Weg durch dichten Qualm bahnen.
Die beiden standen mit dem Gesicht nach Osten. Karl von Gorski deutete mit erhobenem Arm nach den Stellen am Horizont, aus denen das Feuer bis hinauf zum Himmel lohte.
»Das da ist Helmahnen, das Schikorren … da die Försterei Dombrowken … dort Sulimmen, Szipittken … über Groß-Heinrichsdorf scheint es – Gott sei Dank – noch dunkel zu sein.«
Der Rittmeister wandte den Kopf.
»Die Deinigen haben sich doch hoffentlich auch in Sicherheit gebracht?«
»Weiß nicht! Vor dem Ausrücken versuchte ich ein paarmal zu telephonieren, aber die Leitung schien kaputt zu sein, ich bekam keine Antwort.«
»Na, morgen früh kommen wir ja vorbei. Da kannst du nachsehen …«
»Ja! Oder rächen … je nachdem.«
Danach schwiegen die beiden, hingen jeder seinen eigenen Gedanken nach. Endlich sagte der Rittmeister: »Na komm, Kleiner, wollen noch für eine Stunde ins Stroh kriechen! Mit ausgeruhten Knochen reitet sich's leichter.«
Karl von Gorski warf seine Zigarette fort.
»Foucar, willst du mir einen Gefallen tun?«
»Aber natürlich! Was für 'ne Frage!«
»Wenn du meinen Bruder siehst, sag' ihm, ich wäre nicht ganz der Schweinehund gewesen, für den er mich halten wird. Wenn er nämlich erst alles weiß …«
Der Rittmeister lachte gutmütig auf.
»Ich hab' zwar keine Ahnung, was du da wieder einmal ausgefressen hast, aber wenn wir zum Regiment zurückstoßen, kannst du ihm das ja persönlich erklären.«
Der Kleine schüttelte den Kopf.
»Geht nicht, morgen fall' ich!«
»Na na na! Es ist ja nicht gerade eine leichte Felddienstübung, denn die Kerls schießen wieder, aber jede Kugel braucht doch nicht gleich ein Loch zu geben.«
»Ich weiß es, als wenn's mir einer zugeschworen oder angebetet hätte! Und es ist gut so. Leute, die ihre klare Linie haben, sind auf der Welt zu nichts mehr nütze.«
»Entschuldige,« sagte der Rittmeister von Foucar verwundert, »das mit der Linie mußt du mir ein wenig näher auseinandersetzen.«
Karlchen Gorski zuckte mit den Achseln.
»Wenn's dich interessiert? … Bis vor wenigen Tagen war ich ein leidlich braver Kerl und richtete mein bißchen Leben nach anständigen Grundsätzen, wie sich's für einen preußischen Offizier und Edelmann gehört. Das hat mir ein alberner Zufall umgeschmissen, kaputt gemacht. Ich seh' nur noch von außen wie ein Offizier aus, innerlich bin ich ein ausgemachter Schweinehund. Um ein Mädel natürlich, oder vielmehr um zwei. Die eine wie Milch und Blut und sauber … die hab' ich verraten. Die andere ein Racker, der mir eine schimpfliche Zumutung gestellt hat. Ich ging darauf nicht ein, und jetzt tut's mir leid. Es reißt mich zu ihr … Wenn ich nicht noch ein letztes Restchen Scham in mir hätte, würde ich ihr nachjagen auf dem Weg nach Westen … Und darüber komm' ich nicht weg, damit kann ich nicht weiterleben.«
»Unsinn, mein Jungchen,« versuchte der Rittmeister zu trösten, »ein paar Tage Krieg, und du wirst all diese Frauenzimmergeschichten mit anderen Augen ansehen.«
»Ja,« sagte der Kleine hartnäckig, »wahrscheinlich schon morgen. Und zwar von oben. Da werd' ich vielleicht darüber lachen. Jetzt aber – ich kann beim besten Willen nicht schlafen –, würdest du mir wohl die Erlaubnis geben, ein paar Stunden früher abzureiten? Mich treibt die Sorge, und ich möchte schon auf dem Hinwege in Groß-Heinrichsdorf nachsehen …«
»Aber natürlich, reit', wenn's dir paßt! Nur so um sechs herum möchte ich deine Meldung haben …«
Der Rittmeister grüßte kurz, ging in das Haus zurück. Sein Herz trieb ihn, dem Kleinen da für alle Liebe und Treue zu danken seit dem ersten Tage ihrer Freundschaft, aber er bezwang sich gewaltsam, um ihn nicht noch mehr in seinen trüben Ahnungen zu bestärken. Und während er sich zu kurzer Ruhe ausstreckte, sann er über eigenen Sorgen. Torheit war es, zu denken, er selbst käme morgen heil davon. Der Befehl lautete klipp und klar, die Stellung bis zum letzten Mann zu halten. Dieser letzte Mann war ein namenloser Dragoner, der auf dem letzten heilen Gaul die Meldung nach hinten brachte, die paar hundert Männerchen am Neuendorfer Paß hätten ihre Schuldigkeit getan. Die Führer, wie sich's gehörte, in der vordersten Reihe …
Viel unerfüllte Wünsche und Hoffnungen nahm er ins frühe Grab mit, aber dagegen gab es kein Hadern. Das Los teilten mit ihm binnen kurzem Tausende und Tausende, die ebenso wie er sich mit Plänen und Entwürfen trugen. Und er starb ja nicht ganz, in seinem kleinen Sohne lebte ein Teil von ihm fort. Der wuchs auf unter den hütenden Händen seiner Mutter, und sie pflanzte all ihre Adligkeit in sein Herz, so daß er ein echter und aufrechter Edelmann wurde …
An der Stelle des zerstörten erhob sich auf Kalinzinner Boden ein neues festes Haus. Über seinem Turm flog die Fahne mit dem gefiederten Sarazenenpfeil im roten Felde, das Wappen der Foucar von Kerdesac, mit dem sie zeichneten, was ihnen gehörte. Ein altes, im Westen landflüchtig gewordenes Geschlecht wurde wieder bodenständig im Osten. Ein Samenkorn, weit her vom Winde getragen, flog in neue Erde. Schlug Wurzel, wuchs auf und wurde zu einem starken, weit seine Krone reckenden Baum …
*
Der schwere Augustnebel, den die vor Sonnenaufgang einsetzende Morgenkühle aus dem feuchten Waldboden gehoben hatte, war im Fallen, versprach einen klaren und glutheißen Sommertag. Der Leutnant von Gorski ritt mit den Dragonern Heurich, Daberkow, Gawronski und Gemballa auf der breiten Landstraße, die nach Osten führte. Die Gäule traten auf weiche Grasnarbe, der Nebel schluckte jeden Laut.
Der lange Matthias Heurich ritt links von seinem Leutnant, mit dem er in Groß-Heinrichsdorf aufgewachsen war. Seine scharfen Augen bohrten sich in das brauende Nebelgeschwade. Die Rechte hielt den gespannten Karabiner, Kolben auf dem Schenkel. Und endlich faßte er sich ein Herz.
»Härr Leitnant werden gehorsamst entschuldigen, ich möcht' bloß was fragen.«
Karlchen Gorski steckte an dem Rest der alten eine neue Zigarette an. »Na los, Matthias!«
»Nehmlich … also, daß Krieg geben wird, wußten wir alle. Aber wieso fangen die Russen mit uns an? Mit den Mänschen sind wir doch immer ganz gut ausgekommen an der Gränz'. Die Stänkereien haben erst angefangen, wie se die Soldaten hergeschickt haben. Wieso haben se das eigentlich getan?«
Der Leutnant von Gorski lächelte.
»Das kann ich doch nicht wissen, Matthias!«
»Aber Härr Leitnant lesen doch die Zeitungen und so … Und unsereins reit' ganz dammlich los, möcht' doch gärn' wissen, um was …«
»Na, denn werd' ich dir die Parole sagen, mein Sohn: um alles, was wir in diesen vierzig Jahren in Deutschland geschafft haben! Wir sind ihnen zu groß geworden, da wollen sie uns wieder klein machen. Wie hungrige Wölfe sind sie um unser Haus gelaufen, der heiße Geifer rann ihnen die Zunge lang. Aber es scheint fast, der russische Wolf ist zu früh gesprungen. Und deshalb werden wir gewinnen. Auch weil einer, der sein Haus verteidigt, sich doch eher in Stücke hacken läßt, als daß er es aufgibt …«
Der lange Matthias nickte, er hatte verstanden.
»Befehl, Harr Leitnant! … Und nehmlich die Maria Komossa, was meine richtige Braut is, zum Härbst wollten wir uns heiraten. Also wänn da ein Russ', und er möcht' se bloß schief ansehen … na ich danke! In dem Kärl seiner Haut möcht' ich nich stäcken.«
Karlchen Gorski warf seine Zigarette fort, im Herzen hatte es ihm einen fliegenden Stich gegeben. Der Lange da neben ihm wußte, wofür er ritt, er aber hing an einer, an die in dieser Stunde zu denken eigentlich blanker Verrat war …
Die Patrouille hielt am Berghang unter hohen Kiefern, im Tale hob sich der Turm des Groß-Heinrichsdorfer Schlosses aus den brauenden Nebelschwaden. Verworrenes Geräusch drang in die Höhe, dazwischen ein gellender Schrei aus Weiberkehle, danach Knattern von Schüssen.
Der Führer wandte sich im Sattel.
»Daberkow!«
»Herr Leutnant?«
»Sie bleiben hier halten! Wenn von uns keiner zurückkommt, melden Sie dem Herrn Rittmeister, die Patrouille wär' in Groß-Heinrichsdorf auf russischen Vortrupp gestoßen.«
Der Berliner, der noch vor kurzem ein englischer Reitknecht gewesen war, wollte remonstrieren mit allem schuldigen Respekt.
»Herr Leutnant, ick soll hier ruhig zusehen, wenn Sie sich da unten mit die Russen …?«
»Maul halten, in drei Deuwels Namen! Wenn Sie Ihre Vaterstadt Pankow verteidigen, werden wir Sie auch zuerst 'ranlassen.«
Karlchen Gorski mußte der alten Falada scharf die Sporen geben. Die drei anderen Groß-Heinrichsdorfer Jungen waren schon, ohne Befehl, weit vorausgeritten.
Mitten in dem Viereck des Hofes stand ein langer Leiterwagen, besetzt mit Frauen und Kindern. Zwei Russen hingen den sich bäumenden Vorderpferden im Zügel. Der Herrschaftskutscher Gottlieb drosch auf die beiden Hintergäule ein. Der alte Herr in weißem Staubmantel lag über einem abgeschossenen Jagdgewehr in einer großen Blutlache. Die jüngste Gorski wand sich in den Armen eines baumlangen Kerls, dem unter einer Hasenscharte die weißen Zähne bleckten. Die Maria Komossa aber hatte ihren Russen untergekriegt, kniete auf seiner Brust und hämmerte mit ihrer derben Faust ihm auf Nase und Mund … Das sah der Leutnant Gorski wie in einem Traum. Der lange Matthias stieß neben dem Gesicht seines Mädels dem Russen die Lanze durch den Hals, der Gawronski und Gemballa waren aus dem Sattel gesprungen, schossen die aus den Ställen und Insthäusern herbeieilenden Kosaken ab wie Hasen beim Treiben. Karlchen Gorski aber hob die Parabellum mit der unfehlbaren Hand. Zuerst fiel der Kerl mit der Hasenscharte, der sein Schwesterchen schleppte … Schuß durch den Hinterkopf. Die Kleine hatte einen großen Blutfleck auf der weißen Bluse, schrie zwischen Lachen und Weinen: »Karlchen, Gott sei Dank, Karlchen …« und hastete nach dem Wagen. Zweimal noch hob sich die Hand, die Vorderpferde wurden frei, der Kutscher hieb ein, und der Wagen rasselte vom Hofe.
»Hurra!« wollte der Leutnant von Gorski schreien, aber vor seinen Augen stand ein schwarzes kleines Loch, und aus dem winzigen Kreis fuhr Feuer und Schlag. Die alte Falada stieg auf der Hinterhand, ihr Reiter glitt aus dem Sattel. Der Kopf, der sich in diesen letzten Tagen mit soviel zwiespältigen Gedanken getragen hatte, war ein zerschmettertes Stückchen Fleisch, Hirn und Knochen …
Der Wagen jagte die Anhöhe hinauf. Die verwundeten Dragoner Heurich und Gawronski deckten feuernd den Abzug. Der Gemballa lag dicht neben seinem gefallenen Leutnant. Das Gesicht nach unten.
Im Osten hob sich die Sonne ruhig wie sonst hinter dem blauen Waldsaum und schickte ihre Strahlen über das brennende Land. Die fünfte Schwadron hielt in Linie auf der grünen Dorfstraße. Der Dragoner Heurich kam mit verhängtem Zügel angejagt, aus seinem linken Ärmel floß Blut. Auf drei Schritte parierte er den Gaul.
»Mälldung von Patrouille Leitnant von Gorski! Groß-Heinrichsdorf voll von Russen, mindestens eine Schwadron. Auch Artill'rie rückt an vom Bärg. Dragoner Gemballa, Herr Leitnant Karlchen …«
Der Lange bekam das Stottern, weil er den Jugendgespielen bei einer dienstlichen Meldung genannt hatte wie sonst. Und er verbesserte sich: »Beide gefallen, Herr Leitnant von Gorski Kopfschuß …«
Der Rittmeister von Foucar nahm bekümmerten Herzens den Helm ab zu einem kurzen Gebet. Als er ihn wieder aufstülpte, sah er, daß die Kerls in der Front an verhaltenen Tränen schluckten. Da wurde es ihm leicht und hell in der Brust, das bißchen salzige Wasser war mehr wert als ein Denkmal aus Eisen und Stein. Er zog den Säbel, seine Stimme klang klar:
»Stillgesessen! Vizewachtmeister Reichert übernimmt den zweiten Zug für den gefallenen Herrn Leutnant von Gorski! Und nun vorwärts in Gottes Namen! Leutnant Uhlenburg die Spitze. Der erste Zug in Sektionskolonne anreiten.«
Die Schwadron schwenkte rechts zum Dorfe hinaus, um mit ungestümem Angriff aus dem Hinterhalt den anrückenden Feind in der Flanke zu fassen. Weit voran, hinter dem Kirchturm des Dorfes Baitkowen, blitzten Feuerstrahlen auf. Die ersten Granaten schlugen in deutsche Erde. Die Infanteristen in dem wohlverdeckten Schützengraben aber lachten bloß. Das war unnützes Geknalle. Der Tanz ging erst los, wenn die dicke graue Raupe da vorne, die sich langsam auf der Chaussee vorwärts schob, in die wirksame Feuerzone kam. Fünfhundert Meter, Standvisier. Dann sollten wohl manche, die da angerückt kamen, die Heimkehr vergessen – – – – – –
*