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Schwere Wolken des angehäuften Gewitters entladen sich.
Schwach saß allein. Madame Trullemaier war krank, Poll trauerte still und zurückgezogen. Er hatte keinen Auftrag von seinem Herrn, Jemanden zu rufen, er wich nicht aus der Wohnung.
Schwach's Freunde mußten viel in eigenen Geschäften zu thun haben und besuchten ihn nicht, sie ahnten die Vorgänge nicht, und Schwach wollte sie wie sich selbst schonen.
Lange war Schwach, in der zweiten Hälfte eines der nächsten Tage, so ungestört allein gesessen. Er wußte jetzt selbst oft nicht, wie lange er so zu sitzen pflege. Die Zeit war ihm ein Jahrhundert, oder auch nur eine Sekunde. Es war kein rechtes Denken und Folgern, kein Leben, sondern nur blos ein Hinbrüten und Vegetiren, in dem er sich befand. Die hagere, ehrwürdige Gestalt Krimpler's unterbrach dieses einsame Hinbrüten.
Krimpler war selbst bleich und bewegt und wußte nicht welche Worte er zuerst vorbringen solle. Er hatte Schmerzliches vorzubringen.
Schwach sah ihn eintreten, bewillkommte ihn nicht in alter Weise, ging ihm nicht entgegen, streckte kaum eine Hand aus. – Schwach nickte leise mit dem Kopfe, wie ein Kranker, und ließ sein Auge mit stummem Weh auf seinem Freunde haften. 126
Nicht war es Schwach um den Besitz des Verlorenen zu thun; ihn erschütterte das unversehene Hinauf- und Hinabschleudern vom Schicksale, da er nichts gefordert; ihm war es um das Urtheil, um den Spruch der Welt zu thun, die ihn sicherlich verdammen werde.
So hatte er es sich nicht vorgestellt, wenn er auch selbst geforscht und gezweifelt über sein Erbe. Aber so hinausgedrängt, hinausgeworfen, höhnend blosgestellt, so ehrenrührig vernichtet zu werden – das hatte er nie erwartet! –
Mit solchem Ausdrucke sah er Krimpler an; und des armen Alten Herz, das ohnehin enggeschnürt war, wurde nur noch heftiger, schmerzlicher gepreßt. – »Schwach!« rief er, nachdem er ihm eine Weile verstummt gegenüber gestanden hatte, und schlug die Hände zusammen, während seine glühenden Augen sich feuchteten. – Schwach gab noch immer keine Antwort und schüttelte leise, wie sich selbst bejammernd, das Haupt.
Sein Schweigen und Nicken war für den alten Krimpler die höchste Pein. Das war Schwach, der frühere Freund, der ihn stets so freudig-wohlwollend, so treuherzig willkommen geheißen, angelächelt, auf den weichsten Stuhl gezogen hatte! –
Endlich konnte Krimpler einige Worte über sich gewinnen, und: »Schwach, was ist Ihnen, was ist geschehen?« war sein Ausruf, bei dem er zu dem Angeredeten ging und ihm die hagere, zitternde Hand freundlich auf die Schulter legte. –
Schwach hob die matte Hand, zeigte mit einem Finger 127 vor sich nach den Möbeln . . . Krimpler richtete die Blicke dahin . . . »Versiegelt!« rief er, schlug die Hände zusammen und zitterte beinahe sichtlich.
Nach einer Pause stummen Entsetzens und Schmerzes drängte Krimpler gewaltsam in sich alles Wehe zurück und nahm das Wort.
»Theurer, armer, unglücklicher Freund!« sagte er. »Ich komme von unserer, von Rübe's Schreibstube, wo Ihr Wechsel bereits von gerichtlichen Händen vorgezeigt wurde. Eben heute wollte ich ihn holen, morgen war er fällig – ich sah ihn mit Staunen und Schreck in gerichtlichen Händen. Wie kam er in diese? frug ich mich, und mußte hieher. – Jetzt weiß ich es. – Armer theurer Freund! Ihr Prozeß nimmt die schlechteste Wendung . . . Sie sind gepfändet . . . Ihr Eigenthum ist mit Beschlag belegt. Armer, theurer Freund! Jetzt kann ich nichts mehr für Sie thun . . . ich war nahe daran, Ihren Wechsel noch heute zu präsentiren . . . ich hätte Rübe vielleicht gezwungen ihn zu zahlen . . . Sie wissen wol nicht, daß ich ihn gekündigt . . . Sie wissen nicht daß . . .« Krimpler stockte.
»Was?« frug Schwach tonlos, aber doch mit schmerzensvoller Neugierde.
Daß . . . Rübe's Komptoir voll von Menschen ist . . . daß sich die Leute zudrängen . . . die Börse ist in Aufregung . . . die Kurse sind seit einigen Tagen stark gewichen . . . Rübe ist wesentlichst betheiligt . . . Leute machen Anforderungen. – – Mein lieber Schwach . . . Schlimmes steht bevor . . . Rübe ist nicht mehr sicher!« 128
»Rübe?« fragte Schwach gelassen und nicht mehr bewegt als früher; als ob er blos irgend eine herumgehende Neuigkeit angehört hätte.
Krimpler sah ihm erstaunt in's Gesicht; und er war fast erschreckt, ja über das Fassungsvermögen des Freundes beunruhigt, da dieser eine für ihn so inhaltschwere Mittheilung so unbewegt aufnahm. Der arme, gepeinigte Krimpler! Er bedachte nicht, daß Schwach sich für eigenthumlos, enterbt, beraubt, nackt, hinausgestoßen ansah und in seinen eigenen Augen nichts besaß, als seinen Leib mit dornenvollem, schmerzensüberströmendem Herzen.
»Daß Ihr Wechsel von Gerichtswegen heute vorgezeigt und vorgemerkt wurde, kann demselben noch sehr nützen,« sagte Krimpler wieder. »Die Börse ist noch fortwährend in Agitation . . . . die Preise wanken, sind stark zum Schwinden geneigt . . . Rübe hat Verpflichtungen zu erfüllen . . . dringende, unaufschiebbare . . . seine Waren werden von schönern zu gleichem Preise überwogen . . . seine Spekulationspapiere sinken . . . das Bureau strömt von ab- und zugehenden, fragenden und fordernden Menschen . . . ich ging . . . ich konnte nicht nützen . . . ich mußte auch Sie sehen! Wenn einige unvorsichtige Dränger unter seinen Mahnern und Gläubigern sind, so . . . müssen sie das Unvermeidliche herbeiführen . . . das Schlimmste steht zu befürchten!«
»Das Schlimmste, das Schlimmste,« sagte Schwach tonlos vor sich hin und sah zu Boden.
Eine stumme, schmerzensvolle Pause folgte wieder. Krimpler ließ sich erschöpft auf einen Stuhl nieder, dem armen Freunde gegenüber. 129
Da riß sich plötzlich, nach kurzer, lautloser Weile, die Thüre auf . . . draußen klingelte noch hell und rasend die Glocke des Einganges . . . und zur aufgerissenen Thüre stürzte mit fliegendem Gewande, mit wirren, zerrütteten, schweißdurchnäßten Haren und entsetztem Gesichte – Schnepselmann herein!
Krimpler sprang auf und rief: »Was gibt's?«
Schnepselmann suchte mit seinem unheimlichen, verwirrt blickenden Auge Schwach. – »Rübe . . .« stammelte der Agent athemlos.
»Rübe . . .« wiederholte Krimpler, indem er ihm die Worte vom Munde zu nehmen suchte.
»Hat fallirt!« rief Schnepselmann aus – stürzte sich an Schwach's Brust und glitt von dieser zu den Füßen Schwach's nieder.
Schnepselmann war zusammengesunken, gebrochen, wie ein verurtheilter Missethäter, und gerne hatte er sich, fast gezwungen von Erschöpfung, Weh und Reue, zu den Füßen Schwach's sinken lassen.
Hier war sein Richterstuhl, hier war das unschuldige, edle Opfer seiner sündigen That! – 130