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Es ging gegen Abend. Die hohen Kiefern an dem breiten durch die Beldahner Forst zur Grenze führenden Landwege warfen lange Schatten. Der kühle Westwind, der tagsüber die durstige Erde mit böigen Regenschauern getränkt hatte, war schlafen gegangen. Schier zahllose Mückenschwärme badeten, auf und nieder tauchend, in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die zwischen den grauroten, weitläufig stehenden Stämmen die dunklen Wacholderbüsche mit goldenem Glanz umkleideten. Ein feines Klingen und Singen war in der stillen Luft von den Millionen kleiner Flügel, die sich in kurzer Daseinsfreude regten. Graue Schatten huschten dazwischen mit lautlosem Strich; Nachtschwalben, die sich früher als sonst aufgemacht hatten, um den reichen Beutesegen einzuheimsen, den der plötzliche Wetterumschlag bot. Sie flogen mit weit geöffnetem, sackartigem Schnabel und schluckten ohne Unterlaß für die im Neste schreiende Brut. Über ihnen aber kreiste in engen Ringen ein Gabelweih, um im günstigen Augenblick wie ein Stein aus der Höhe zu fallen. Und wenn es ein Treffer war, gab es ein kurzes Angstgeschrei, Federn stiebten umher, den kleinen Mörder schlug der große. Auch auf ihn wartete die hungrige Brut im Horste, die geatzt werden mußte, solange sie selbst noch nicht die Schwingen regen konnte, um auf Raub auszuziehen. Was lag daran, wenn die Jungen der Erschlagenen im Tannendickicht verschmachteten? Das war ein Gesetz, so alt wie die Welt, daß der Starke den Schwachen fraß und recht hatte, weil er der Starke war …
Auf dem breiten Nasenstreifen zwischen den tief ausgemahlenen, sandigen Gleisen trabte Karl von Gorski auf seiner alten Falada. Sein sehniger Körper hob und senkte sich unter den stuckernden Stößen des Sattels. Die Stute, die kein Lot überflüssigen Fettes auf den durchgearbeiteten Muskeln trug, schnaubte heftig, weil ihr das zudringliche Volk der Mücken unausgesetzt in die Nüstern flog. Und wie die blutgierigen kleinen Insekten das Roß, stachen den Reiter die bösen Gedanken …
Er kam von Groß-Heinrichsdorf. In drei Wochen eines übermäßigen Dienstbetriebes, der ihn vom frühen Morgen bis zum sinkenden Abend in Atem hielt, hatte er zum ersten Male einen freien Nachmittag gefunden, sich nach den Eltern und Geschwistern umzusehen. Er war kaum eine Stunde geblieben, der Jammer trieb ihn wieder hinaus …
Im Herrenzimmer unterhandelte sein Bruder Hans, der bis zur Erledigung des Abschiedsgesuches Urlaub genommen hatte, mit dem Gläubigerausschusse, drei hartgesottenen Geldmenschen, die von ihren jedes billige Maß überschreitenden Forderungen nicht einen Fingerbreit nachließen. Der Vater war vor Verzweiflung in den Park hinausgelaufen, in der Wohnstube saßen das dicke, kleine Mütterchen und die sechs Schwestern, wie ein Völkchen Rebhühner im Hagelsturm. Jedesmal, wenn im Zimmer nebenan die Stimmen lauter wurden, rückten sie näher zusammen und duckten sich …
Als er eintrat, hoben sie alle sieben die verweinten Gesichter. Die Mutter sagte mit ihrem kläglichen, dünnen Stimmchen: »Achttausend Mark wollen sie jährlich geben, freie Wohnung im Schloß und ein bißchen Ausgedinge an Naturalien. Zum Verhungern zuviel, zum Leben zuwenig.«
Er küßte ihr die rundlich kleine Hand, die außer dem schmalen Trauring schon längst mehr keinen Schmuck trug, und versuchte sie mit einem Scherzchen aufzuheitern:
»Na, um mich braucht ihr nicht zu sorgen, Muttchen. Ich nehm' mir ein Ferkelchen mit, mäst' es auf meinem Balkon schön fett, und wenn es groß ist …« Er mußte aufhören, denn der bittere Tränenkloß stieg ihm im Halse empor.
Die Mutter schien ihn jetzt erst richtig zu erkennen.
»Ach so, du, Karl? Armer Junge, was wirst du dich einschränken müssen! Papa hat schon ausgerechnet, mehr als fünfzig Mark monatlich kann er dir nicht geben.«
Da schluchzte er laut auf und umfaßte sie:
»Herrgott, Muttchen, was liegt denn schon an mir! Aber du, die Mädels und der arme Papa …«
Die alte Dame strich ihm sanft über den kurzgeschorenen Kopf.
»Ich weiß nicht, mein Söhnchen, manchmal kommt es mir vor, er wird erst jetzt wieder aufleben. Er hatte zuviel Sorgen um unnütze Dinge, die von nun an fortfallen. Jetzt weiß ja alle Welt, wie es um uns steht, wir brauchen keinem Menschen mehr Sand in die Augen zu streuen, und die Mädels sind vernünftig, geben sich schon längst keinen Illusionen hin …«
Die jüngste der sechs Schwestern, Adelgunde, sprang auf. Die älteste, Berta, eilte ihr nach. Die Mutter blickte mit trübem Lächeln empor.
»Ach so, an die Kleine hatte ich eben nicht gedacht, die ist noch im Übergang. Da ist nämlich in Ordensburg der Infanterieleutnant Schlutius …«
»Ich kenne ihn sehr gut, Muttchen. Ein famoser und ernsthafter Mensch, der sicher mal Karriere macht.«
»Na siehst du, und der war vor einigen Tagen hier, sprach sich offen mit Papa aus. Für sich allein hat er genug, aber wenn er heiraten soll, braucht er monatlich etwa hundertfünfzig Mark mehr bei allergenauester Einteilung. Kannst dir denken, wie Papa sich da mit Ausreden gewunden hat. Die Summe an und für sich würde natürlich keine Rolle spielen, hat er stolz gesagt, aber er müßte doch Bedenken tragen, mit einer alten Familientradition zu brechen! Noch nie hätte eine Gorski einen Bürgerlichen geheiratet …«
Er biß die Zähne zusammen und ging zum Fenster. Das eigene Leid kam ihm plötzlich recht klein vor. Er war ein Mann, konnte schließlich den Soldatenberuf an den Nagel hängen und mit seinem hellen Kopfe Geld verdienen, wenn er ohne Ilse Harbrecht nicht leben konnte. Aber das arme Schwesterchen stand hilflos da und mußte auf sein bißchen kümmerliches Glück verzichten, weil … na im letzten Grunde, weil der hochselige Herr Großvater ihr Kommißvermögen vielleicht in einer einzigen Nacht verjubelt hatte mit Pariser Kokotten oder am Kartentische. Zum Verrücktwerden war das, wenn man ein wenig nachdachte … Und man selbst stand da mit geballten Fäusten, konnte nicht helfen … Die verschlumpelte alte Schachtel von Großtante in Königsberg futterte Kirschkuchen und dachte nicht ans Sterben. War zu nichts mehr nütze auf der Welt, aber der liebe Gott holte sie nicht weg, sonst, wahrhaftig und auf sein Ehrenwort, er, Karl von Gorski, hätte ohne Wimperzücken den größten Teil seines Erbteils hingegeben, um dem kleinen Schwesterchen zu helfen …
Der ältere Bruder Hans kam aus dem Nebenzimmer und wischte sich die Stirn. Seine Stimme klang heiser nach dem stundenlangen Reden:
»Na, Gott sei Dank, tausend Mark pro Jahr mehr habe ich der Rasselbande abgequetscht, dazu noch freies Fuhrwerk und ein Plus an Naturalien. Die Hauptsache aber: für mich eine Inspektorstelle mit hundert Mark monatlich und freier Station für zwei Personen. Da wollten sie zuerst gar nicht ran, aber wie ich sie anbrüllte, sonst ginge der ganze Vergleich zum Deuwel, begaben sie sich. Jetzt dürfen wir wenigstens hoffen, daß in acht Jahren Groß-Heinrichsdorf wieder schuldenfrei ist. Ich werd' natürlich aufpassen wie ein Schießhund, daß auch nicht ein Pfennig nebenbei geht … aber jetzt springt eins von euch Mädeln in den Park, Papa soll zum Unterschreiben kommen!«
Eine von den Schwestern eilte hinaus. Karl von Gorski trat auf den Bruder zu.
»Hans, Junge, sei nicht böse, ich hatte ja keine Ahnung, wie es wirklich steht …«
Der Ältere zuckte mit den Achseln.
»Das stimmt zwar nicht, denn wir hatten schon mal darüber gesprochen, und bei allem Dienst hättest du wohl Zeit für ein Telephongespräch finden können … na schön, solange ich auf dem Posten bin, geht dich die ganze Geschichte ja auch nichts an …«
Er biß sich auf die Lippen, der Vorwurf war bitter, aber nicht unberechtigt. Die ganzen Wochen hatte er in sträflichem Egoismus nur die eigenen Kümmernisse bejammert. Unwillkürlich bekam er Respekt vor dem älteren Bruder, auf den er in geistigem Hochmut bisher immer ein wenig hinabgesehen hatte. Der stille Mensch hatte ohne viel Redens sich in diesen schweren Zeiten als ein ganzer Kerl gezeigt. Und acht lange Jahre lagen vor ihm, in denen er zu arbeiten und zu schanzen hatte bei kümmerlichem Lohn wie ein Knecht, bis er endlich wieder an sich selbst denken konnte. Dann aber war das beste Teil vom Leben dahin …
Das alte Papachen kam ins Zimmer, geführt von der Tochter. Ganz verstört und gebrochen war das kleine, liebe Männchen, seufzte auf und begab sich zu dem Akt des Unterschreibens vor dem Notar und der Gläubigerkommission wie zu einer Hinrichtung. Eine Viertelstunde später saß die ganze Familie in der großen Wohnstube beisammen. Das dicke Mütterchen mit einem kurzgeschriebenen Bleistift zwischen den rundlichen Fingern und einem Blatt Papier auf dem Tisch. Sie rechnete eifrig, wie man sich bei den vielen Köpfen mit dem geringen Ausgedinge einteilen müßte, immer mit der heimlichen Hoffnung im Herzen, daß zum Schluß die hundertfünfzig Mark monatlich für das Nesthäkchen irgendwie herausspringen würden …
Karl von Gorski fühlte wieder die Tränen in der Kehle, winkte dem Bruder und ging still hinaus. Auf der Freitreppe, während ein Reitknecht die alte Falada vorführte, griff er in die Brusttasche:
»Da, Hänschen, sind viertausend Mark. Heb' sie gut auf, ihr werdet sie brauchen können.«
Der Ältere blickte verwundert auf.
»Mensch, wo hast du das viele Geld her?«
»In ehrlichem Spiel einem Kerl abgejagt, der sich seit einiger Zeit in Ordensburg herumtreibt. Jede Nacht hält er in der Gruberschen Kneipe im Hinterzimmer die Bank; ich gedachte, den Pfeffersack so zu erleichtern, daß sich's wirklich verlohnt hätte. In Erinnerung an die glorreichen Zeiten, da unsere raubritterlichen Vorfahren an der Landstraße von Königsberg nach Breslau ähnlichen Geschäften nachgingen, nur in weniger humanem Verfahren. Aber seit einigen Tagen fleckt's nicht mehr. Gestern nacht hab' ich sogar erheblich Minus gemacht. Und ehe es in einer unbesonnenen Stunde ganz fortgeht …«
Hans von Gorski wehrte ab.
»Nee, nee, behalt's nur! Füll' damit deine Zulage auf, die von jetzt an ja kümmerlich genug sein wird!«
Der Kleine sah sich um und dämpfte unwillkürlich die Stimme:
»Mein Junge, ich fürchte sehr, in kurzer Zeit wird das deutsche Vaterland für mich so reichlich sorgen, daß ich keine Zulage mehr brauche. Kriegslöhnung wird's geben und infolgedessen Fettlebe, zum Schluß ein Schrapnell in'n Leib. Das ist dann die sicherste Versorgung.«
»Donnerwetter noch mal, Karlchen, die Zeit ist – weiß Gott – nicht zu Scherzen angetan! Habt ihr in den letzten Tagen was Bestimmtes erfahren?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Onkel Wegener, der in Berlin doch so manches hört, hat unserem Vetter Foucar geschrieben, seit Tagen fliegen schon die Depeschen zwischen Berlin, London und Petersburg, aber kein Mensch glaubt mehr daran, daß es was helfen wird. Das Geschwür ist am Aufplatzen, mit kalten Umschlägen ist da nichts mehr zu machen.« Und er schloß ärgerlich: »Na und jetzt nimmst du vielleicht endlich den Bettel da! Wenn ihr Hals über Kopf flüchten müßt, sollen die Fräuleins von Gorski da am End' mit 'nem Paartopp an 'ner Volksküche um ein bißchen Essen betteln gehen?«
Der Ältere steckte das Geld mit einer widerwilligen Bewegung ein.
»Also gut, wenn wir's nicht brauchen, kriegst du's wieder zurück! Aber – ich kann mir nicht helfen – seit ich hier in der Einsamkeit sitze und vor lauter Arbeit für die Zeitungen auch nicht 'ne Minute übrig habe, glaube ich nicht an den Krieg! Da sieh um dich: die liebe Muttererde, soweit der Himmel reicht, steht in schwerem Erntesegen! Da sollen wir den Feuerbrand reinschmeißen, bloß weil es im Balkan unten wieder eine Stänkerei gegeben hat?« …
Karlchen Gorski zuckte mit den Achseln.
»Wir nicht, aber die anderen! Die halten ihren Augenblick, in dem sie uns für alle Zeiten kaputtmachen können, wohl gekommen. Na und jetzt Gott befohlen, wenn ich was Neues weiß, ruf' ich dich an …«
Er stieg auf, der Bruder ging bis zum Hoftor neben ihm her. Nach einigen Schritten erst fragte er zögernd: »Von Harbrechts, hast du da in diesen Wochen mal wen gesehen?«
»Nur den Alten, beim Exerzieren. Es war nicht immer erfreulich, denn manchmal ermangelte ich der nötigen Schneidigkeit. Wenn ich nämlich von der Kneipe direkt zum Dienst gegangen war …«
»Karlchen, Karlchen,« sagte er vorwurfsvoll, »was wird aus dem Examen für die Akademie?«
»Das – schätze ich – mach' ich im Krieg! Eine der Voraussetzungen, unter denen ich mich entschloß, die Nase in die Bücher zu stecken, ist mangelnden Zuschusses wegen ja auch fortgefallen …«
»Armer Kerl! Na tröst' dich mit mir – es geht anderen Leuten ähnlich. Aber eine Erleichterung hatte ich wenigstens in diesen Tagen. Vor drei Wochen, nach dem Regimentsfest, erzählte ich dir doch von der kleinen Petrigkeit?«
»Ich besinn' mich! Na und?«
Der Ältere suchte ein wenig nach Worten.
»Also … ja die Geschichte hatte sich inzwischen weiterentwickelt, es fanden schon – wie soll ich sagen – gewisse finanzielle Verhandlungen statt. Mir war dabei zumute wie … na wie einem, der sich aufhängen will, vorher aber noch rasch für die Seinigen 'ne Lebensversicherung nimmt. Gott sei Dank, die Sache ging noch mal glücklich vorüber. Anfang dieser Woche war der alte Petrigkeit da, sah sich noch mal alles an, und dann winkte er deutlich ab. Seine Tochter hat sich vielleicht inzwischen in einen anderen adligen Namen verliebt, bei dem das Risiko für die Mitgift nicht so groß ist.«
Karlchen Gorski lachte.
»Mensch, sei froh, ich hatte immer Alpdrücken, wenn ich an die zukünftigen Majoratsherren von Groß-Heinrichsdorf aus der Verbindung dachte! Zu unseren großen Ohren und dito Nasen hätten sie von der geborenen Petrigkeit wahrscheinlich noch X-Beene geerbt. Ich habe die quabbelige kleine Kruke in dieser Hinsicht nämlich stark im Verdacht, weil ich sie noch nie im fußfreien Röckchen gesehen habe. Na adieu, Hänschen …«
»Einen Augenblick noch! Das heißt, nämlich« – er stotterte unwillkürlich – »wenn … ja also, wenn du Ilse Harbrecht sehen solltest, zufällig, bestell' einen schönen Gruß von mir, ich würde jetzt wohl öfter in die Stadt kommen. Und – immer natürlich nur, wenn es dir paßt – horch' sie ein bißchen über mich aus! Es ist ja verflucht wenig, was ich ihr bieten kann, vorläufig, aber ich hab' die Überzeugung, das Mädel fragt danach nicht, und in acht Jahren, wenn alles gut geht, gibt es ja auch wieder ein anderes Leben …«
Die alte Falada sprang plötzlich wie eine Verrückte an, sei es, daß sie von einer Bremse gestochen oder von ihrem Reiter versehentlich mit dem Sporn gekitzelt worden war. Die beiden Brüder hatten keine Gelegenheit, sich zum Abschied noch mal die Hand zu reichen …
Karlchen Gorski gab seiner Stute eine Weile lang den Kopf frei; wie ein Verbrecher kam er sich vor, daß er auch diesmal einer Aussprache aus dem Wege gegangen war. Und dazu noch gelogen hatte, als er sagte, er habe von der Familie Harbrecht nur den Vater gesehen. Fast alle Tage hatte er die Ilse getroffen, und ein paarmal hatten sie Gelegenheit zu kurzer Zwiesprache ohne lästige Zeugen gefunden. Jedesmal hatte er sagen wollen: »Mädelchen, liebes, es ist an und für sich schon eine Torheit, daß du dein Herz an mich gehängt hast, jetzt, wo ich dich auf eine unbestimmte Hoffnung vertrösten muß, ist es ein Verbrechen an dir selbst.« Aber immer war aus dem geplanten Abschied ein neuer Treuschwur für ewige Zeiten geworden. Wie, zum Teufel, sollte er das dem armen Kerl beibringen, nachdem er damals, auf dem Heimwege vom Schwadronsfeste, die Gelegenheit hatte vorübergehen lassen? Und wie sollte er's ihm erklären, daß er an jenem Abend geschwiegen hatte? Das Herz hing ihm vor Trauer und Scham wie ein dicker Stein in der Brust. Er wußte, das gab den Bruch zwischen ihm und dem Bruder, den unheilbaren Bruch fürs ganze Leben, aber er sah aus der Wirrsal keinen Ausweg. Sich zu Hause hinsetzen und einen langen Brief verfassen? … Unsinn, der schaffte die eine Frage nicht aus der Welt: »Weshalb hast du nicht schon vor drei Wochen die Zähne auseinandergebracht? Hast mich drei lange Wochen mit der Hoffnung im Herzen herumgehen lassen, die mir das kümmerliche bißchen Leben in Fron und Arbeit erträglich scheinen ließ, und gibst mir jetzt erst den Fangstoß? Bitte, beweis' mir doch, daß du mit dem jungen Mädchen schon vorher verlobt warst?«
»Mein Ehrenwort!«
»Ah bah, bei Frauenzimmerangelegenheiten sind Ehrenwörter für die Katz'!« …
Was sollte er darauf antworten? Es blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und die Dinge laufen zu lassen, wie sie liefen. Vielleicht war der fürchterliche Tag, an dem jedes Einzelschicksal auf dieser Welt zu einer winzigen Unbeträchtlichkeit zusammenschrumpfte, näher, als selbst die sogenannten Wissenden ahnten. Wenn das große Feuer von Osten über die Felder raste, was lag dann noch daran, daß zwei Brüder ein und dasselbe Mädel liebten? So gleichgültig war es, als ob Spreukörner in den Straßengraben getrieben wurden oder aufs Trockene. Und alles Weh und Leid hatte ein Ende, wenn nach dem Feuer die große Nacht kam …
Auf der Höhe am Waldrande blieb die alte Falada von selbst stehen. Aus langer Gewöhnung wußte sie, daß ihr Reiter dort immer kurze Rast hielt, ehe es weiterging. Auch diesmal wandte er sich im Sattel, aber es dauerte länger als sonst, bis er die Zügel wieder aufnahm …
Da unten lagen sauber wie auf einer buntgetuschten Landkarte die Felder. Die schnittreifen Roggenschläge in goldig schimmerndem Gelb, dunkelgrün die Kartoffeln mit üppig wucherndem Kraut, mit hellerem Farbenton die vor kurzem erst gemähten Wiesen. Ein schmales, vielfach geschlängeltes blaues Band zog sich zwischen ihnen hin, umsäumt von kugeligen Weidenbüschen. Inmitten eines geräumigen Parkes aus alten Eichen und Tannen erhob sich das Schloß. Ein riesenhafter Bau aus Stein in der Form einer mittelalterlichen Burg, den der verschwenderische Großvater an der Stelle des alten, festen Hauses hatte errichten lassen. Aber nur einer der geplanten Türme mit Schießscharten und gezackter Mauerkrone auf der Zinne war fertig geworden, die anderen ragten wie abgebrochene Stümpfe nur wenig über dem flachen Dache empor. Das Baugeld hatte nicht mehr gereicht, und man hatte sich damit begnügt, sie mit festem Bretterwerk zu verkleiden … Und zum ersten Male sah Karl von Gorski, daß von den hochragenden Mauern an gar vielen Stellen der Putz abgefallen war, wie ein Bettler in verschlissenem, stolzem Mantel stand der alte Steinkasten da. Wo die rote Ziegelmauer bloßlag, klafften die Löcher …
Die Augen wurden ihm dunkel vor aufsteigenden Tränen, er nahm Abschied und ließ die getreue Alte mit leichtem Schenkeldruck wieder antraben. Es gab keinen Zweifel, der Krieg kam mit unabwendbarem Schritt. Unter seinem bergschweren Fuß barsten dort die Mauern, die erntereifen Ähren trat er in die Erde, aus der sie geboren waren, und lohendes Feuer folgte seiner Bahn … Der Wahnsinn der Vernichtung flog über die Welt mit sengendem Atem. Was lag schon daran, wenn unter dem wimmelnden Menschengewürm die einen sich mit Liebe trugen, die anderen mit Haß, etliche mit Gram, wieder andere mit frohlockender Freude? Wenn die große Nacht kam, war alles aus – –
An einer Biegung der breiten Landstraße, der er ein Ende weit folgen mußte, um den zum Städtchen führenden Richtweg zu erreichen, begegnete er einer Kavalkade von drei Damen, gefolgt von einem Reitknechte. Er war so in seine trüben Gedanken versponnen, daß er erst aufblickte, als die Gäule fast schon Kopf an Kopf standen. Eine helle Stimme rief ihn an:
»Heda, Herr von Gorski, reiten Sie uns um Himmels willen bloß nicht über!«
Da gab es kein Ausweichen mehr, obwohl er innerlich die Begegnung zu allen Teufeln wünschte. Es war ihm, weiß Gott, nicht danach zumute, seichte Konversation zu machen …
Frau von Döhlau stellte lachend vor: »Der Besuch, den ich Ihnen vor einiger Zeit versprochen habe! Frau Baronin von Nadanyi aus Paris, meine beste Freundin – hoffentlich bestätigen Sie mir, daß ich Ihnen damals nicht zuviel erzählt habe –, und hier meine Kusine Françoise. Ihre ältere Schwester Geneviève mußte auf die Reise verzichten, weil sie sich inzwischen verlobt hat. Ich hatte Sie so lebhaft in meinem Einladungsbriefe geschildert, daß der Bräutigam eifersüchtig wurde.«
Karl von Gorski verneigte sich leicht im Sattel, die Hand am Mützenschirm.
»Schade, meine Gnädigste! Immerhin bin ich freudig bewegt, denn die Musterkollektion, die Sie mir in so liebenswürdiger Weise vorzuführen geruhen, ist ja auch so noch verlockend genug …«
So frech hätte er mit Damen aus dem heimischen Kreise nie gesprochen, aber die kleine Landratsfrau hätte ja auch nicht nötig gehabt, ihn in ironischer Art zu verspotten. Und ebenso ungeniert musterte er die ihm gegenüber haltenden Reiterinnen. Die ältere von beiden, auf einem prachtvollen Dunkelfuchs echt englischer Abstammung, war eine pompöse, schon zur Reife neigende Frauenerscheinung. Das schwarze Reitkleid umspannte eine üppige und doch schlanke Figur; in einem geradezu klassisch geschnittenen Gesicht standen ein Paar gebietende und wissende Augen. Die Jüngere nahm sich auf dem hochbeinigen Trakehner Braunen wie ein Gassenjunge in Damenkleidern aus. Frech ragte eine kleine Stumpfnase über einem lustigen Mund in die Luft. Darüber ein Paar spöttische, scharfblickende Augen. Sie schnitt eine bewundernde Grimasse und verneigte sich übertrieben mit gesenkter Peitsche.
»Und Sie, Herr Leutnant … meine Kusine Marion hatte ihre Feder zwar schon in flammende Begeisterung getunkt, aber ich finde, sie hat uns doch nur einen schwachen Abglanz der Wirklichkeit vermittelt.«
Da lachte er kurz auf; das kleine Abenteuer fing an, ihn zu interessieren.
»Na schön, nachdem wir das ungeahnte Glück gehabt haben, uns á trois auf Anhieb ineinander zu verlieben, wollen wir hoffen, daß es bei näherer Bekanntschaft keine Enttäuschung gibt! Jetzt aber möchte ich die Damen doch darauf aufmerksam machen, daß es stark gegen Abend geht und wir drei Kilometer höchstens von der russischen Grenze reiten. Da treibt sich zuweilen um diese Zeit allerhand verdächtiges Gesindel umher …«
Die Dame auf dem Dunkelfuchs lachte kurz auf. Es war ein seltsam wohlklingendes Lachen, als wenn eine tief gestimmte Glocke angeschlagen wurde.
»Es ist nicht so gefährlich, Herr von Gorski! Wir waren sogar in Rußland drüben, ohne daß man uns gefressen hat. Am Schlagbaum traf ich einen alten Bekannten aus Paris und Petersburg, der sogar von Vatersseite her ein bissel mit mir verwandt ist, den Grafen Adlerberg. Er lud uns auf ein Glas Sekt in das sogenannte Kasino. Sie sehen, wir befinden uns trotzdem leidlich wohlbehalten wieder auf preußischem Gebiet.«
In Karlchens Seele stieg ein Argwohn auf, aber er verneigte sich mit verbindlichem Lächeln.
»Hatte ich nicht anders erwartet, denn – bis zum Beweis des Gegenteils – nehme ich an, daß auch unsere Gegner im Osten sich an die Gesetze der sogenannten Genfer Konvention halten: »Hervorragend schöne Gegenstände, die einen besonderen Wert besitzen, sind zu schonen? Aber Ihre ausländischen Bekanntschaften machen mich neugierig. Wenn ich also fragen darf, meine Gnädigste, was ist Ihr Ursprungsland?«
Die Dame auf dem Dunkelfuchs lachte wieder:
»Ich hab' mich so allerhand umhergetrieben. Mein Vater war ein russischer Prinz, meine Mutter eine Österreicherin, ich selbst bin Kosmopolitin. Mit einer starken Neigung für Paris, aber ich habe beschlossen, von jetzt an alle Jahr im Sommer einige Wochen in der Nähe meiner Freundin Marion zu verbringen. Heute vormittag habe ich – wie heißt doch das Rittergut …?«
»Orlowen!«
»Ganz recht, heute vormittag habe ich das Rittergut Orlowen gekauft.«
Karl von Gorski fuhr vor Überraschung im Sattel herum: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, ich glaube nicht recht gehört zu haben! Sie haben heute vormittag Orlowen …?«
Frau von Nadanyi lächelte.
»Ist denn das so verwunderlich? Das Gut wurde mir durch einen Vermittler angeboten, und weil es mir gefiel, hab' ich's halt gekauft. Das alte Schloß liegt reizend, und ob ich nach dem Grand Prix in der Nähe von Paris aufs Laud geh' oder hierher, ist mir gleich. Hier hab' ich wenigstens eine liebe Freundin, zu der ich mich herzlich hingezogen fühle …«
»Ja, natürlich«, erwiderte er, scheinbar überzeugt, und musterte noch einmal mit einem raschen Seitenblick die neben ihm reitende schöne Frau. Gab es denn überhaupt Menschen auf der Welt, die so reich waren, daß sie zur Befriedigung einer augenblicklichen Laune drei Millionen opfern konnten? So viel kostete Orlowen ungefähr unter Brüdern, und das gab die Frau da für ein paar kurze Wochen aus, angeblich um mit Ihrer Freundin, Frau von Döhlau, zusammenzusein? Die konnte sie doch, mindestens ebenso bequem, in irgendeinem eleganten Badeorte treffen …
Unwillkürlich sprang ihn wieder der Argwohn an, nur diesmal in verstärktem Maße. Irgend etwas stimmte nicht an diesem Handel … Er entsann sich verschiedener Spionagegeschichten, in denen verführerisch schöne Frauen vorkamen, ausgerüstet mit geradezu märchenhaften Geldmitteln. Aber das wäre hier ein unnützer Aufwand an minderwertigem Objekte gewesen. Wenn sie wirklich einen der Dragoner- oder Infanterieleutnants durch allerhand Verführung zum Reden brachte, was erfuhr sie schon viel? Gemeinplätze, die auch jeder Nichtsoldat, wenn er die Landkarte ansah, sich an den fünf Fingern abzählen konnte … Und jetzt plötzlich schoß es ihm durch den Kopf, diese angebliche Baronin Nadanyi war dasselbe Frauenzimmer, das seinem Vetter Foucar vor einem Jahre mit einem unerhört abgefeimten und ruchlosen Rachewerk beinahe den Hals gebrochen hätte! … Und nach dem ersten Fehlschlag hatte sie wohl jetzt eine neue Ungeheuerlichkeit ausgeheckt, etwas, das kurz vor der Entscheidung stehen mußte, sonst wäre sie doch nicht persönlich auf dem Platze erschienen …
Er hatte die kurze Pause des Nachdenkens ausgefüllt, indem er mit der Reitpeitsche seiner alten Falada ein paar blutgierige Bremsen von der Brust strich. Er richtete sich wieder auf.
»Entschuldigen Sie gütigst, gnädige Frau, mein Schlachtroß hat eine empfindliche Haut – nach einem solchen Ritt muß der Bursche stundenlang mit 'nem Essigschwamm kühlen … Aber, was ich sagen wollte, ja … so enthusiastisch ich die neue Nachbarschaft begrüße … haben Sie bei dem Kaufe auch bedacht, daß Sie in diesem Sommer daran nicht viel Vergnügen haben werden? Daß Sie – möglicherweise – in spätestens vierzehn Tagen russische Einquartierung haben können?«
Frau von Nadanyi hob verächtlich die vollen Schultern.
»Sie meinen das Ultimatum, das die Österreicher an die serbischen Hammeldieb' gerichtet haben? Ach gehn's, das haben wir vor ein paar Jahr' schon einmal erlebt, und diesmal gibt's 'ne neue Auflag' von der Blamasch' …«
»Schön, aber weshalb stauen die Russen auch an unserer Grenze diese Flut von Menschen und Flinten?«
»Nur eine politische Demonstration, hat mir vor einer Stunde mein Vetter Adlerberg erklärt. Wenn Österreich von seinen exorbitanten Forderungen den Rückzug antritt, ebbt die Flut wieder ab! Und vor fünf Tagen war ich noch in Paris, sprach mit Leuten, die ihrer hohen Stellung nach mehr wissen können als andere. Niemand denkt dort an den Krieg! Vielleicht in zwei oder drei Jahren – oder überhaupt nicht. Die Franzosen haben wohl immerfort von der Revanch' geredet, aber nie was Rechtes dafür getan.«
Fräulein Françoise Eberlé, die mit Frau von Döhlau links von dem Leutnant Gorski ritt, richtete sich im Sattel auf; ihre Augen blitzten.
»Aber Baronin, wie können Sie nur so oberflächlich urteilen! Wenn der Tag der Vergeltung anbricht, wird die Armee bereit sein! Und unsere Offiziere denken wohl an diesen Tag, aber sie sprechen nicht von ihm.«
Karlchen Gorski lächelte verschmitzt.
»Meinen Sie mit diesen ›unseren‹ nun wirklich unsere Offiziere oder etwa – andere?«
Die Kleine hob trotzig das Stumpfnäschen in die Luft.
»Ich meine die französischen! Die kämpfen nicht gegen lahme Schustergesellen.«
Er verneigte sich spöttisch.
»Gnädiges Fräulein stammen wohl aus der Gegend von Zabern?«
»Ich bin Lothringerin! Mein Herz gehört Frankreich!« versetzte sie pathetisch.
Er seufzte erschrecklich auf.
»O weh, meine Gnädigste, jetzt wird unser Schicksal tragisch! Soeben merke ich zu meinem Entsetzen, daß ich mich in eine Reichsfeindin verliebt habe, und der Zwiespalt zwischen Patriotismus und Leidenschaft rumort schon mächtig in meinem Herzen …«
Da lachten sie alle vier, und die Stimmung, die sich in den letzten Minuten bedenklich zugespitzt hatte, wurde wieder friedlich.
»Sie erinnern mich doch so lebhaft an einen preußischen Offizier, den ich früher einmal gekannt habe«, sagte Frau von Nadanyi, noch immer lachend. Und er erwiderte trocken: »Das liegt vielleicht nur daran, daß ich einen gewissen Typus repräsentiere; freilich und selbstverständlich in seiner höchsten Vollendung: den Typus des ebenso eleganten wie schönen und geistvollen preußischen Leutnants! Aber – wenn ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen darf – meinten Sie eben vielleicht einen gewissen Herrn von Wodersen?«
Die schöne Frau verfärbte sich.
»Wie … wie kommen Sie auf die Vermutung?«
Da triumphierte er innerlich, daß ihn sein Scharfblick wieder einmal nicht getäuscht hatte, machte aber ein möglichst harmloses und treuherziges Gesicht.
»Weil mein angeheirateter Vetter, Rittmeister von Foucar, mir einmal erzählte, dieser Herr von Wodersen von den Landsberger Husaren hätte mir außerordentlich ähnlich gesehen. Natürlich nur äußerlich, denn er soll die Torheit begangen haben, sich aus unglücklicher Liebe totzuschießen. Die Dame, die er, nebenbei bemerkt, erfolgreich verehrte, soll blendend schön gewesen sein, aber leider nicht ganz zweifelsohne. Gewesene Schauspielerin oder so was Ähnliches … jedenfalls lag irgendein Grund vor, der es einem preußischen Offizier unmöglich machte, sie zu heiraten.«
Die Baronin Nadanyi biß einen Augenblick die Zähne aufeinander.
»Sagen Sie Ihrem Herrn Gewährsmann, er sei falsch berichtet worden! Ich kenne die Dame sehr gut, ihre Vergangenheit ist makellos!«
Karlchen Gorski ließ die Zügel fallen und schlug in anscheinend maßlosem Erstaunen die Hände zusammen.
»Aber nein! Wie klein ist doch die Welt! Sie kommen aus Paris, ich vom entgegengesetzten Ende der Welt, aus Ordensburg, und nach kaum fünf Minuten stellen sich Beziehungen zwischen uns heraus! Sollten Sie aber meinen Vetter Foucar in den nächsten Tagen kennenlernen, wird er Ihnen sicherlich dankbar sein, wenn Sie ihm Gelegenheit geben, sein schiefes Urteil über diese Dame zu revidieren …«
Frau von Döhlau beeilte sich, die Unterhaltung auf ein anderes Thema zu lenken.
»Was ich schon die ganze Zeit über fragen wollte: haben Sie eine Ahnung, Herr von Gorski, an welchen Abenden der nächsten Woche Ihr Herr Regimentskommandeur seine berüchtigten Nachtfelddienstübungen abzuhalten gedenkt?«
»Warum, gnädige Frau?«
»Weil ich ein kleines Sommerfest plane in meinem hübschen Garten. Da würde es mich doch sehr ärgern, wenn gerade die Offiziere Ihres Regiments an dem Abend dienstlich verhindert sein sollten.«
Er zuckte mit den Achseln.
»Da müssen Sie es schon auf den Zufall ankommen lassen, gnädige Frau! Ich bin in die geheimen Pläne meines Kommandeurs nicht eingeweiht. Wenn ich mir aber gehorsamst eine Bemerkung erlauben darf …«
»Na?«
»Also ich glaube nicht, daß Ihr liebenswürdiger Plan bei meinen Kameraden in dieser ernsten Zeit auf große Begeisterung stoßen wird. Sie alle dürften für scherzhafte Vergnügungen jetzt kaum Sinn haben.«
Jetzt mischte sich Fräulein Françoise wieder in das Gespräch. Sie schürzte verächtlich die Lippen.
»Merkwürdig! Fast alle deutschen Offiziere, die ich bisher kennengelernt habe, scheinen vor dem Krieg, der doch eigentlich ihr Handwerk sein müßte, eine gewisse Furcht zu empfinden.«
»Ach nee!«
Er fuhr im Sattel herum und war im Begriff, dem frechen, kleinen Frauenzimmer mit einer derben Antwort zu dienen. Ehe er aber noch den Mund öffnen konnte, ertönten aus den Wacholderbüschen zur linken Seite der Straße, die zwischen den weitläufigen Kiefern standen, gellende Hilferufe. Ein kleines Männchen in langem, verschlissenem Kaftan rannte aus Leibeskräften und schrie: »Zu mir alle guten Menschen, zu Hilfe gegen Räuber und Mörder!«
Karl von Gorski blickte auf. Nanu, was war das? Da rannte sein Zigarettenlieferant, Herr Jankel Abramek aus Ordensburg, und hinter ihm zwei ungeschlachte Kerle in bäuerischer Kleidung. Nur ein kleines Endchen noch, und sie hätten ihn eingeholt, trotzdem das schmächtige Männchen in seiner Todesangst Sprünge machte wie ein gehetzter Hirsch. Da gab er seiner alten Falada die Sporen und flog wie ein Pfeil dazwischen … Herr Abramek rannte weiter, der eine der beiden Verfolger wandte sich zur Flucht, der andere hob die rechte Hand, ein paar Schüsse knatterten, im nächsten Augenblick war er überritten. Karl von Gorski sprang wie eine Katze vom Pferde. Mit flacher Klinge schlug er dem Kerl über den Kopf, daß der wie ein Klotz liegenblieb. Eine Sekunde danach saß er wieder im Sattel, preschte hinter dem andern her. Der war über eine Baumwurzel gestolpert und hatte die Waffe im Fallen aus der Hand verloren. Der Offizier parierte seinen Gaul und sagte ein wenig außer Atem: »Stehen Sie auf, edler Lord, aber wenn Sie Ihre Pfote nach dem Browning da ausstrecken, spieß' ich Sie auf wie 'ne Padde!«
Der Kerl erhob sich schwerfällig, sah mit giftigem Blick in die Höhe.
»Herr Leutnant, das wird Ihnen teuer zu stehen kommen, daß Sie hier friedliche preußische Untertanen vergewaltigen. Der Jud' hat uns betrogen, und wir wollten ihn greifen, um ihn vor Gericht zu bringen!«
Karl von Gorski lachte kurz auf:
»Na, das können wir jetzt in aller Ruhe zu dritt besorgen! Vorläufig möchte ich Sie bitten, Ihren verdroschenen Herrn Spießgesellen unter den Arm zu nehmen und mir nach Ordensburg zu folgen!«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Täte es mir leid, dann müßte ich zu stärkeren Überredungskünsten meine Zuflucht nehmen; Sie unsanft mit diesem Säbel pieken. Also, wenn ich jetzt höflich bitten darf?«
Da fügte sich der Kerl und führte seinen Genossen, der sich nur langsam von der Betäubung erholte, auf die Straße hinaus. Herr Jankel Abramek, der nach der Niederlage seiner Feinde unter dem Schutze der Kavalkade stehengeblieben war, flog vor Aufregung am ganzen Körper.
»Hundert Jahre zu gesund Ihnen gewünscht, Herr von Leitnantleben,« sagte er mit seinem seltsamen Gemisch aus Jiddisch und Ostpreußisch, »und meine Hand soll verdorren, wenn ich Ihnen die Zigaretten von jetzt an nich verkauf' unterm Selbstkostenpreis! Auch wenn Sie wieder e mal werden benötigen e Geld, der Schlag soll mich treffen, wenn ich berechen' einen einzigsten Pfennig Vermittlerprovision …«
»Schon gut, Herr Abramek«, wehrte er lächelnd ab. »Na, und jetzt erzählen Sie mal, weshalb haben Sie eigentlich mit diesen beiden Bauern da das Wettrennen veranstaltet?«
»Bauern? Von der russ'schen Pollezei sind die beiden Verbrechers, aber von der geheimen! Wenn der Herr Leitnant werden geruhen zu belieben nachzusehen in ihre Röck', werden Sie finden die Blechmarken. Und so wahr ich hier auf dem Fleck steh' lebendig, se sind gekommen gelaufen zu rennen hinter mir, mich zu greifen, weil ein Herr General von die Russen hat gesagt: ›Nehmt ihn fest, den Juden, der hat hier schon viel zuviel gesehen!‹«
»So, so,« sagte Karl von Gorski, »das ist ja ganz interessant. Haben Sie vielleicht zufällig ein Ende Bindfaden bei sich, Herr Abramek? Wenn ja, möchte ich Sie bitten, den beiden Gents da zur Vereinfachung des Abtransportes die Hände auf dem Rücken zu binden.«
Herr Abramek strahlte über das ganze, faltige Gesicht.
»Bloß Bindfaden, Herr von Leitnantsleben? E Strick hab' ich bei mir von meinem Pingel Zigaretten, was ich hab' missen im Stich lassen, wie das Geseires hat angefangen mit unsere Feinde!« Und er wollte sich daran machen, den willkommenen Auftrag auszuführen. Der größere von den beiden Russen trat einen Schritt zurück.
»Herr Leutnant, das ist Freiheitsberaubung, und ich protestiere energisch.«
Karl von Gorski wollte erwidern: »Bitte schriftlich, mein Verehrtester«, aber er kam nicht mehr dazu. Der Schritt rückwärts war ein Anlauf gewesen, mit einem gewaltigen Sprung nach vorne hatte der riesige Kerl die Arme um seinen Leib geworfen und riß ihn aus dem Sattel. Wie ein Aal aber wand er sich ihm aus den Händen. Seine stahlharte Faust fuhr in die Höhe, der Angreifer taumelte zurück, brüllte vor Schmerz. Einen Augenblick später kniete Karlchen Gorski auf seinem Rücken und riß ihm mit einem gewaltigen Ruck den Arm aus dem Achselgelenk.
»So, mein Freundchen, aber ich muß gestehen, Sie machen es mir nicht gerade leicht, in höflicher Weise mit Ihnen zu unterhandeln!« Er stand auf: »Na und jetzt erzählen Sie mal, Herr Abramek, was haben Sie denn drüben so Interessantes gesehen, daß die beiden Polezeier Sie durchaus einspunden wollten?«
Die Damen hatten wie in einer Erstarrung zugesehen, Fräulein Françoise schrie entsetzt auf:
»Aber Sie bluten ja, Herr Leutnant!«
Er faßte sich ins Gesicht. Als er die Hand zurückzog, war sie rot.
»Wahrhaftig! Aber da ich inzwischen noch nicht den Heldentod gestorben bin, eine Schmarre, nicht der Rede wert ...«
Sie schwang sich ohne Hilfe aus dem Sattel und zog ein feines Batisttüchlein.
»O Gott, lassen Sie mal sehen …«
Da lachte er wieder, hielt seine Wange hin.
»Na schön, aber Sie, lieber Jankel, sorgen mir dafür, daß unsere Geschäftsfreunde in der Zwischenzeit nicht ausreißen!«
Herr Abramek ließ mit einer unnachahmlichen Bewegung seinen schnupftabakfarbenen Kaftan von einer Schulter zur anderen gleiten.
»Wo wir beide se eso besiegt haben, die Chamaurim? Nich gesund will ich Freizenach abend Fisch essen, wenn ich se nicht verschnier' daß mer könnt' se verschicken als ein Postpaket. Und se sind mir nachgeloffen, weil ich hab' dabei gestanden, wie die russischen Garderegimenter sind anmarschiert gekommen von der Eisenbahn in Graiwen ins Lager. An der Spitze – so wahr meine Kinder sollen leben – e Großfirst! Der General von Scheidemann – heißt sich e Stück von 'nem Daitschen – hat ihm hinaufgegeben die Hand in die Höh' zum Pferd und hat gefregen: ›Nuu, was hört man schon Neues aus Petersburg, Kaiserliche Hoheit?…‹ ›Nur Gutes, zu gesund, lieber Fedor Iwanowitsch‹ sagt der Großfürst darauf, ›und hoffentlich wir werden bald bessere Quartiere haben, als wie hier in diese polnische Schweinestall‹«
Karl von Gorski lächelte unter der linden Hand, die mit merkwürdig erfahrenem Griff seine Wunde untersuchte, sie in einiger Entfernung von den Rändern faßte und sanft auseinanderzog.
»Na, Herr Abramek, ich glaubte zwar nicht gerade, daß der Großfürst mit seinem General genau so gesprochen hat, wie Sie eben berichteten, aber es ist immerhin nicht ohne Interesse, daß auch die Petersburger Garde uns jetzt einen freundnachbarlichen Grenzbesuch abstattet. Und zu seiner kleinen Samariterin gewandt, fuhr er fort: »Also, was hat der Sektionsbefund ergeben? Habe ich Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, oder muß ich ins Gras beißen?«
Fräulein Françoise machte ein ernstes Gesicht.
»Es ist glimpflich abgegangen, nur ein oberflächlicher Streifschuß, der genäht werden kann und in acht Tagen wieder heil ist. Aber ein paar Zoll weiter nach links …« Sie schüttelte sich unwillkürlich, wie unter einer schrecklichen Vorstellung. Er zog ihre kleine Hand an die Lippen; an der Spitze des Zeigefingers saß ein rotes Fleckchen von seinem Blut. Da blieb ihm der Scherz, mit dem er sich bedanken wollte, in der Kehle stecken. Er sah ihr in die Augen, sie erwiderte den Blick, und eine feine Röte stieg ihr von dem schlanken Halse in die Wangen empor. Ihm aber rieselte es durch die Nerven. Ein bisher nie empfundenes, seltsames Gefühl erfüllte ihn ganz und gar …
Die Baronin Nadanyi drängte zum Aufbruch:
»Es fängt an dunkel zu werden; Herr von Döhlau wird sich um uns gewiß ängstigen, wenn wir so lange ausbleiben.«
Fräulein Françoise schien widersprechen zu wollen. Sie runzelte mißmutig die Augenbrauen über dem kurzen Stumpfnäschen, dann aber fügte sie sich. Karl von Gorski half ihr in den Sattel, sie schüttelte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, mein Herr Patient! Ich hoffe, Sie stellen sich morgen vor, damit ich beurteilen kann, ob mein ärztlicher Kollege Sie auch richtig behandelt!«
»Woher wollen Sie denn das wissen?« fragte er zurück.
»Weil ich in den Fabriken meines Vaters schon manchen Verletzten gesund gepflegt habe! Also, bis morgen?«
»Bis morgen!«
Die drei Damen sprengten davon, gefolgt von dem Reitknecht, der mit steinernem Gesicht dagesessen hatte, ohne bei der ganzen aufregenden Affäre mit der Wimper zu zucken. Herr Abramek sah ihm mit einem geringschätzigen Blick nach:
»Gott soll schützen, Herr von Leitnantleben, wir hätten die beiden Schlehmihle da nich allein gezwungen! Das ise nemmlich e Engelländer, und die sennen nich gut Freind zu uns!«
Karl von Gorski lachte auf. Ihm war seltsam lustig und aufgeräumt zumute, als müßte er aus heller Kehle singen.
»Ach nee, Jankelleben! Und woher bei Ihnen diese hohe politische Einsicht?«
Herr Abramek hatte seinen beiden Gefangenen sorgfältig die Hände auf dem Rücken verschnürt, zupfte an dem Strick ob er auch genügend festsäße, und lachte, als die Kerle vor Schmerzen stöhnten.
»Euch gesagt, was ihr mich hättet zugerichtet, umgekehrt! Aber zu die Engelländer bemerkt, Herr von Leitnant … immer wenn ich gewesen bin Papyros zu verkaufen drüben in Graiwen, die russischen Offiziere haben geprost' auf Engelland! Engelland wird zerschießen unsere Schiffe, die Franzosen werden kommen von links und die Russen von rechts, in Berlin sie werden sich treffen.«
»Na schön, hoffentlich werden wir auch noch dabei sein!«
Karl von Gorski schwang sich in den Sattel. Als er nach den Zügeln greifen wollte, merkte er, daß er in seiner Linken ein zusammengeknülltes Tüchlein trug, getupft mit unregelmäßigen, roten Flecken. Ein zarter Duft stieg von dem feinen Gewebe auf, untermischt von dem süßlichen Gerüche frischen Blutes. Das Tuch brannte ihm plötzlich in der Hand wie Nesseln, er wollte es fortschleudern, aber es blieb ihm zwischen den Fingern hängen. Da barg er es in der Brusttasche, mit der Ausrede vor sich selbst, eigentlich müßte er's der Besitzerin in gewaschenem Zustande zurückgeben. Und er beschwichtigte sich, das war doch noch lange keine Untreue, daß er der kleinen Lothringerin – keine fünf Minuten war es her – tief in die Augen gesehen hatte! Ein Abenteuerchen, das man so rasch wieder vergessen hatte, wie es gekommen war …
Die beiden Gefangenen tappten voraus. Herr Abramek hielt den Strick und schritt wacker neben seinem Lebensretter her. Der schien in tiefe Gedanken versunken, plötzlich aber machte er vor dem Gesicht eine rasche Bewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.
»Los, Meister Jankel, erzählen Sie mir die neuesten jüdischen Witze! Da ich in den letzten Wochen leider nicht die Ehre hatte, Sie zu 'sehen, leidet mein Repertoire bedenklich an Altersschwäche.«
Herr Abramek ließ zur Abwechslung seinen Kaftan von der linken Schulter zur rechten laufen.
»Witzen, Herr von Leitnantleben? In diese schwere Zeiten vertrocknet dem Pojatz die Zung' … Macht me Spaß, wenn e Gewitter am Himmel steht? Mer werft sich auf die Knie und dawnet!«
»Also Sie glauben auch, es geht wirklich los?«
»Glauben? … Ich weiß! Vorichte Woch' ise e Verwandter zu mir durchgekommen, mit e Baljett nach Ameriken. Der Pulvermacher aus Bialystock, engros in gegerbte und ungegerbte Fellen und Häuten. – unverzollt natürlich über die Grenze. Ihnen gesagt, wir sollten beide haben an Vermögen, was er hat an Zinsen im Jahr! Rothschild, gegen mir gehalten! Und wie er mir blickt an Bannof, schreit er auf: ›Jankel, du bist noch hier? Nemmst nich deine Fieß und rennst und läufst, so weit se dich wellen tragen? Mei Agent hat mir geschickt den verabredeten geheimen Zeechen aus Petersburg. In acht Täg ise Krieg?‹«
»Na na,« sagte Karl von Gorski, »dieser Agent Ihres Freundes Pulvermacher sitzt doch nicht im russischen Kronrat?«
Herr Abramek zuckte mit den Achseln.
»Ich glaub' ihm! Unsere Leit in Rußland haben Augen und Ohren überall. Am Kopf, am Rücken, an de Händ' und de Fieß, wie e Haas' im Feld, weil immer auf ihn wird geschossen. Und ich hab' meine Frau und die beiden Meddchen wechgeschickt nach Königsberg. Meine Frau ist – unter uns gesagt – so häßlich, daß e Kosack möcht' ausreißen vor ihr. Aber meine beiden Töchter, zwei Schönheiten, weil se ähnen nach mir! Und, Herr von Leitnantleben, ich hab' dabeigestanden mit meine Papyros, wenn die Kosacken haben die Zähne gefletscht und sich gefreit auf die Meddchen in Deitschland …«
Da schwieg der Leutnant von Gorski und dachte an seine Schwestern in dem alten Steinkasten, kaum eine halbe Meile von der russischen Grenze – – –
Er hatte die beiden Gefangenen auf der Kasernenwache abgeliefert, den ganzen Vorfall im Regimentsbüro zu Protokoll gegeben und Herrn Jankel Abramek als Zeugen vernehmen lassen, auch über die privaten, mit dem neuen Zwischenfall nicht unmittelbar zusammenhängenden Beobachtungen, die er jenseits der Grenze gemacht hätte. Der Regimentsadjutant, Oberleutnant von Zinnow, hatte alles fein säuberlich aufgeschrieben. Als er fertig war, spritzte er lächelnd die Feder aus.
»Sehr schön, liebes Karlchen, jetzt wissen wir noch genauer Bescheid! Für mich aber hat Ihr Abenteuer wenig angenehme Folgen. Ich wollte den Heldenleib durch ein nach vierzehnstündigem Arbeitstag reichlich verdientes Abendbrot stärken, jetzt muß ich dem Alten Vortrag halten. Wir schmieden danach eine Depesche an die Brigade! Die berichtet an die Division, die wieder ans Korps, na und so weiter fort, bis zum Auswärtigen Amt, und das legt die Sache zu den Akten. Über solche Bagatellen verhandelt es nicht mehr mit Petersburg! Im übrigen: ich habe heute nachmittag meine Frau nebst Stammhalter in die Sommerfrische nach Berlin geschickt. Da ist die Luft besser als hier. Vielleicht raten Sie Ihren Lieben in Groß-Heinrichsdorf auch zu einer kleinen Reise nach dem Westen.«
»Donnerwetter noch mal, ist's wirklich so weit?«
Der hagere Regimentsadjutant hob die Schultern. »Keinen Schimmer! Nur dieses kleine Land im Südosten hat sich plötzlich – nach den heute nachmittag gekommenen neuesten Depeschen – auf die Hinterbeine gesetzt. Vor Österreich-Ungarn! Ein Zwergpinscherchen, das einen Riesen-Leonberger ankläfft! Da muß doch ein anderer starker Köter hinter ihm stehen: ›Du, Kleiner, zopp nich zurück! Ich helf' dir, wenn's so weit ist‹ …«
»Sehr richtig, verehrter Gönner! Na, denn heißen Dank, ich werde sofort nach Hause depeschieren.«
Er ging nach dem Kasino hinüber, brachte ein kurzes Telegramm zu Papier und ließ es durch eine Ordonnanz aufs Postamt tragen. Ihm war zumute, als habe sich seine Schuld vor dem Bruder um ein weniges verringert, weil er ihm aus dem erspielten Geld die Mittel gegeben hatte, sich mit den Eltern und Geschwistern vor der drohenden Gefahr in Sicherheit zu bringen. Dafür aber drückte ihn eine andere Schuld zu Boden und schlug ihn, daß er sich ganz klein und erbärmlich vorkam … Zwei Tage war es her, daß er Fräulein Ilse Harbrecht im Stadtwäldchen »zufällig« getroffen hatte. Da hatten sie wieder einmal den Treuschwur erneuert, trotz aller Hindernisse auszuharren, bis bessere Zeiten kämen. Und jetzt erschien ihm plötzlich dieses Gelübde wie eine lästige Fessel, die er unbedachterweise sich selbst angelegt hatte. Das war sehr erbärmlich, er wußte es genau, und es war ebenso selbstverständlich, daß er gegen diese wankelmütige Regung mit aller Energie anzukämpfen hatte. Aber es half nicht viel, daß er sich innerlich heftig anschrie. Etwas Neues war in ihm aufgestanden und drängte alles zur Seite, was vorher gewesen war …
Vor kaum zwei Stunden hatte es angefangen, als er mit diesem kecken lothringischen Mädel zu plänkeln begann. Ganz leise hatte sich ihm das Gift in die Adern geschlichen, und jetzt brannte er lichterloh. Da nützte kein Beschönigen … er bangte sich nach dem Mädel mit dem frechen Bubengesicht … Keine hundert Worte hatte er mit ihr gewechselt, wußte nichts von ihr, als daß sie irgendwoher aus dem Westen kam, aus fremdem Blute stammte und alles haßte und gar verspottete, was ihm selbst hoch und heilig war. Die andere aber kannte er seit Jahren, keine Regung in ihrem reinen Seelchen war ihm fremd, und noch vor kurzem war es ihm als der Inbegriff alles nur erdenklichen Glückes erschienen, mit ihr zu teilen, was die Zukunft einer ordentlichen preußischen Leutnantsehe brachte. Viel genaues Rechnen, Einschränkung an allen Ecken und Kanten, zu Hause aber einen guten Kameraden, der durch dick und dünn mitstiefelte. Der sich über jeden kleinen Erfolg freute und Mißerfolge mit gutem Humor tragen half … Weshalb kam ihm das alles jetzt eng, klein und kläglich vor? Hatte er denn plötzlich andere Augen gekriegt, oder war er in einer Art von Fieber, das so rasch wieder verging, wie es gekommen war? Wo blieb heute der philosophische Gleichmut, mit dem er sich sonst über schwierige Lagen hinweghalf, bis er zu ruhiger und zuweilen heiterer Betrachtung der vergangenen Aufregungen kam? Aber der Teufel sollte das Grübeln holen, davon hatte er heute allgemach genug!
Er drückte auf den Knopf neben dem Schreibtisch, eine Ordonnanz trat ein, stand neben der Tür stramm.
»Herr Leutnant befehlen?«
»Haben Sie 'ne Ahnung, was die fünfte Schwadron morgen für'n Dienst hat? Ich war heute schon gleich nach dem Essen fortgeritten, habe kein Parolebuch gesehen.«
»Herr Leutnant haben morgen vormittag überhaupt keinen Dienst.«
»Das wissen Sie genau?«
»Sehr wohl, Herr Leutnant. Die einzelnen Schwadronen empfangen morgen auf Kammer Feldgrau!«
»Ach nee! Is es mit Gottes Hilfe so weit?«
»Sehr wohl, Herr Leutnant. Wie das Parolebuch kam, haben Herr Major Schnakenburg eine kurze Ansprache gehalten, und die Herren waren alle sehr freudig gestimmt. Zum Nachtessen waren nur wenige da, die meisten sind mit Urlaub über Land gefahren. Der Herr Major aber sind, wie immer, zur Witwe Gruber gegangen.«
»Danke, mein Sohn! Gute Nacht.«
»Gute Nacht gehorsamst, Herr Leutnant.«
Er stieg mit klapperndem Säbel die breite, zur Straße führende Steintreppe hinab, froh, daß er noch Anschluß fand. Der Major war ein trunkfester Mann, hielt mit bis zum anderen Morgen. Dann ließ man sich zu Hause von dem Burschen einen Eimer eiskalten Wassers über Kopf und Rücken gießen und tat seinen Dienst mit doppeltem Schneid und Eifer; denn sonst war der dicke Major Schnakenburg imstande, einen ganz heimtückisch anzulappen … Das nannte er »spartanische Erziehung in Verbindung mit Alkohol«, und es steckte wie bei jeder Übertreibung ein Körnchen Wahrheit darin …
In der kleinen Kneipe gegenüber vom Landgericht ging es merkwürdig still zu. An dem langen Stammtische saß nur der Major mit einigen Herren vom Zivil. Die waren schon im Aufbruch begriffen und rechneten mit der blonden Mieze, der Kellnerin, ab. Der dicke Etatsmäßige hob sein Glas.
»Prost, Karlchen! Und endlich, Gott sei Dank, eine mitfühlende Seele. Die Herren da nämlich wollen alle nach Haus, ihr Silberzeug einpacken.«
Karl von Gorski klappte die Hacken zusammen.
»Wohl dem in diesen Zeiten, der keine Schätze gesammelt hat, die Motten und Rost fressen! Gehorsamst guten Abend, Herr Major, und – Mieze – mir einen Krug Echtes nebst wollener Leibbinde!« Das war die Bezeichnung für einen besonders scharf eingebrannten Kornschnaps, der wie Feuer durch die Kehle ging.
»Wollen Sie sich besaufen, Kleiner?« fragte der dicke Etatsmäßige.
»Sehr wohl, Herr Major! Und da es morgen keinen Dienst gibt, so gründlich wie möglich. Mir ist heute was über die Leber gekrochen, das möchte ich wegspülen und morgen nicht mehr daran denken!«
Der Major von Schnakenburg nickte. Er kannte die traurigen Verhältnisse in Groß-Heinrichsdorf und wußte, daß der Kleine da drüben am Nachmittag nach Hause geritten war.
»Distanz gewinnen ist die Hauptsache im Leben, mein Jungchen. Ich hab' ja auch manches durchgemacht und immer gefunden, wenn man ein paar Tage verstreichen läßt, sehen viele Dinge, die man zuerst als Ungeheuerlichkeiten empfunden hat, bedeutend kleiner aus. Na prost …«
»Gehorsamst prost, Herr Major …«
Danach nahm der Abend seinen programmgemäßen Verlauf. Karl von Gorski erzählte sein Abenteuer mit den beiden Russen, der Etatsmäßige zog aus der Ankunft der Petersburger Garde die naheliegenden Schlüsse, und endlich wurden die Aussichten in dem kommenden Kriege erörtert. Die vier netten Mädels, die in dem leeren Lokal nichts zu tun hatten, setzten sich an den Tisch und hatten bei den im Osten und Westen tobenden Schlachten ein gruseliges Gefühl. Da spendierte der Major von Schnakenburg ihnen zur Aufheiterung mehrere Fläschlein deutschen Sektes, und die Unterhaltung lenkte in friedlichere Bahnen. Karlchen Gorski trank wie auf einen heißen Stein, aber die Medizin, von der er sich Beruhigung erhofft hatte, half nichts. Er stand plötzlich auf und empfahl sich, trotzdem der dicke Etatsmäßige ihn einen ganz gemeinen Drückeberger schalt …
Draußen hob sich der kommende Morgen mit stahlblauem Licht, das alle Umrisse schärfer zeichnete als der weiche Tag. In den Dachrinnen meldeten sich die ersten Spatzen, geweckt von dem über Steine rasselnden Säbel. Karl von Gorski ging durch die verschlafenen Straßen, an dem Haus des Kommandeurs vorbei und blickte zu den Fenstern im ersten Stock empor. Hinter einem der dunklen Vorhänge da oben schlief ein liebes Mädel, ohne Ahnung, daß es heute von seinem Liebsten verraten war. Er spie heftig vor sich selber aus, aber es half nichts. Seine Sehnsucht flog woanders hin … In weißen Kissen lag ein Gassenbubenkopf mit kecker Stumpfnase und leicht geöffnetem Mund, von dem er geschworen hätte, er hätte schon mehr als einen geküßt. Aber was verschlug ihm das in diesem Augenblick? Sein Seelenheil hätte er darum gegeben, wenn er das rassige Mädel mit den wissenden Lippen jetzt hätte in seinen Händen halten dürfen. – – – –