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9

Im Garten des Landratsamtes sollte ein kleines Sommerfest gefeiert werden. Lampions waren in den Bäumen aufgehängt, auf dem Rasenplatze ein Tanzzelt errichtet worden. Von allen geladenen Gästen war aber nur Frau Bürgermeister Wessollek erschienen. Wie sie sagte, um die liebe Frau Landrat nicht im Stich zu lassen. Die anderen hatten alle im letzten Augenblick abgesagt, weil am Vormittag das Begräbnis des früheren Reichstagsabgeordneten von Gorski-Kalinzinnen stattgefunden hatte. Frau von Döhlau jedoch empfand diese Absagen als empörende Rücksichtslosigkeit. Sie hatte ihre Einladungen schon vor acht Tagen abgeschickt, auch an Herrn und Frau Rittmeister von Foucar, hätte also wohl erwarten dürfen, daß man sie auf das wenig erfreuliche Zusammentreffen der beiden Veranstaltungen aufmerksam machte. Frau Wessollek aber klärte sie auf, daß in diesem Falle von einer böswilligen Absicht wohl kaum die Rede sein könnte. Die Familie des unter so traurigen Umständen verunglückten alten Herrn hätte den Wunsch gehabt, die Beisetzung in aller Stille vorzunehmen, durch die Maurerarbeiten im Gewölbe der Ordensburger Kirche aber wäre es ausgekommen. Weil dort nämlich nur die Angehörigen der alten Rittergeschlechter beigesetzt würden, hätte es sich herumgesprochen, daß am Vormittag der Letzte aus der Kalinzinner Linie der Gorski zur ewigen Ruhe gebracht werden sollte …

Und die Frau Bürgermeister schilderte anschaulich, wie beim Eintreffen des von vier edlen Hannoveranern gezogenen Leichenwagens plötzlich ein imposantes Trauergefolge dagestanden hätte. Die fünfte Schwadron der Ordensburger Dragoner, die Offizierkorps der beiden Regimenter und die ganze Ritterschaft des Johanniterordens. Und schließlich sei auch der alte Superintendent Stury erschienen im vollen Ornate und habe die Leiche christlich eingesegnet, trotzdem er ebenso wie alle anderen Leidtragenden ganz genau wußte, Herr von Gorski habe durch einen geradezu schauerlichen Selbstmord geendet.

Die kleine Frau von Döhlau verspürte ein angenehmes Gruseln und reichte der Frau Bürgermeisterin die Schüssel mit den aus Königsberg verschriebenen Schleckereien, die eigentlich für die vornehmeren Gäste bestimmt gewesen war.

»Wieso? Hat er einen Brief hinterlassen?«

»Nein,« sagte Frau Wessollek und langte eifrig zu, »aber er hat einen gekriegt! Auch das sollte verheimlicht werden, aber, wissen Se, meine Damen, so was kommt ganz von selbst raus. Denn Frauenzimmer können nu mal nich dicht halten. Die Groß-Heinrichsdorfer Fräuleins hatten es von ihrem Papa erfahren, und weil sie ein halb Schock Kusinen haben, wußte es am nächsten Tag der ganze Kreis. Der alte Herr auf Kalinzinnen hat sich das Leben genommen, weil eine rachsüchtige Kanaille ihm den Glauben beigebracht hat, er wär' nicht der richtige Vater seiner Tochter. Mit einem photographierten Brief. Das hat er sich zu Herzen genommen, trotzdem bewiesen wurde, seine Frau hätte diesen Baron Totberg – denselben, den er vor langen Jahren im Duell erschossen hat – erst kennengelernt, wie die jetzige Frau Rittmeister von Foucar schon lang auf der Welt war.«

Frau von Döhlau rückte unwillkürlich näher.

»Und hat man eine Ahnung, wer dem alten Herrn diesen verhängnisvollen Brief in die Hände gespielt haben mag?«

Die Frau Bürgermeister griff von neuem in die Schüssel mit den duftenden Törtchen.

»Aber selbstverständlich, meine verehrte Frau Landrat! Der verewigte Herr von Gorski hatte im ganzen Kreis keinen Feind. Im Gegenteil, er hat im stillen viel Wohltätigkeit geübt – das weiß ich als Vorsitzende vom Frauenverein am besten. Also da hat sich wieder das Berliner Frauenzimmer bemerkbar gemacht, das gegen den Rittmeister von Foucar schon vor mehr als 'nem Jahr eine ganz abgefeimte Niederträchtigkeit angezettelt hatte …«

Es entstand eine beklommene Pause, Frau von Döhlau sah mit entsetztem Ausdruck zu der Baronin Nadanyi hinüber, und diese nagte in seltsamer Erregung an der vollen Unterlippe.

»Das ist doch eine durch nichts bewiesene Rederei«, sagte sie endlich. »Aber weiß denn eine der Damen, die so aburteilen, was der Rittmeister von Foucar diesem ›Berliner Frauenzimmer‹ angetan haben mag?«

Frau Wessollek zerdrückte gerade ein wundervolles Makronenplätzchen auf der Zunge, gefüllt mit einer Mischung aus Kognak und Schlagsahne. Und im Genusse verfiel sie in ihr geliebtes Ordensburgisch:

»Härrjehs, was wird 'erer schon angetan haben? Erst e bißche 'rumscharwänzelt, und wie's ihm säng'rich wurde, hat er wohl gesagt: ›Atcheh, mein Härz, und gräm' dir nich, dänn kurz ist die Soldatenliebe‹.«

»Und weshalb dieser plötzliche Abschied?«

Die Frau Bürgermeister richtete sich auf, bekam einen roten Kopf und bemühte sich, wieder Hochdeutsch zu sprechen.

»Da wird auch viel erzählt, Frau Baronin. Die einen sagen, er hätt' se erwischt, wie sie ihn mit 'nem Leutnant betrogen hätt'! Andere wollen wieder wissen, sie wär' – entschuldigen Sie gütigst, daß ich unter anständigen Damen so einen Ausdruck überhaupt in den Mund nehme –, also sie wär' eine verkappte Kokotte gewesen. Eins von jenen Weibern, die unter dem Schein der Wohlanständigkeit auf den Männerfang ausgehen. Ich kann mir ja nu nicht vorställen, wie so 'was überhaupt möglich ist …«

Die Baronin Nadanyi hob die Lippe über schneeweißen Zähnen.

»O doch, das gibt's, gnädige Frau! Und ich versichere Sie, es sind erbarmungslose Bestien. Nichts ist gefährlicher, als ihnen mit dem Honorar durchzugehen. Da verstehen sie nämlich keinen Spaß.«

»E nei,« sagte Frau Wessollek in lüsterner Neugier, »wieviel beanspruchen denn solche Frauenzimmer im Durchschnitt?«

»Das kommt ganz darauf an, wie hoch sie sich selbst einschätzen. Manchmal das Leben!«

Die rundliche Frau Bürgermeister spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken flog.

»Aber nei so was! Is das nu Spaß oder Ernst?«

Frau von Nadanyi zuckte die Achseln.

»Fragen Sie den Herrn Rittmeister von Foucar! Der wird ja selbst am besten wissen, was er versprochen hat …«

Jenseits der großen Gartenmauer erhob sich ein brausendes Getöse, wie das Rauschen eines entfesselten Wildbaches klang es. Gellende Schreie stiegen in die Höhe, schrille Pfiffe und danach ein unheilverkündendes Gewirr von Stimmen, untermischt mit dem Geräusch von Hunderten marschierender Füße.

Frau von Döhlau sprang erschreckt auf, die Frau Bürgermeisterin zog sie auf ihren Sitz zurück.

»Keine Angst, kleines Frauchen. Revolution kennen wir hier nicht! Aber die Menschen sind ganz verdreht. Alle halbe Stund' bringen se 'nen Spion auf die Polizeiwach' geschläppt. Mein armer Mann ist schon ganz erschöpft von den vielen Vernehmungen. Ihr Härr Gemahl auch, weil er im Landkreis doch die oberste Polizeigewalt hat. Und das meiste ist Unsinn, die Leute in ihrer Kriegsangst sehen überall Gespänster, auch wo gar keine sind.«

Das Geräusch der marschierenden Füße ebbte ab, eine plötzliche Stille trat ein, und daraus erhob sich ein kurzer Ruf in fremdartig klingender Sprache. Weder Deutsch noch Polnisch noch Russisch war es. Die Menge ringsum brüllte auf: »Schlagt sie tot, das alte Aas, sie gibt noch Signale!«

Die Baronin Nadanyi wurde blaß und griff nach dem Herzen. Und ihre verängstigten Augen spähten in die Runde, als suche sie einen Weg zur raschen Flucht. Aber auch ihr legte Frau Bürgermeister Wessollek die Hand auf den Arm:

»Bloß keine unnütze Beunruhigung, Frau Baronin! Das ist nämlich das alte Frauenzimmer, das der Herr Rittmeister von Foucar gestern abend im Orlower Wald festgenommen hat, beim Legen von einem Telegraphenkabel. Beim Verhör hat sie nur immer mit den Achseln gezuckt, und da soll sie wohl weiter abgeschoben werden an die Regierung in Allenstein.«

Aus dem dichten Laubengang, der den Platz unter dem Lindenbaum gegen das Landratsamt abschloß, kam Herr von Döhlau, Noch in dem schwarzen Gehrock, den er am Vormittage zum Begräbnis getragen und aus Zeitmangel nicht gewechselt hatte. Er trat, freundlich lächelnd, näher:

»Sehr nett von Ihnen, meine verehrte Frau Wessollek, daß Sie meinen Damen ein bißchen wenigstens über das verhagelte Festlein hinweghelfen. Ihr Herr Gemahl, mit dem ich bis vor wenigen Minuten gemeinschaftlich tätig war, kommt Sie vielleicht abholen …« Er wandte sich, immer mit dem verbindlichen Lächeln, an die Baronin Nadanyi:

»Sie, meine Gnädigste, muß ich leider der Gesellschaft für ein paar Augenblicke entführen. Sie würden mich zu lebhaftem Dank verpflichten, wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollten, mich zu einer kurzen Rücksprache in mein Amtszimmer zu begleiten.«

Die Baronin Nadanyi erhob sich unsicher. Frau von Döhlau trat mit zornigen Augen auf ihren Gatten zu:

»Weshalb diese ungewöhnliche Maßregel? Wenn du etwas von Josephine wissen willst, kannst du sie doch auch hier befragen?«

Er behielt sein liebenswürdiges Lächeln und verneigte sich leicht:

»Doch nicht so ungeniert, wie es die gnädige Frau in ihrem eigenen Interesse wünschen müßte! Also, Frau Baronin, darf ich Sie bitten, einstweilen voranzugehen? Herr Wachtmeister Lippert wird so gut sein, Ihnen den Weg zu meinem Amtszimmer zu zeigen.« Er hob die Hand, aus dem Laubengang trat ein untersetzter Mann in Zivil, mit dem schwarzen, steifen Hütchen in der Hand. Auf hundert Schritt sah man ihm den schlecht verkleideten Geheimpolizisten an.

Die Baronin preßte einen Augenblick lang die Zähne aufeinander, neigte dann den Kopf mit den schweren Flechten:

»Ich weiß zwar absolut nicht, um was es sich handelt, aber wenn man so energisch eingeladen wird …?!« Sie ging aufrecht von dem grünen Rasenplatz. Der Wachtmeister Lippert folgte ihr mit dem Hute in der Hand in ehrerbietiger Haltung …

Frau von Döhlau hatte dagestanden wie ein kleines Kind, das im unbedachten Laufen über einen Stein gestolpert war. Den Mund vor Schreck weit offen, unfähig, einen Laut hervorzubringen. Und plötzlich sprang sie ihren Mann wie eine Wildkatze an, überschüttete ihn mit einer Flut französischer Worte. Das da eben sehe doch nach einer Verhaftung aus, und wie er dazu komme, sich in die Angelegenheiten ihrer Freundin zu mischen. Die sei sein Gast, ebensogut wie der ihrige, und die gewöhnlichste Kavalierpflicht müsse ihm doch gebieten, hier zwei Augen zuzudrücken, statt eines, falls wirklich – unwahrscheinlich genug – irgendeine leichte Verfehlung vorliegen sollte.

Der Landrat von Döhlau hatte unbeweglich zugehört. Das verbindliche Lächeln war aus seinem zerhackten Korpsstudentengesicht verschwunden.

»Liebe Marion, bitte zähme deinen Eifer! Bisher haben die Zeugenaussagen für dich günstig gelautet, aber wenn du weiter so Partei für deine gewesene Freundin nimmst, könnte ich dich beim besten Willen nicht davor schützen, ebenfalls in die Untersuchung verwickelt zu werden.« Er hatte auch Französisch gesprochen, um von der Frau Bürgermeister nicht verstanden zu werden, wandte sich um und ging langsam zum Landratsamt zurück.

Die kleine Frau von Döhlau stand ratlos, sah sich mit wankenden Knien um. Und da erblickte sie ihre Kusine Françoise, wie diese, in einen Faulenzerstuhl hingegossen, den weißen Tanzschuh auf der Zehenspitze balancierte, als wenn die Geschehnisse ringsum sie nichts angingen. Sie fuhr auf sie los, rüttelte sie an der Schulter:

»Auf, Françoise! Ihm nach, und wir hämmern so lange mit den Fäusten gegen seine Tür …«

»Bis er uns ebenfalls einsperren läßt! Wenn du's darauf ankommen lassen willst, bitte! Ich habe nicht die geringste Lust, das Schicksal dieser Baronin Nadanyi zu teilen!«

»Ja, was hat sie denn überhaupt getan?«

Die Kleine blickte gleichmütig in die Höhe.

»Ich denke mir, sie hat ein bißchen Spionage gespielt. Nicht allzuviel, aber immerhin genug, um mit einigen Jahren Gefängnis bestraft zu werden.«

»Aber um Himmels willen, er ist doch mein Mann und sie meine beste Freundin! Weshalb hat er sie da nicht gewarnt oder ihr im letzten Augenblick freien Abzug gegeben?«

Fräulein Françoise stand auf, einen Sorbetstrohhalm zwischen den Zähnen.

»Es ist eine fremde Nation, die Preußen, wir verstehen sie nicht. Eine Zeitlang benehmen sie sich wie andere Menschen auch, plötzlich stößt man bei ihnen auf eine Geistesstörung, die sie mit dem Wort ›Pflichtgefühl‹ bezeichnen. Es ist sehr schmerzhaft, wenn man das Unglück hat, sich in einen dieser Spezies zu verlieben …«

Sie knickste wie ein Schulmädchen, sprach wieder Deutsch:

»Seien Sie nicht böse, verehrte Frau Bürgermeister, wenn ich mich jetzt zurückziehe. Ich muß meine Koffer packen und will morgen früh wieder nach meiner Heimat reisen. Wenn ich länger hier bleibe, mache ich vielleicht eine ähnliche Dummheit wie vor einem halben Jahre meine Kusine Marion …«

*

Herr von Döhlau trat in sein Amtszimmer, ein kurzer Wink entfernte den Wache haltenden Geheimpolizisten. Er ließ sich hinter dem langen, grün bezogenen Tische nieder und blätterte ein paar Augenblicke in einem Aktenbündel. Fast schien es, als suchte der sonst so gewandte Mann nach einem passenden Anfange. Die Baronin Nadanyi saß ihm lächelnd gegenüber.

»Ich kann mir denken, mein lieber Herr von Döhlau, daß Ihnen diese Affäre ein wenig peinlich ist, aber ich hoffe, das Mißverständnis wird sich mit einigen Worten aufklären lassen. Kurz bevor Sie mich zu dieser Unterredung baten, hörte ich nämlich von der drolligen Frau Bürgermeister …«

Herr von Döhlau unterbrach sie mit einer Handbewegung, seine Stimme klang rauh:

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, das ist ein Irrtum. Es handelt sich hier um keine Unterredung, sondern um eine polizeiliche Vernehmung. Aber ich bin ebenfalls der Ansicht, wir werden rasch fertig werden, denn die Beweise für Ihre Mitschuld an dem in Orlowen aufgedeckten Verbrechen sind leider so erdrückend …«

Sie hob überrascht den Kopf, lachte belustigt auf.

»Aber na! Das klingt ja ordentlich schauerlich! Und wenn S' mir jetzt noch sagen möchten, an was für einem Verbrechen ich beteiligt bin …?«

Herr von Döhlau griff nach dem frisch gehefteten Aktenstücke und schlug ein paar Seiten um.

»Gnädige Frau, ich werde Ihnen die Aussage des Herrn Rittmeisters von Foucar vorlesen. Sie ist so erschöpfend, daß es danach kaum nötig sein dürfte, noch eine andere Frage an Sie zu richten, als die, ob Sie den Inhalt dieser Aussage zugeben oder bestreiten.«

Sie netzte sich mit der Zungenspitze die trockenen Lippen.

»Ist Ihnen bekannt, Herr von Döhlau, in welchen Beziehungen Herr von Foucar – früher einmal – zu mir gestanden hat?«

»Sehr wohl, gnädige Frau. Es geht mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ebenfalls aus diesem Protokoll hervor. Und wenn ich jetzt bitten dürfte, mir aufmerksam zuzuhören? Herr Rittmeister von Foucar äußert sich – nach Feststellung seiner Personalien – zur Sache folgendermaßen:

›Ich hatte vor etwa anderthalb Jahren einer gewissen Frau Rheinthaler, geborenen Baronin Nadanyi ein Eheversprechen gegeben, das ich aus bestimmten, hier nicht näher zu erörternden Gründen zurücknehmen mußte. Seitdem verfolgte Frau Rheinthaler mich mit ihrem Hasse. Ein Anschlag, den sie gegen meine Offiziersehre mit Hilfe ihrer vertrauten Dienerin Ursula Blasitschek richtete, wurde vereitelt, Näheres ist darüber aus den Akten des von mir gegen mich selbst beantragten Disziplinarverfahrens zu ersehen. Die p. Blasitschek wurde damals auf meine Fürbitte außer Strafverfolgung gesetzt. Vor einigen Wochen, bei Gelegenheit des Regimentsjubiläums, erfuhr ich von Frau von Döhlau, daß die ihr befreundete Frau Rheinthaler mich noch immer nicht vergessen hätte. In welcher Weise sie an mich dachte, wurde mir durch eine Unterredung klar, die ich am Tage nach dem Jubiläum mit Herrn Oberst von Wegener, Abteilungschef im Großen Generalstabe, hatte. Dieser teilte mir nämlich mit, mein verstorbener Schwiegervater habe den photographischen Abzug eines Briefes erhalten, aus dem der Schluß zu ziehen sei, seine geschiedene Frau habe ihn bereits vor der Ehe hintergangen. Dieses Bubenstück war besonders infam, weil er mit ganz ausnehmend großer Liebe an seiner einzigen Tochter hing, deren Legitimität auf diese Weise in Zweifel gezogen wurde.«

Herr von Döhlau mußte beim Umblättern eine kleine Pause machen. Die Baronin hatte mit gesenktem Kopfe zugehört. Jetzt flog um ihren Mund ein ironisches Lächeln.

»Pardon, wenn ich Sie unterbrech' …«

»Bitte sehr, meine Gnädigste …«

»Alsdann, daß Herr Rittmeister von Foucar der preußischen Polizei Romane zu Protokoll gibt, kann ich nicht hindern. Ich versteh' nur nicht, was mich die ganze Sache angeht?«

Herr von Döhlau stand auf.

»Sie haben recht, gnädige Frau, wir können uns bei dieser Vernehmung manches schenken. Herr von Foucar legte bei seiner Aussage Wert darauf, zu erklären, wie er zu dem Entschlusse gekommen wäre, Ihnen und Ihrer vertrauten Helferin zunächst einmal das schnöde Handwerk der hinterlistigen Verleumdung zu legen. Nötigenfalls mit Gewalt, und das ist vielleicht menschlich begreiflich, denn sein verehrungswürdiger Herr Schwiegervater wurde durch den infamen Brief in geistige Verwirrung und Selbstmord getrieben, seine arme junge Frau aber liegt nach diesem Schlage schwer krank danieder. Gott allein weiß, ob sie's überwindet!«

Die Baronin Nadanyi sprang so jäh auf, daß ihr Stuhl mit lautem Poltern umfiel.

»Also das weis' ich von mir ab, daß mir diese Sachen zugeschoben werden! Und der Brief, von dem da immer die Red' ist, da hab' ich keine Ahnung!«

Herr von Döhlau hob mit höflicher Bewegung den Stuhl auf und trat wieder hinter seinen grünbezogenen Tisch.

»Ganz nebenbei bemerkt, das ist eine Unwahrheit, gnädige Frau. Unter den Papieren der verhafteten Ursula Blasitschek fand sich ein Entwurf von Ihrer Hand. Nach diesem Konzepte erst ist von einer geschickten Persönlichkeit der Brief in der Handschrift der geschiedenen Frau von Gorski abgefaßt worden. Aber jetzt zur Hauptsache, und da muß ich Sie schon, wohl oder übel, noch einmal mit der Aussage des Herrn von Foucar behelligen.« Und er begann wieder zu lesen.

»›Nachdem ich also erkannt hatte‹ – so gibt der Herr Zeuge weiter zu Protokoll – ›daß es für mich vor allem darauf ankommen mußte, mich der Papiere der Baronin Nadanyi zu bemächtigen, setzte ich mich mit dem Leutnant Karl von Gorski in Verbindung, dessen entschlossene Kaltblütigkeit mir bekannt war. Zu meiner Überraschung teilte er mir mit, daß er auf Grund eigener Feststellungen die Umgebung des Orlower Gutshofes schon seit zwei Nächten beobachtete, weil er einem landesverräterischen Unternehmen von bisher unerhörtem Umfange auf der Spur wäre. Drese Mitteilungen ließen mich erkennen, daß ich in diesem Falle mein persönliches Interesse hinter das der Allgemeinheit zu stellen hätte. Ich traf in Gemeinschaft mit Herrn von Gorski umfassende Vorbereitungen. Es gelang uns, die p. Blasitschek in kurzer Entfernung von der Grenze beim Legen eines Telegraphenkabels zu überraschen und festzunehmen‹«

Die Baronin Nadanyi lachte gezwungen auf:

»Das ist alles? Da muß ich Ihnen sagen, daß der Fang, den Herr von Foucar gemacht zu haben glaubt, in keinem Verhältnis zu seinen ›umfassenden Vorbereitungen‹ steht. Das Kabel, das er erwischte, war nichts weiter als eine telephonische Verbindung vom Schlosse zur Försterwohnung.«

Herr von Döhlau hob die Hand.

»Gnädige Frau, das Protokoll ist noch nicht zu Ende. Herr von Foucar sagte weiter aus: ›Eine Gruppe russischer Feldtelegraphisten unter Führung eines Offiziers wurde von uns ohne nennenswerte Gegenwehr gefangengenommen. Ein Versuch der p. Blasitschek, durch das Kabel ein Warnungssignal abzusenden, wurde vereitelt. Ein beschlagnahmter Geheimkode gestattete uns festzustellen, daß das in Orlowen verlegte Kabel das Endstück eines über den ganzen Bezirk reichenden Netzes telegraphischer Verbindungen bildete. Hieraus dürfte die Gefährlichkeit dieses Telegraphennetzes für den Ernstfall zur Genüge hervorgehen, und ich möchte, abschließend, bemerken, daß die Aufdeckung dieser Anlage in der Hauptsache dem ebenso energischen wie zielbewußten Vorgehen des Leutnants Karl von Gorski zu danken ist.«

Frau von Nadanyi war blaß geworden bis in die Lippen und mußte sich auf den Schreibtisch stützen.

»Das … das ist allerdings entsetzlich, aber ich schwöre, davon weiß ich nichts. Die Ursel hat da ganz allein für sich gehandelt.«

Herr von Döhlau sah sie bedauernd an.

»Gnädige Frau, ich gäbe etwas drum, wenn ich Ihrer Versicherung glauben dürfte! Leider liegt es damit genau so wie mit dem Briefe an den verstorbenen Herrn von Gorski: auch hier sind unanfechtbare, schriftliche Beweise vorhanden. Nicht nur für Ihre Mitwisserschaft, sondern dafür, daß Sie an diesem fürchterlichen Werke in höchster Aktivität mitgearbeitet haben. Aus Briefen, die bei der mehrfach genannten Blasitschek gefunden wurden, geht hervor, daß Sie mit geradezu leidenschaftlicher Freude die Gelegenheit begrüßten, auch für Ihr Teil zum Gelingen des ›großen Werkes‹ beizutragen.« Er faßte sich mit Daumen und Zeigefinger leicht in die Augenwinkel, richtete sich auf.

»Die Aufnahme eines Protokolls erübrigt sich danach wohl. Die Beweise sind ja erdrückend genug. Ich habe eine Wärterin aus dem Frauengefängnisse kommen lassen, die wird dafür sorgen, daß Sie mit dem Notwendigsten an Kleidung und Wäsche versehen werden. Sie verbleiben in diesem Raume bis zum Dunkelwerden, gegen zehn Uhr werde ich Ihren Transport in das Allensteiner Gerichtsgefängnis veranlassen.«

Sie war ganz zusammengebrochen, sah ihn aus entsetzten Augen an.

»Aber um Himmels willen, das geht doch nicht! Ich hab' das Gut von meinem eigenen Gelde bezahlt, da darf ich auf meinem Grund und Boden doch machen, was ich will? Und von meinem Vater her bin ich russische Untertanin. Da verlang' ich, daß ich den russischen Konsul sprechen darf.«

Er zuckte mit den Achseln.

»Gnädige Frau, so was haben wir hier nicht. Der nächste sitzt, glaube ich, in Königsberg. Aber auch er würde Sie abschütteln, denn von diesen im Dunkel sich abspielenden Verbrechen darf keine Regierung der Welt Kenntnis haben.«

Sie war auf ihrem Stuhle in sich zusammengekrochen.

»Aber … aber die in Paris haben doch ganz offiziell mit mir verhandelt? … Aber … aber wenn s' mich jetzt im Stich lassen, was … also was für eine Strafe hätt' ich wohl zu erwarten?«

»Gnädige Frau, ich bin nicht Ihr Richter! Und es klingt banal genug, aber ich muß Ihnen sagen, das hätten Sie vorher überlegen müssen. Die Strafe richtet sich nach der Schwere des Verbrechens. Dieses hier … ein Schauer fliegt einem über den Rücken, wenn man daran denkt, wieviel Menschenleben dadurch vernichtet werden konnten …«

Sie schluchzte auf und streckte hilflos die Hände aus.

»Aber das … das konnt' ich doch nicht wissen! Und ich bin dazu gekommen, ich weiß heut' noch nicht wie. Immer hab' ich nur auf meinen Haß gestiert, und die Ursel hat immer gehetzt, weil s' doch damals ihm zugeschworen hatt', er könnt' sich am End' der Welt verstecken, sie würd' ihn finden …«

Er drückte auf die Klingel. Der Wachtmeister Lippert trat ins Zimmer.

»Herr Landrat befehlen?«

»Frau von Nadanyi wird unter Ihrer Bewachung hier in diesem Zimmer bleiben, bis ich persönlich Ihnen weitere Order gebe. Sie stehen mir dafür, daß in der Zwischenzeit nicht die geringste Unregelmäßigkeit passiert. Sie schließen beide Türen ab und öffnen nur mir! Verstanden?«

»Sehr wohl, Herr Landrat!«

Er griff nach der Aktenmappe. Als er sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, vernahm er hinter seinem Rücken einen kurzen Laut. Er wandte sich jäh auf dem Absätze, aber er kam zu spät, die von kostbaren Ringen blitzende Hand vor dem geöffneten Mund zur Seite zu schlagen. Ein scharfer Geruch erfüllte den Raum. Er konnte die Umsinkende nur noch vor dem schweren Sturz auf die Dielen bewahren.

»Lippert, rasch einen Arzt!«

»Befehl, Herr Landrat!«

Der Landrat von Döhlau war mit der Sterbenden allein. Er bettete sie auf der schmalen Zeugenbank, schob ihr den dicken Aktenband unter den Kopf, in dem all ihre Verbrechen ausführlich verzeichnet standen; und da hätte er die harten Worte, vor denen sie in den Tod geflohen war, gern zurückgenommen. In einem solchen Augenblicke versagten alle Gründe. Ein armer, in die Irre gegangener Mensch lag da, der all seine Verfehlungen gebüßt hatte …


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