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4

Sie fünfte Schwadron marschierte in geschlossenem Zuge unter Führung des Wachtmeisters Kegler zur Kaserne zurück, auf den Bürgersteigen rechts und links der Straße bemühte sich die Schar der Gäste, gleichen Schritt zu halten. Schweigend bewegte sich die Menge vorwärts, wie betäubt und ohne einen klaren Gedanken. Die Sterbeglocke im Turm der katholischen Kirche hatte nach kurzem Schweigen wieder eingesetzt, eintönig bimmelte das helle Läuten über die Stadt. Mahnend, rufend und warnend: »Wacht auf, wacht auf, wacht auf! …«

Hurtige Knaben kamen gelaufen, jeder einen Stapel noch druckfeuchter Blätter im Arm. Da gab es in der Menge eine Stockung, Hunderte von Händen reckten sich, unter jeder Laterne stauten sich die Menschen, lasen schweigend die Unheilspost bis zu dem letzten, von der Redaktion des Anzeigers hinzugefügten Satze: »Uns Bewohner der Ostmark geht die entsetzliche Botschaft ganz besonders an. Sie ist vielleicht das Signal zu dem allgemeinen Weltbrande, den wir schon lange erwarten. Wappnen wir uns mit Ruhe und Besonnenheit und vertrauen wir darauf, daß unsere vorausschauende Heeresverwaltung sicherlich alle erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, den Feind von unseren Grenzen fernzuhalten!« …

Auf der Freitreppe eines Bürgerhauses reckte sich ein schmächtiges Männchen in die Höhe, hell schrillte seine Stimme über die Menge.

»Genossen und Freunde, glaubt bloß diesem törichten Schwätzer nicht! Einen Tag nach der Kriegserklärung brennen eure Häuser, tränken die Kosaken ihre Pferde im Ordensburger See! Das wird der Tag der Vergeltung sein für euren Stumpfsinn, mit dem ihr's gelitten habt, daß die Scharfmacher, Kriegshetzer und Kanonenlieferanten in unserem friedlichen Vaterlande die Oberhand gewonnen haben …«

So sprach er noch eine Weile fort, seine Worte aber verhallten, denn in der Menge hatte sich nach anfänglichem Stutzen ein Raunen erhoben, das sich zu einem Brausen erhob.

»Wer ist denn der da oben?«

»Der Redakteur Kachanski! Der weiß es natürlich wieder einmal besser …«

Mitten aus der schwarzen Masse stieg ein Ruf in die Höhe: »Hat nich wer 'nen nassen Waschkodder bei der Hand, dem Kärl in die Schandfress' zu schlagen?!«

Der Grobschmied Sareyka arbeitete sich durch die Menge, ballte die schwere Faust. Das hagere Männchen im schwarzen Predigerrock hob furchtlos das blasse, von einem schütteren Vollbart umrahmte Gesicht.

»Schlagen Sie nur zu, Herr Meister! Schlagen Sie mich tot, die Vernunft schaffen Sie damit nicht aus der Welt. Wenn in vier Wochen Ihr Weib von den Soldknechten des Zarentums geschändet wird, werden Sie an mich denken …«

»Quatsch«, sagte der Schmied, aber er ließ die erhobene Faust sinken. »Und Gott steh mir bei, daß ich mich an so einem Unwurm vergreif'. Der zweite Hieb wär' ja schon Leichenschändung gewesen!«

Der kleine Redakteur rückte sich mit einer nervösen Bewegung den verrutschten Klemmer zurecht.

»Sehr richtig, Herr Sareyka! Aber mit dem Schmiedehammer beweist man nichts. Der hat noch nie eine Wahrheit totgeschlagen …« Er verneigte sich spöttisch und verschwand hinter einigen Arbeitern der städtischen Straßenverwaltung, die ihm wie eine Leibgarde gefolgt waren …

Die noch im Schützengarten Zurückgebliebenen standen in Gruppen und besprachen aufgeregt das folgenschwere Ereignis, das wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf die ahnungslosen Völker herniedergefahren war. Der Oberst Wegener tadelte ärgerlich den Nachsatz, den der Redakteur des »Ordensburger Anzeigers« der telegraphischen Meldung über die im fernen Bosnien geschehene Freveltat angehängt hatte. Vorläufig liege nicht der geringste Grund zur Beunruhigung vor. Die Herren im Kreise hörten achtungsvoll zu, nur der dicke Herr von Lindemann protestierte mit rotem Kopfe:

»Lieber Herr Oberst, nehmen Sie's mir nicht übel, Sie urteilen von Ihrem kühlen Berliner Standpunkt! Sie verstehen von dem ganzen Kram sicherlich auch viel mehr als wir kümmerlichen Provinzbewohner, aber wir hier an der Grenze machen uns aus dem kleinen Ausschnitt, den wir sehen, ebenfalls unseren Vers! Und ich sage Ihnen, in ein paar Wochen, wenn wir gerade beim besten Roggenschneiden sind, geht's los!«

Der Oberst klopfte ihm begütigend auf die Schulter.

»Na, na, na, lieber, alter Freund, nur nicht so hitzig! Ich gebe gerne zu, es sieht ein bißchen duster aus, aber ich begehe wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen sage, es war in den letzten zwei Jahren manchmal noch viel schwärzer ringsum. Und doch ist's immer gelungen, das Äußerste abzuwenden. Also nur nicht bange machen! Wir fangen nicht an, und die anderen sind wohl mit dem Maulwerk riesig bei der Hand, im letzten Augenblick aber fällt ihnen das tapfere Herz doch immer wieder in die Pantalons! Aber jetzt Gott befohlen, ich hab' mit meinem Vetter Gorski noch ein ganzes Ende Weg nach Kalinzinnen!«

Er wollte sich zum Gehen wenden, Herr von Lindemann hielt ihn am Rockknopfe fest.

»Trautster Oberst, noch ein kleinutsches Momentchen, wie wir Ordensburger sagen! Ich red' doch nicht aus 'nem hohlen Faß, sondern … na also Christian, komm her, erzähl' du dem Herrn Oberst, was an deinem End' von der Grenze los ist!«

Ein breitschulteriger Mann von gewaltigem Gliederbau schob sich aus dem Hintergrunde vor, verneigte sich schwerfällig.

»Pfennigreuter heiß' ich, Herr Oberst! Ja, also, mein Gut liegt ganz dicht an der Grenze, auf der anderen Seite, vielleicht zwei Kilometer entfernt, das polnische Dorf Rydzewo. Natürlich vollgepfropft von Militär, nach dem, was ich so beobachtet habe, gut und gern' eine Brigade. Drüben ist seit einigen Wochen der Ausschank von Alkohol verboten, da ist mein Krugwirt auf dem besten Wege, ein reicher Mann zu werden. Jede Nacht fährt er einen vierspännigen Wagen voll Kartoffelschnaps, sogenanntem Kognak, Bier und Rotwein, von der Sorte ›Trink und übergib dich‹, hinüber, kommt mit einem Sack voll harter Rubel wieder zurück – Papiergeld nimmt er nicht. Seit acht Tagen führt er für die Herren Offiziere auf Verlangen auch französischen Sekt, Kriegspreise, zehn Rubel die Flasche. Die Traube zu diesem Sekt wächst natürlich auf 'nem Appelboom, und weil die Herren Leutnants darauf Leibschneiden kriegen, mischen sie ihn halb und halb mit dem vorhin erwähnten Kognak. Das beißt dann auch rascher in den Kopf, sagen sie. Und manchmal sind sie so betrunken, daß ein halb Dutzend alte Weiber sie mit 'ner Fliegenklatsche totschlagen könnte …

Na also, eines Abends komme ich nach Dunkelwerden von der Bockpirsch nach Hause, in meinem Krug ist noch Licht. Ich seh' durchs Fenster, da sitzt doch ein russischer General in voller Uniform in der Schenkstube, unter jedem Arm ein aufgedonnertes Frauenzimmer! Ein paar von derselben Sorte tanzen zu 'nem Walzer vom Musikautomaten, drei, vier Offiziere hopsen dazwischen, einer, der schon zuviel hatte, schlief mit dem Kopf auf dem Tisch. Vor sich und unter sich hatte er alles vollgespien, aber das genierte die anderen nicht.

An der Tür will mich ein Posten mit aufgepflanztem Bajonett anhalten. Ich sag': ›Mein Jungchen, diese Scherze wollen wir bei uns doch nicht einführen‹, hau' ihm eins in die Fress' und nehm ihm den Schießprügel weg. Er fängt an zu schreien, der russische General steht hinter dem Tisch auf, will irgendwas kommandieren, aber die Zunge geht ihm schon auf Filzschlorren, er lallt nur. Ich sage: ›Herr General, ich finde es doch, nebenbei bemerkt am Rande, sehr merkwürdig, daß Sie so ungeniert über die Grenze kommen! Wenn wir auch mitten im Frieden leben und es nur ein paar Schritte sind. Ich bin preußischer Amtsvorsteher hier im Orte, muß daher zu meinem Bedauern Sie alle für verhaftet erklären.‹ Da fällt mir der General um den Hals, küßt mich – ziemlich feucht – auf beide Backen: ›Nich böse, liebe deitsche Brudder – in Rydzewo zu langweilig! Seit Friehjaar schon sind wir weck von unsere schönne Garnison diecht bei Odessa …‹«

»Entschuldigen Sie,« warf der Oberst Wegener ein, »das haben Sie genau gehört, Odessa?«

Er machte eine einladende Handbewegung und setzte sich selbst an das Ende der leer gewordenen langen Tafel.

Der Gutsbesitzer Pfennigreuter ließ seine schwere Figur auf dem nächsten Stuhl nieder, die anderen Herren schoben sich in die Nähe, der dicke Herr von Lindemann mit triumphierendem Gesicht.

»Selbstverständlich, Herr Oberst«, erwiderte Herr Pfennigreuter. »Da ist jedes Mißverständnis ausgeschlossen! Aber passen Sie auf, es kommt noch viel doller! … Das heißt, an demselben Abend nicht, erst ein paar Tage später. Ein verflucht feiner Hecht in der Uniform eines Husarenrittmeisters schnauzte plötzlich den General auf französisch an, so daß der sich einen ordentlichen Ruck gab. Ich verstand leider kein Wort, weil ich auf der Schule die Sprache des altüberkommenen Erbfeindes mit einer gewissen Verächtlichkeit behandelt hatte. Schlußeffekt: die ganze Blase zieht ab, der General zwischen zwei auch nicht ganz taktfesten Offizieren als Henkeltopp frisiert … auf der andern Seite der Brücke kletterten sie in ihre Wagen. Die Frauenzimmer johlen und winken mir mit ihren Schnupftüchern zu: › Au revoir, mon cheri gros sorre Koumst (Sauerkraut) avec du Schweenefleesch!‹ Na, ich lachte, was sollte ich auch dazu sagen …

Zwei Tage später, ich sitz' gerade gemütlich beim Kaffee, rasselt eine Equipage auf meinen Hof. Auf dem Bock ein Kosak, im Fond mein General. In Zivil. Ich empfang' ihn auf der Freitreppe, er entschuldigt sich höflich, daß er neulich etwas blau gewesen wäre. Die ›Damen‹ hätten in der Langeweile des Lagerlebens den Wunsch ausgesprochen, zur Abwechslung mal drüben in Deutschland zu soupieren. Na, ich nötige ihn nun in die gute Stube, füll' ihn so langsam mit Alkohol auf. Liköre zum Kaffee, hinterher Sekt, zum Abendbrot Bier und nachher ein halbes Dutzend Flaschen guten, alten Burgunder, von Zeit zu Zeit dazwischen einen gehörigen Hieb Kognak – aus 'nem Wasserglas. Ich kann, nebenbei bemerkt am Rande, mit meinem Bullenkörper drei Tage und Nächte trinken, ich behalt' meinen klaren Kopf. Und ich denk' mir immer, der Besuch muß doch irgendeinen Zweck haben …

Und richtig, so bei der vierten Flasche Burgunder rückt er mit der Sprache heraus. Trinkt mit mir Schmollis, küßt mich – wieder sehr feucht – auf beide Wangen und sagt: ›Cheliepte Brudderherz, wir können beide zusammen grosse Geschäft machen!‹

Ich spitz' die Ohren: ›Vielleicht mit Armeelieferung?‹

›Cha, nein, mit Landesverrätern! Du wierst verratten, liebe Brudder, und ich werd' bezallen!‹

Ich hau' mit der Faust auf den Tisch: ›Herr, wofür halten Sie mich eigentlich?‹ Er aber winkt ab.

Da wolno, reg' dir nich auf, Brudder! Mit Aufregung man macht keine Geschäfte! Halso komm nächer, daß kein Mensch kann nich hörren … so … und jetz' pass' auf! Halso in diese Jarr noch gibt Krieg! In sechs Wochen, in acht Wochen … egal! wenn, beschlossene Sache. Fraggt sich nurr, wann Großfiersten saggen, jetz ies Zeit!‹

›Aber um Himmels willen,‹ warf ich ein, ›da hat der Zar doch auch noch ein Wort mitzureden!‹ Mein General macht nur eine kurze Handbewegung.

›Der Zarr? Liebe Freund, Zarr wierd doch gar nich gefraggt. Meinst du, er weiß, wo siend seine Trupen? Keinen Schiemer chat er! Woher soll er auch wiessen, wenn er aus Zarskoje Selo niecht kommt cheraus und ganze Tag tut betten? Mit iergendeine iebergeschnabte Bauer. Wann wierd Zeit sein, wierd Großfierst Nikolai saggen: ›Batuschka, wier wollen machen Krieg mit verfluchte Niemce!‹ Das cheißt, pardon, du biest Ausnamme, weil mein Brudder!‹

›Na schön,‹ sag' ich heuchlerisch, um noch mehr aus ihm rauszukriegen, ›aber ihr stellt euch die Sache ein bißchen zu leicht vor! Es ist doch noch sehr die Frage, ob ihr den Krieg gegen uns gewinnen werdet.‹

Er klopft mir auf die Schulter.

›Liebe Freund, iech chatte geglaubt, du biest klügger! Was liegt schon an Gewienen? Hauptsache ies Krieg in allgemeine, und wenn verloren, um so besser! Verdient man nemmlich in diese Fale zweimal, vorher an Lieferung und nachher an Lieferung. Wenn gienge nach Großfiersten, wir chätten jede Jahr eine Krieg, nur leider, wirr chabben niecht genug Menschen!‹

›Großartig,‹ sag' ich, ›und das leuchtet mir ein. Geldverdienen ist schließlich die Hauptsache im Leben. Na und wie ist das nun mit unserm Geschäft?‹

Er rückt noch näher: ›Feine Sache und serr einfach! Du besorgst für miech deutsche Aufmarschstellung geggen russische Grenze, und iech zall dier dreißigtausend Rubbel!‹

›Donnerwetter,‹ sag' ich, ›das ist kein Pappenstiel! Aber die Sache ist nicht so einfach. Wie soll ich denn als gewöhnlicher Gutsbesitzer an unsere Geheimpläne rankommen?‹

Da lacht doch der Kerl übers ganze Gesicht.

›Dume Kerl, chab iech vieleicht gesaggt, du sollst riechtige Plenne liefern? Du wierst liefern, wie du verstehst, und Chauptsache, daß Schrieftstieck sieht aus wie Plann!‹

›Ach so‹, sag' ich, und er darauf: ›Na halso! Biest jetz klug geworden? Du niemst dreißigtausend Rubbel, iech nemm dreißigtausend, du aber giebst Quietung ieber sechzigtausend. Chauptsache ies Quittung. Damiet bei Verwaltung alles ies in Ordnung!‹

Also ich erklär' mich bereit, wir besiegeln das Geschäft mit einem neuen saftigen Bruderkusse, und ich erfahr' von ihm noch einige Sachen. In etwa vier Wochen sollen die letzten Armeekorps an der Grenze eintreffen, aus Sibirien. Dann wäre der strategische Aufmarsch fertig. Zum Schluß kriegte er das besoffene Elend, schlug sich gegen die Brust, daß es knallte, und beschuldigte sich, er wäre ein schlechter Sohn seines Vaterlandes. Aber was sollte er machen? Allein der Ehrliche sein, wenn alle stehlen? Die Beamten stehlen, die Minister stehlen, die Offiziere stehlen, die Großfürsten stehlen, bloß der Zar nicht, der wäre auch so schon reich genug. Außerdem aber eigentlich ein ›dummer Deutscher‹. Na, ich verlud ihn denn schließlich wie einen Getreidesack auf den Wagen, hoffte, mit der betrunkenen Kiste würde die Angelegenheit erledigt sein, aber prost Mahlzeit! Alle paar Tage drangsaliert er mich jetzt wegen des Mobilmachungsplans, säuft mir allmählich meinen Keller leer, und ich weiß gar nicht mehr, was ich anfangen soll.«

Der Oberst Wegener hatte aufmerksam zugehört, sein scharfgeschnittenes, kluges Gesicht war immer ernster geworden.

»Von alledem, was Sie mir erzählt haben, mein lieber Herr Pfennigreuter, waren mir zwei Tatsachen neu. Einmal, daß die Regimenter des Odessaer Militärbezirks an der Grenze schon eingetroffen sind, und daß man auch die sibirischen Armeekorps erwartet. Sonst sind wir in Berlin ebenfalls ganz leidlich unterrichtet, und ich möchte hier im vertrauten Kreise noch einmal wiederholen, zu übertriebenen Befürchtungen liegt vorläufig nicht der geringste Grund vor. Ebenso wie die russischen Divisionen aufmarschiert sind, können sie auch wieder abmarschieren. Na, guten Abend, meine Herren! … Sie, mein verehrter Herr Pfennigreuter, besuche ich vielleicht in diesen Tagen, wenn mein kärglicher Urlaub mir nicht vorzeitig beschnitten werden sollte … Ich hätte unter Umständen nicht übel Lust, die persönliche Bekanntschaft Ihres russischen Busenfreundes zu machen … Also, Gott befohlen! …«

Und er schritt nach kurzer Verneigung zum Ausgang des Gartens, neben ihm der ältere Herr von Gorski und der Rittmeister von Foucar mit seiner jungen Frau.

Herr von Lindemann kratzte sich nachdenklich das spärliche Haupthaar, das nur über dem speckigen Genick noch in dichterer Fülle stand.

»Na schön! Jetzt sind wir genau so klug wie vorher. Ich aber weiß jedenfalls, was ich tu'. Ich geh' jetzt noch auf ein Fläschchen Burgunder zu meinem Freund Zapietznik. Die etwa anwesenden Polenjünglinge schmeißen wir raus und erörtern in aller Ruhe die neue politische Lage. Also, wer kommt mit?«

Eine hagere Hand tippte ihm von oben her auf die Schulter, Fräulein Amanda von Streit stand hinter ihm.

»Na, und ich, Herr von Lindemann? Ich für meine Person möchte gern nach Hause fahren!«

Da wollte er feindselig antworten, seine verehrte Nachbarin sollte sich durch ihn um Gottes willen nicht zurückhalten lassen, aber noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß sie gewissermaßen sein Gast war. Am frühen Vormittag nämlich, als er in seinem leichten Sandschneider nach Ordensburg fuhr, hatte er Fräulein von Streit in hilflosem Zustand auf der Landstraße gefunden. Ihr Wagen hing auf einer Seite zur Erde, ein Rad hatte sich seitwärts empfohlen, und die abgesprungene Verschlußnabe war nicht zu finden. Da hatte er ihr, ritterlich, im eigenen Wagen einen Platz angeboten und versprochen, sie bei guter Zeit wieder nach Marczinowen zu bringen. Ohne an die seine persönliche Freiheit beschränkenden Folgen zu denken. Jetzt wurde ihm natürlich klar, daß die Radnabe nicht aus Zufall abgesprungen war. Es war vielmehr einer jener sich immer wiederholenden Versuche, ihn zu einem soliden Lebenswandel zu erziehen, gegen die – das fühlte er deutlich – sein Widerstand allmählich zu erlahmen begann … Er bot seinem unbequemen Fahrgast den Arm.

»Na, dann bitte schön, mein gnädiges Fräulein, unter diesen Umständen fahren wir selbstverständlich nach Hause«, und geleitete sie höflich zum bereitstehenden Wagen. Nur er vermied es natürlich, nach rechts oder links zu blicken, weil er ganz genau wußte, daß seine Freunde den erzwungenen Abmarsch mit schadenfrohem Grienen begleiteten …

*

Die beiden Brüder Gorski hatten sich von ihren zahlreichen Schwestern verabschiedet, die mit den Eltern in zwei geschlossenen Kutschwagen nach Groß-Heinrichsdorf zurückfuhren. Mit still resignierten Gesichtern. Wieder einmal war einer jener Tage zu Ende gegangen, auf die man sich schon wochenlang gefreut hatte. Neue Kleider waren geschneidert worden, ab und zu, beim Anprobieren vor dem Spiegel, trug man sich wohl auch mit zaghaften Hoffnungen. Vielleicht geschah ein Wunder, irgendeiner der Offiziere oder Referendare faßte ein wärmeres Interesse. Aber die jungen Herren waren zu oberflächlich, gaben sich nicht die geringste Mühe nachzusehen, ob hinter der nicht gerade verlockenden Außenseite ein liebenswertes Menschenkind steckte … Einen Tanz mit jeder der sechs Schwestern, höchstens zweimal 'rum als Pflichtsache, und erledigt. Von intimerer Unterhaltung keine Spur … Und jetzt kamen wieder die endlosen Tage in dem öden, alten Steinkasten, die von Morgen bis Abend sich zu einer kleinen Ewigkeit reckten … Ein bißchen mopsiges Tennis, Lektüre, Stickereien, stumpfsinnige Spaziergänge auf Straßen, die einem nichts Neues mehr zu sagen hatten, als Auffrischung gewissermaßen ab und zu ein Schwesternzank. Am letzten Ende aber die trostlose Aussicht auf das adelige Fräuleinstift in Königsberg … Solange der Vater noch lebte, hatten sie wenigstens das Elternhaus. Wenn der älteste Bruder aber die Nachfolge antrat und heiratete, hatte die künftige Majoratsherrin doch sicherlich keine Lust, mit sechs verbitterten alten Jungfern zu wirtschaften …

Der Wagen rumpelte durch die mondlose Nacht auf stuckernder Chaussee. Die jüngste der Schwestern, die sechzehnjährige Adelgunde, schluchzte still auf. Sie war voll von schwärmerischen Hoffnungen zu ihrem ersten großen Feste gefahren und kehrte mit geknickten Flügeln wieder heim. Ganze viermal hatte sie getanzt. Der heimlich verehrte Leutnant von der Infanterie Schlutius – so tief war man in seiner Anspruchslosigkeit schon gesunken – war gar nicht erschienen, hatte das Fest wahrscheinlich bei einer anderen Schwadron gefeiert. Trotzdem er genau wußte, sie würde, schon ihrer Brüder wegen, im Schützengarten bei der Fünften sein.

Die älteste Schwester, die schon auf die Dreißig ging, zog das Köpfchen der Kleinen mütterlich an die Brust:

»Hör' auf, Dummchen! So wie du bin ich schon manchmal diesen Weg gefahren … Geld haben wir keins, das wissen die jungen Herren alle, und Schönheit ist ein relativer Begriff, der natürlich nicht zu unseren Gunsten ausgelegt wird. Wenn uns einer mal ein Viertelstündchen den Hof macht, verwechselt er unseren lieben kleinen Papa mit seinem reichen Vetter in Kalinzinnen. Sobald er den Irrtum erkannt hat, schnappt er ab und geniert sich … Na, tröst' dich, Gundelchen,« schloß sie mit einem mitleidigen Lächeln, »wenn die Witwe von dem Scheusal, um das du dich grämst, ihren zweiten Mann heiratet, wirst du auch nicht mehr an den heutigen Abend denken …«

Da schluckte die Kleine ihre Tränen tapfer hinunter. Weinen half ja doch nichts. Nur es tat arg weh, wenn man gleich beim ersten Schritt erkennen mußte, daß das Leben da draußen keine lustige bunte Wiese war, sondern eine endlos sich dehnende graue Straße …

Der jüngere Leutnant Gorski ließ den Säbel auf dem Steinpflaster klappern und steckte sich im Gehen eine Zigarette an. Ihm war seltsam leicht und froh zumute, und noch immer vermochte er, was ihm geschehen war, nicht recht zu fassen.

Ein schönes, junges Mädchen, das unter vielen Bewerbern die Auswahl gehabt hätte, hatte sich ihm heimlich verlobt … Hell und freundlich lag vor ihm die Zukunft; in acht Wochen spätestens wurde geheiratet! Mit verflucht knappem Zuschuß freilich, aber was lag daran, wenn man sich lieb hatte? Bei sparsamer Wirtschaft kam man mit wenigem aus, und schließlich, die alte Großtante in Königsberg konnte doch nicht ewig leben. Morgen aber schwang er sich auf seine getreue Falada, die trotz zehnjähriger Dienstzeit als Chargenpferd immer noch mehr Pulver im Leibe hatte als eine junge Remonte, und ritt in langem Galopp nach Groß-Heinrichsdorf. Der Papa stöhnte natürlich zunächst eine Weile lang, daß es ihm beim besten Willen nicht möglich wäre, seinem Zweitgeborenen die bisher gewährte Zulage zu verdoppeln, aber schließlich fand er doch wohl einen Ausweg …

Hans von Gorski, der neben seinem jüngeren Bruder ging, hob verwundert den Kopf.

»Sag' mal, Karlchen, wieso angelst du immer so mit dem rechten Arm in der Luft herum? Willst du Maikäfer greifen, oder paukst du dich schon gegen die Russen ein?«

»Keins von beiden, Hänschen! Ich arbeite nur in Gedanken an einigen Ansprachen. Unter anderem an unseren gemeinsamen alten Herrn wegen erheblicher Erhöhung meiner Zivilliste.«

»Ach nee!« Und mißbilligend fügte der Ältere hinzu: »Hast du hinter meinem Rücken vielleicht wieder mal Schulden gemacht?«

»Unsinn! Wenn man sich das Jeu abgewohnt hat, zu Mittag ein Gläschen helles Ordensburger trinkt und Zigaretten raucht zu zwei Pfennig das Stück – Marke Mottentod –, wie soll man da in Schulden geraten? Ich hab' im Gegenteil feste abgezahlt!«

»Na, dann verstehe ich wirklich nicht, weshalb du plötzlich mehr Geld brauchst.«

Karlchen Gorski zuckte mit den Achseln.

»Ich brauch' es eben, mehr kann ich dir nicht sagen! Ich hab' sonst keine Geheimnisse vor dir, aber diesmal … es gibt Lebenslagen, in denen selbst der eigene Bruder ein fremder Mann ist … Vielleicht ist etwas beim besten Willen nicht durchzusetzen, und da ist's doch ganz selbstverständlich, daß man's für ewige Zeiten für sich behält, wenn … also wenn man das besondere Vertrauen eines anderen genießt. Das braucht doch kein Mensch zu erfahren, es wär' ja auch so schon schwer genug …«

Der Ältere nickte, er hatte verstanden.

»Sie hat wohl kein Geld?«

»Ich habe zwar nicht gesagt, daß es sich um eine Sie handelt, aber nehmen wir mal an, sie hätte wirklich keins. Meinst du da also, daß unser alter Herr sich bereit finden würde, mir monatlich – sagen wir mal – dreihundertfünfzig Mark zu geben? So lange wenigstens, bis die Großtante Consti in Königsberg sich entschließt, dies irdische Jammertal mit den Gefilden der Seligen zu vertauschen?«

Hans von Gorski faßte den jüngeren Bruder unter den Arm und suchte ein wenig nach Worten.

»Sag' mal, Kleiner … ehe du mit Papa wegen der erhöhten Zulage sprichst … ja, möchtest du dich vorher nicht recht gewissenhaft prüfen, ob diese Affäre wirklich die ganze Staatsaktion verlohnt? Manchmal nämlich verliebt man sich heftig, nach acht Tagen aber hat man's wieder vergessen?«

Karlchen Gorski machte eine unwillige Bewegung.

»Meinst du, ich weiß nicht ebenso gut wie du, daß unser Papa mit schweren Sorgen zu kämpfen hat? Wenn ich ihm dazu noch die meinigen aufhalsen will, tu ich's doch nicht wegen eines kleinen Scherzchens, das in ein paar Wochen wieder verwunden ist! Seit mehr als 'nem Jahr schon ›prüf'‹ ich mich, und wenn ich mich nun entschlossen habe, all die Kärglichkeit und alle Entbehrungen einer normalen Offiziersehe auf mich zu nehmen, tu' ich's doch nur, weil … na, weil ich ohne das Mädel nicht leben kann!«

Der Ältere schluckte ein wenig, in seinen Augen schimmerte es feucht.

»Karlchen, du sprachst eben von der Großtante Consti. Es ist ja schrecklich, auf den Tod von 'nem Menschen zu lauern, aber vielleicht … na also vielleicht brauchen wir alle auf das Erbteil nicht mehr allzulange zu warten …«

»Das kann noch zehn Jahre dauern! Wie ich sie auf dem Rückwege von Weichselmünde besuchte, das kleine, dürre Gestell aus Pergament und Knochen, war sie sehr vergnügt. Zwei Stunden war ich bei ihr zum Kaffee. Sie futterte in der Zeit ein ganzes Kuchenblech voll Kirschtortelettchen auf und schrie mir dann mit ihrer grellen Papageistimme in die Ohren – weil sie mich natürlich für ebenso schwerhörig hielt wie sich selbst: ›Das esse ich alle Tage, und es bekommt mir ausgezeichnet! Mein Doktor hat gesagt: Exzellenz, mit Ihrer vorzüglichen Verdauung können Sie hundertfünfzig Jahre alt werden. Und ich erwiderte ihm: Hoffe ich auch, Herr Sanitätsrat, schon im Interesse meiner Großneffen. Die sind dann verständig genug, das Erbteil nicht gleich zu verplempern, und bei mir wächst es immerfort, weil ich ja nicht mal den vierten Teil meiner Zinsen verbraucht und ab und zu noch ein nettes, kleines Spekulatiönchen an der Börse mache …‹ ›Das ist riesig nett von dir, Großtantchen,‹ sagte ich, ›daß du so aufopfernd für uns sorgst! Du darfst überzeugt sein, daß deine Großneffen mit siebzig Jahren entschieden verständiger sein werden als jetzt mit einigen Zwanzig, und wenn sie so alt werden wie du, haben sie ja noch ein reizendes Leben vor sich. Inzwischen aber möchte ich dich herzlich bitten, mich mit einem Vorschuß von tausend Mark zu beglücken … du kannst ihn mir ja später von der Erbschaft in Abzug bringen.‹ Da verstand sie mich plötzlich nicht, trotzdem ich die letzten beiden Sätze in ihre Hörtrompete brüllte, daß sie von dem Luftdruck beinahe umfiel. Sie erklärte es damit, daß ihre Schwerhörigkeit sich zuweilen in akute Taubheit verwandelte, bei der man vor Ihren Ohren einen Kanonenschuß abfeuern könnte. Da sagte ich, das rührte mich so am Herzen, daß ich mich still ausweinen müßte, und ging! … Na und nun sag' selbst, Hänschen, kann man's einem jungen Mädchen auf so eine Erbschaftsaussicht hin zumuten, zu warten? Bis es da zu 'ner Hochzeit kommt, bin ich ein vergnedderter alter Rittmeister und sie ein vertrocknetes Zitronchen …«

Hans von Gorski atmete auf.

»Ja dann, Karlchen … dann ist's besser, du schlägst dir die Sache ganz und gar aus dem Kopf, nimmst dein Herz in beide Hände und sagst, was nich sein kann, kann eben nich sein …«

Karl von Gorski riß sich ungestüm los.

»Nimm's mir nicht übel, Hans, aber das ist verrückt! Wegen zweihundert Mark, die ich über meinen bisherigen Wechsel verlange, soll ich auf mein Glück verzichten?«

Der Ältere haschte wieder nach seinem Arme.

»Vernünftig bleiben, mein armes Jungchen! Es tut weh, ich kann es dir nachfühlen, aber sieh … na also kurz und rund: wenn nicht ein Wunder passiert, steht Groß-Heinrichsdorf in vierzehn Tagen unter Sequester. In Zwangsverwaltung der Gläubiger!«

»Das mußt du schon wem anders erzählen! Fünfzehntausend Morgen guter Mittelboden, davon ein Drittel schlagbarer Wald, ausgezeichnete Wiesen, und das unter Sequester …?«

»Nicht so hitzig, Karlchen! Vor langer Zeit hast du mal den Scherz gemacht, wir hätten uns rechtzeitig zusammentun sollen, unseren Urgroßvater mütterlicherseits totzuschlagen, weil er die Häßlichkeit in unsere Familie gebracht hätte. Ich hab' oft an das Wort denken müssen, aber heute sag' ich dir, es wäre viel gescheiter gewesen, unserem Großvater väterlicherseits in den Arm zu fallen … Als er nämlich in freventlicher Verschwendungssucht unser gutes Heinrichsdorf mit persönlichen Schulden überlud bis an die Fahnenspitze auf dem alten Bergfried … Und dann plötzlich auf der Rückfahrt von Paris in Mainz an 'nem Schlaganfall starb … Unser kleines Papachen war damals gerade so alt und sorglos wie du. Er hätte sagen können: ›Die persönlichen Schulden meines Vaters gehen mich nichts an, ich übernehm' das Majorat und damit basta! Majorat ist Majorat, wenn Sie, Herr Müller, Lehmann oder Schulze, so leichtsinnig waren, meinem seligen Papa was persönlich zu pumpen – zu Wucherzinsen natürlich –, haben Sie jetzt auch die Folgen zu tragen!‹«

»Das durfte er eben nicht! Die Schulden der hochgeehrten Herren Vorfahren sind doch einfach Ehrensäbel …«

»Na also! Diese Ehrenschulden sind im Lauf der Jahre unserem guten Papchen über den Kopf gewachsen. Vielleicht ist er auch trotz aller Bemühung nicht das Finanzgenie, für das er sich selber hält – also es ist so weit, er sitzt vollkommen fest. Ein Versuch, bei unserem Onkel Adalbert auf Kalinzinnen Hilfe zu suchen, ist gescheitert, die Summe ist zu groß. Er kann sie in diesen schweren Zeiten nicht schaffen – die Zinsen wären selbstmörderisch! Na und nun sag' selbst, Kleiner, weshalb willst du da dem alten Herrn unnütz das Herz schwer machen? Er hat dich lieb und möchte dir so gerne helfen! …«

Karlchen Gorski konnte es nicht verhindern, daß ihm zwei klare Tränen über die Wangen rollten.

»Verflucht, verflucht! Aber weshalb hat er mich da nicht schon längst mal beiseite genommen und mir reinen Wein eingeschenkt über unsere Lage?«

»Junge, das ist doch töricht, was du da red'st! So etwas bespricht der Majoratsherr doch nur mit seinem Ältesten. Weshalb sollen die Nachgeborenen sich auch mit den Sorgen plagen? Sie kriegen ihre Apanage weiter – wenn es irgend geht –, die Sorgen, woher sie beschafft wird, trägt der Vater und sein Erbe … Na, und nun sieh mich an! Ich geh' auch innerlich kaputt an der Katastrophe, die unser Papa nicht hat aufhalten können!«

»Wieso? Willst du etwa deinen Abschied nehmen?«

Der Ältere sah geradeaus die lange Straße hinab, auf der sich am letzten Ende die kümmerlich brennenden Laternen ganz nahe zusammenschlossen.

»Ich hätte es still untergeschluckt, aber weil du dich so hast, als wärst du der Alleinleidtragende … Meinen Abschied reiche ich in den nächsten Tagen ein, und es ist kein Opfer für mich, den bunten Rock auszuziehen. Vielleicht diene ich ebensogut dem Vaterlande, wenn ich mich vorbereite, ein ordentlicher Landwirt zu werden. Was aber ein Opfer für mich ist … du hast vielleicht gesehen, die dicke, kleine Marie Petrigkeit zerrebbelt sich um mich …«

Karlchen Gorski lachte kurz auf.

»Aber Mensch, das wär' ja famos! Der alte Baumeister Petrigkeit hat halb Ordensburg im Sack mit Hypotheken, dazu die großen Ziegeleien … Da sag' ich nur: Herzlich willkommen, liebe Schwägerin! Auf den rückständigen Kram von sogenannter Ebenbürtigkeit pfeift man doch im Dalles! Nicht wahr, Hänschen?«

»Ganz recht! Aber ob ich das kleine Trampel lieb habe, danach fragt ihr nicht!«

»Nee, Hans, ganz ehrlich gesprochen! Der Älteste in einem Majorat hat so viel Vorrechte – da ist eine Vernunftehe wirklich nicht der Rede wert! Ganz abgesehen davon, daß sich bei solchen Ehen häufig nachher auch eine herzliche Liebe einstellt. Erwachsen aus gegenseitiger Hochachtung und Wertschätzung …«

»Na, dann heirat' du sie doch, wenn du so gescheit bist! Ich verzichte gern auf das Recht des Erstgeborenen bei 'nem Majorat, das einem wie 'ne Zentnerlast auf den Schultern liegt!«

»Tut mir leid, lieber Hans, aber wie ich dir vorhin andeutete, ich bin schon so gut wie in festen Händen.«

Der Ältere sah sich erst um, ob sie allein auf der Straße waren, dann schrie er fast auf:

»Na und ich? … Meinst du, ich trag' einen Stein in der Brust? Seit drei Jahren hab' ich ein Mädel im Herzen, war in sie verliebt, wie sie noch in die Stadtschule ging. Ich sah sie heranwachsen und jeden Tag sagte ich mir: das wird mal die Herrin auf Groß-Heinrichsdorf … Ein prachtvolles Menschenkind und einfach genug erzogen, um einmal auf der schmalen Kante von gebotener Repräsentationspflicht nach außen und Einschränkung nach innen sicher zu balancieren, es nicht schwer zu nehmen, wenn man die jüngeren Geschwister über das vorgeschriebene Maß hinaus unterstützt …«

Karlchen Gorski fühlte, wie ihn etwas am Halse würgte. Das konnte eigentlich nur auf eine einzige zutreffen …

»Na und?« fragte er heiser …

»Na und jetzt pfeif' ich auf euch alle! Du hast mich ja eben belehrt, jeder ist sich selbst der Nächste. Da seht zu, wo ihr bleibt, wenn ich mit der Meinigen nur mein Auskommen hab'! …«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, endlich hob der Jüngere den Kopf. Er wollte Gewißheit haben.

»Sag', lieber Hans, hast du dich mit dem jungen Mädchen, von dem du sprachst, schon irgendwie auseinandergesetzt?«

Hans von Gorski lachte bitter auf.

»Seh' ich vielleicht nach Größenwahn aus? Ja, wenn ich deinen behenden Witz hätte und deine Kodderschnauze! Damit ersetzt man vieles … So aber? Sie hat vielleicht gar keine Ahnung, wie ich an ihr hänge.«

»Und du kannst mir nicht sagen, wer es ist?«

»Warum denn nicht? Das kompromittiert doch kein junges Mädchen, wenn ein häßlicher Kerl sich in sie verliebt hat? Die kleine Harbrecht ist es, und ich gäbe meine Seligkeit darum, wenn ich ihr eine anständige Zukunft bieten könnte. So aber? Wenn die Zwangsverwaltung nicht abzuwenden ist … auf ein Wrack ladet man doch keine Mitfahrer ein … Namentlich, wenn der Proviant anfängt knapp zu werden und die ganze Pastete dicht vorm Verklurksen ist …?!«

Karlchen Gorski faßte sich in den Uniformkragen, der ihm plötzlich den Hals zuschnürte, als sollte er ersticken. Das Hirn lag ihm wie Blei im Kopfe, er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Entsetzlich war das alles …

»Na«, sagte der Ältere nach einer Weile. »Du bist ja mit einem Male so schweigsam? Hast du endlich gemerkt, daß andere Leute außer dir auch Schmerzen haben, ohne groß darüber zu spektakeln, wie 'n Huhn, das ein Ei gelegt hat?«

»Gewiß, lieber Hans,« erwiderte er mühsam, »es hat eben jeder sein Päckchen zu tragen. Na, gute Nacht jetzt … da links leuchtet noch die rote Laterne bei der Witwe Gruber, gegenüber vom Landgericht … ich muß nach all der Aufregung noch ein paar Schoppen trinken, sonst kann ich nicht schlafen.«

»Wie du willst, ich geh' nach Hause. Nur eins noch: wenn du in den nächsten Tagen mit Ilse Harbrecht zusammenkommen solltest, bitte ich mir aus, keinen Schimmer von Anspielung auf das, was ich dir eben anvertraut habe!«

»Wie sollte ich wohl …?«

»Na, du hast es manchmal so an dir, ein bißchen Vorsehung zu spielen! Das möchte ich nicht. Wenn es Zeit ist, spreche ich selbst. Es ist da nämlich noch ein Schimmer von Hoffnung … eine Art von Strohhalm … vielleicht hilft der Onkel Wegener oder vielmehr seine Frau. Sie hätte es ja dazu, und die viermalhunderttausend Mark, mit denen Papa und ich Groß-Heinrichsdorf von Grund auf sanieren könnten, würden sie nicht arm machen. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, du kennst sie ja! Wenn aber doch … dann würde ich selbstverständlich auch dafür sorgen, daß du deine erhöhte Zulage kriegst!«

Er wollte aufschreien, aber der Ton blieb ihm in der Kehle stecken. Hans von Gorski lachte.

»Blödsinn, dafür sind wir doch Brüder! Aber, wenn du mir 'nen Gefallen tun willst, zieh' nachher die Stiebel in unserem sogenannten Salon aus! Sonst werd' ich wieder wach, und wenn einen dann im Bett die verfluchten Sorgen bekriechen, kann man nicht wieder einschlafen …«

Er hob den rechten Zeigefinger an den Helmrand und stiefelte mit klapperndem Säbel die Bahnhofsstraße hinab. Karl von Gorski stand betäubt, wollte ihm nachlaufen oder ihn zurückrufen, aber die Glieder versagten ihm den Dienst. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Laternenpfahl, steckte sich mechanisch eine neue Zigarette an und versuchte nachzudenken, was nun zu geschehen hätte, aber es ging nicht. Unablässig verfolgten ihn ein paar Worte, der Anfang eines Verses, den er vor Jahren auf der Schulbank gelernt hatte: »So endete mit Leide …« Weiter wußte er nicht, so sehr er sich auch bemühte, die Fortsetzung zu finden. Da gab es nichts anderes, als sich zu betrinken, bis man wie ein Stück Holz ins Bett fiel … Sonst konnte man noch verrückt werden, wenn man aus der gegenwärtigen Verfahrenheit die Gedanken in die Zukunft schickte …

In der kleinen Kneipe am Landgerichtsplatz war die Luft zum Schneiden, verschlug dem Eintretenden den Atem. Sechzig Menschen saßen in einem Raume, der kaum für zwanzig Platz bot. Die hübschen Kellnerinnen hatten Mühe, sich beim Bedienen zwischen den engen Stuhlreihen durchzuwinden. Nette Mädel mit gefesteten Grundsätzen, je nachdem sie arbeiteten oder Ausgang hatten. Im Dienst waren sie unnahbar, in ihrer freien Zeit aber hatten sie meistens nur ein einziges Verhältnis, dem sie zuweilen sogar treu waren …

Als Karl von Gorski eintrat, wurde er von den meisten Tischen angerufen: »Heda, Karlchen, hierher! Wir rücken ein bißchen zusammen …«

Er winkte ab, sein Bedarf an Simpelei über europäische Politik wäre reichlich gedeckt, und ging ins Hinterzimmer. Da saß ein Teil der jungen Gutsbesitzerschaft des Kreises mit etlichen Kaufleuten der Stadt, lauter Spielratten, die jede Gelegenheit ausnützten, ihrer Leidenschaft zu frönen. An einem Tische wurde ein »Tempel« gelegt, an den beiden anderen rasselte der Würfelbecher über dem Tableau der »Lustigen Sieben«. Der Sekt floß, wie man zu sagen pflegte, in Strömen, denn nur unter dem Gesichtspunkte des höheren Verdienstes setzte sich die Wirtin der Gefahr aus, wegen Duldung von Hasardspielen gerichtlich belangt zu werden … Da klemmte Karlchen Gorski sich an eine Tischecke. Er durfte sicher sein, auch hier, im sogenannten Weinzimmer, seinen Schoppen Münchener zu kriegen, dank seiner freundschaftlichen Beziehungen zur schwarzen Kathi. Unter den Spielern aber, die gierig auf die fallenden Würfel stierten, brauchte er keine lästigen Fragen zu befürchten.

An dem Tische war ein ziemlich hohes Spiel im Gange, mit Goldstücken und blauen Scheinen, ein fremder Herr hielt die Bank, angeblich der Vertreter eines Königsberger Güterschlächters, eingeführt von dem jüngeren Leutnant von Brinckenwurff. Der Kerl spielte mit einer fabelhaften Übung und zuckte bei Verlust oder Gewinn nicht mit der Wimper. Karlchen Gorski sah stumpfsinnig zu, seine Gedanken waren woanders …

Der kleine Uhlenburg, wegen seines stattlichen Körperumfanges »Tönnchen« genannt, tippte ihm auf die Schulter.

»Sie, Karlchen, entschuldigen Sie, zum Biertrinken ist auch vorne Platz, und ich muß immer beim Setzen an Ihrem Kopf vorbeilangen …«

Er wandte sich feindselig um.

»Stören Sie vielleicht meine großen Ohren?«

»Nee, das nicht, aber wo Sie nicht spielen, ist es doch – gelinde gesagt, komisch, die Mitspieler zu behindern. Ich stehe mir hier die Beine in den Leib und verlier' egalweg schon an vierhundert Mark.«

Karl von Gorski mußte sich gewaltsam zusammenreißen, eine durch nichts zu rechtfertigende plötzliche Wut verdunkelte ihm die Augen. Seine überreizten Nerven waren zum Springen gespannt.

»Herr Uhlenburg, ich muß Sie bitten, sich nicht so auf meinen Stuhl zu fleezen! Ich möchte ohne unbequeme Belästigungen meinen Schoppen trinken.«

»Und ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, dafür ist hier kein Platz!«

»Ruhe, Kinder, seid doch gemütlich«, klang es von den anderen Tischen herüber. Und der glattrasierte Bankhalter lächelte: »Wir können ja eine kleine Pause eintreten lassen, bis die beiden Herren sich ausgesprochen haben …«

Karl von Gorski machte eine kurze Handbewegung.

»Verehrter Herr Sowieso, was ich morgen mit meinem Kameraden Uhlenburg anfange, steht auf einem anderen Brett. Für jetzt … damit man mich nicht immer auf meinem wohlerworbenen Ruheplatz belästigt – wieviel nehmen Sie als Höchstsatz auf eine Nummer an?«

»Soviel Ihnen beliebt, Herr Leutnant …«

»Na, schön … da …«

Er holte seine Brieftasche hervor, drei sauer ersparte Scheine waren darin, eigentlich bestimmt, die Kleiderkasse zu regulieren, die Kasinorechnung zu decken und ein paar Läpperschulden zu zahlen.

»Auf die Sieben bitte …«

Der glattrasierte Bankhalter lächelte. Das war die richtige Stimmung, bei der sein Weizen blühte. Je schärfer die Einsätze, desto größer sein Gewinn, und am Ende siegte bei den überwiegenden Chancen die Bank.

Er hob den Becher auf, die beiden Würfel darunter zeigten zusammen die Zahl Sieben. Gleichgültig zahlte er neunhundert Mark aus … Das Geld kam im Laufe des Abends ja doch wieder zur Bank zurück.

Karlchen Gorski ließ Einsatz und Gewinn stehen.

»Noch mal, wenn es Ihnen recht ist …«

»Gewiß, selbstverständlich …«

Der Becher rasselte. Als die Würfel dastanden, zeigten sie wieder eine Sieben. Dreitausendsechshundert Mark hatte der Bankhalter zu zahlen. Der kleine Gorski zählte sorgfältig nach und stand lächelnd auf.

»So, Herr Uhlenburg, jetzt können Sie meinen Platz haben. Ich ziehe mich in die vorderen Gemächer und ins Privatleben zurück.«

Der Bankhalter machte einen Augenblick lang ein dummes Gesicht. Die um den Tisch sitzenden Spieler lachten schadenfroh auf. Der Leutnant Gorski aber ärgerte sich. Um den billigen Effekt eines Witzes hatte er vielleicht seine Chance verpaßt … Heute wäre sicherlich der Tag gewesen, ein Vermögen zu gewinnen und damit das Glück … Der Kerl da mit der ungeheuerlich dicken Brieftasche war ein Fremder, man brauchte sich nicht zu genieren, wenn man ihn im Spiel besiegte. Und Geld war Geld … Die am Spiel Beteiligten hielten reinen Mund, schon des eigenen Dekorums halber, und niemand fragte, woher das Geld stammt, wenn man es im entscheidenden Augenblick nur auf den Tisch legen konnte.

Er ging langsam nach Hause, allmählich kam die Nüchternheit. Und da schämte er sich der Gedanken, die er gehabt hatte. Auf so unwürdigem Grunde baute ein anständiger Mensch nicht sein Schicksal … Aber wie sollte sich aus Not und Wirrsal der klare Weg ergeben? Und wie sollte er vor dem Bruder dastehen, wenn der ihn am Hals packte: »Du! Ich breit' vor dir meine ganze Seele aus, und du hörst schweigend zu … Sagst mir nicht, das Mädel, um das du dich barmst, ist schon längst meine Braut?«

Zum Verrücktwerden war das – – –


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