Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nach Hause zurückkehrend begegnete Schwarz dem alten Grafen mit seiner Tochter, welche die Treppe herabstiegen. Das Fräulein warf einen neugierigen Blick auf ihn und schauete, nachdem sie ein paar Schritte sich entfernt hatte, sich noch einmal mit einem Lächeln aus den Lippen um. Schwarz bemerkte, dass die Gräfin sehr schön sei und hörte mit wahrem Vergnügen, wie sie dem Vater sagte: »Das ist der junge Doktor, Papa, der unter uns wohnt«. Es fehlte ihm in der Tat nicht mehr viel zur Beendigung der Universitätsstudien – es machte ihm jedoch Freude, schon für einen Doktor zu gelten. Schwarzens Wohnung stand offen, der Hausmeister räumte in derselben auf. Von ihm erfuhr Schwarz Ausführliches über den Grafen und die junge Gräfin Der Hausmeister liebte beide nicht besonders: er murrte über ihren Geiz, obgleich er mutmaßte, dass sie sehr arm sein müssten, weil sie den Mietzins nicht besonders regelmäßig zahlten. »Eure hochmütige große Dame« – sagte er – »den ganzen lieben Tag tut sie nichts als spielen und singen – sie mag sich wohl schon nach einem Manne sehnen, aber was ist da zu tun?« Der Hausmeister riet Schwarz ab, ihre Bekanntschaft zu machen »es ist ein hochmütiges Volk, und in der Tasche ist es leer, dass es ein Graus ist!«
– Die alte Gräfin ist schon lange tot? – fragte Schwarz.
– Sie starb vor ungefähr drei Jahren. Sehen Sie, geehrter Herr, sie waren einmal reich, er verlor aber sein Vermögen in Getreide, das er in Kompanie, wie man sagt, nach Odessa liefern sollte – er wollte die andern anschmieren und kam selbst in die Patsche. Die Selige war die Beste unter ihnen. Eine brave Frau. Sie kränkte sich zu Tode. Sie wohnen schon seit fünf Jahren hier.
– Haben sie viele Bekannte, Familie?
– Wahrscheinlich nicht, denn ich sah noch niemanden. Schwarz warf sich darauf, Augustinowicz erwartend, aufs Bett, trank ein Glas Tee und schlief bald ein. Als er wieder erwachte, fühlte er sich etwas unwohl. Augustinowicz war noch nicht da, obgleich es schon stark dämmerte. Endlich trat er in der herrlichsten Laune ein. Die Dame, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, hieß Frau Witzberg und ihre Tochter Karoline. Augustinowicz hatte beide auskultiert der Tochter hatte er fleißiges Tanzen, der Mutter das Reiten angeraten. Übrigens hatte er ihnen versprochen, sie noch zu besuchen und Schwarz einzuführen. – »Die alte Dame sagte mir, dass man dem Grafen schon eine Vorladung eingehändigt habe, was mich übrigens wenig kümmert? – sagte Augustinowicz. – »Die Alte war sogar beim Grafen, fand aber nur die junge Gräfin, die ihr gefallen habe. Die arme Gräfin war sehr erschrocken, als sie den Zweck des Besuches der alten Dame erfuhr. Ich fragte die alte Dame, weshalb ihr um ein paar lumpige Tausende so viel zu tun sei, da sie doch, wie es scheine, die Frau eines Krösus sei? Sie erwiderte nur, dass ihr Gemahl Kleophas aber nicht Krösus geheißen habe. Wenn das mir gehörte, – sagte sie – ich hätte die Leute nicht behelligt, aber es« ist alles das Eigentum meines Kindes. Da drückte ich mit innigem Gefühle diesem Kinde unter dem Tische die Hand: ich war ganz gerührt – mein Ehrenwort darauf, ich war ganz in Gefühl aufgelöst. Beim Abschiede küsste ich auch der alten Dame die Hand. Das Fräulein heißt Malinka – ein prächtiger Name – obgleich ein schöner oder hässlicher Name nur Nebensache ist. Warum bist du denn so blass, Schwarz?« – Ich fühle mich nicht recht wohl und habe auch keine Lust zu schlafen. Ich schlief auf dich wartend ein. Gib mir ein Glas Tee.
Augustinowicz schenkte den Tee ein, zündete sich eine Pfeife an und legte sich zu Bette. Schwarz dagegen erhob sich, rückte sich den Fauteuil zum Pulte, nahm eine Feder und begann zu schreiben. Er warf aber bald die Feder hin. Die Gedanken wogten ihm förmlich im Kopfe; er lehnte sich im Sessel zurück und gab ihnen freien Lauf. Ein anderer hätte sich Träumereien hingegeben – Schwarz kompilierte und summierte die eigene Vergangenheit, dachte über seine gegenwärtigen Verhältnisse nach und zog Schlüsse betreffs der Zukunft. In dieser Beziehung kostete es ihm Mühe, sich rein reflektierend zu verhalten. Die Worte: »Das ist der junge Doktor, Papa«, kamen ihm unwillkürlich ins Gedächtnis. Doktor und ein Priester der Wissenschaft zu fein, einerseits durch den Geist, andrerseits durch die Stellung, das Vermögen, den Ruhm (Schwarz war noch nicht für den Ruhm unempfindlich) zu herrschen, die Blicke aller auf sich zu ziehen, ein Lächeln hervorzurufen, die Herzen zu gewinnen ... Da kam ihm Helene in Erinnerung. Im Reiche des Gefühls stand ihm die Wahl nicht mehr frei. Er fühlte sich gebunden und doch wollte er der Frauen Augen auf sich gerichtet, ein Lächeln um ihre Lippen spielen sehen, er wollte die so lieben Worte flüstern hören: »Es ist der junge Doktor!« Zum ersten Male konnte er den sich ausdrängenden Gedanken nicht los werden, dass Helena ihm in seinem Vorwärtsschreiten hinderlich sein könnte. Mit diesem Gedanken wollte er ins Reine kommen. Ihr beiderseitiges Alter bildete kein Hindernis, sie hatte einundzwanzig, er vierundzwanzig Jahre. Was war wohl der Grund der Furcht, dass ihm Helena einst zur Last fallen könnte? Sein Gewissen sagte es ihm, dass seine Eitelkeit hier vor allem die Schuld tragen müsste. Er kannte wenige Frauen, er wollte ihrer mehr kennenlernen und sie beherrschen. Es waren aber auch andere Rücksichten maßgebend, die Schwarz nicht gelten ließ. Er liebte zu wenig. In seinem Innern lagen unermessliche Gefühlssummen, von denen er kaum einen Teil auf den Namen Helenens erhob. Er trug in sich eine tiefe Ahnung dieser Kräfte – diese Ahnung raubte ihm die Ruhe. Er wollte auf den Grund der Dinge gelangen, aber selbst einem solchen selbstbewussten Kopfe, wie ihn Schwarz besaß, war es nicht leicht, zu den letzten Resultaten zu gelangen. Zuletzt wusste er selbst nicht, ob Helene all die möglichen künftigen Triumphe aufwog. Für immer ein so dankbares und liebendes Weib zu besitzen, hieß im Fluge das geflügelte Phantom des Glückes erhaschen und hätte er im voraus gewusst, wie wenige dieser künftigen Triumphe von wirklichem Werte und wie viele Täuschungen sein würden, er hätte in der Wahl nicht geschwankt. Aber diese Illusionen waren ihm noch nicht offen vors Gesicht getreten.
Alle diese Meditationen peinigten Schwarz, die Lampe in der Stube brannte dunkler – er begann zu schlummern; da erweckte ihn plötzlich ein heftiges Klopfen im obern Stockwerke. »Auch dort schlafen sie nicht« – sagte er sich und dachte an die Gräfin und ihr heiteres Lächeln. »Wie leicht und ruhig ein solches Mädchen schlafen musst Es ist aber Wahrheit darin, dass die Mädchen den Vögeln ähnlich sind – der Mann arbeitet, mühet sich ab, denkt – und sie ... die da oben ist ein gar hübsches Vögelein ... Ich möchte sie einmal schlafend sehen ... Aber es ist schon spät, halb zwei und mir ... Was ist das? ...« Im Augenblicke stand er aufrecht da.
Ein heftiges Reißen an der Glocke brachte ihn ganz zum Bewusstsein, er öffnete die Türe und die Lampe in die Höhe hebend, sah er die junge Gräfin vor sich stehen. Sie war leichenblass, die eine Hand hielt eine Kerze, die andere beschattete die Flamme. Sie hatte ein Häubchen und eine Nachtjacke an, durch welche Hals und Brust sichtbar waren.
– »Herr! rief sie aus – mein Vater stirbt!« Schwarz ergriff, ohne ein Wort zu sagen sein Etui und dem erwachten Augustinowicz zurufend, so schnell als möglich nachzukommen, folgte er ihr eilig. Im ersten Zimmer stand das vor einem Momente erst verlassene Bettchen der Gräfin mit zurückgeworfener Bettdecke; im andern Zimmer lag der Graf. Er atmete oder richtiger er röchelte laut, war schon bewusstlos, und hatte blutigen Schaum auf den Lippen und ein blaues Gesicht. Nach einer kleinen Weile kam Augustinowicz herbeigerannt, nicht gekämmt und kaum angekleidet. Beide beschäftigten sich mit dem Kranken, ohne die Gräfin zu beachten, die stöhnend zu den Füßen des Bettes fast bewusstlos kniete. Plötzlich blickten Schwarz und Augustinowicz einander an, beiderseits bemerkend, dass gar keine Hoffnung mehr vorhanden war. »O Gott! o Gott! Vielleicht sollte man noch jemand herbeirufen!« ächzte die Gräfin in Tränen ausbrechend.
– Laufe nach Skotnicki – rief Schwarz aus; Augustinowicz lief davon, obgleich er sicher war, dass er bei seiner Rückkehr mit dem Arzte den Grafen nicht mehr unter den Lebenden finden werde. Indessen beschäftigte sich Schwarz mit aller Energie und Geistesgegenwart mit dem Kranken, schlug ihm zur Ader, und erklärte endlich, auf die Uhr blickend, dass der Anfall vorüber wäre. – »Gott sei Dank! Also ist noch Hoffnung« rief die Gräfin aus – »Der Anfall ist vorüber«, – wiederholte Schwarz – Indessen trat Augustinowicz mit dem Doktor ein.
Der Doktor Skotnicki erklärte, dass der Kranke für dieses Mal gerettet sei, fügte aber ohne Zeremonie hinzu, dass wenn der Anfall sich noch einmal wiederhole, der Tod unvermeidlich sei. Er empfahl, den Kranken zu bewachen und ihn keinen Augenblick zu verlassen. Unsere Freunde saßen demnach die ganze Nacht bei ihm. Früh morgens kam der Kranke zu sich und verlangte einen Geistlichen. Augustinowicz musste ihn holen und brachte auch in der Tat einen hagern Probst oder Kaplan, der über den Kranken die gebräuchlichen Gebete und Litaneien hersagte, dann die Beichte hörte, ihm das Abendmahl gab und die letzte Ölung erteilte. Viele Stunden blieb der Graf beim Bewusstsein, sprach mit Schwarz, gab der Tochter seinen Segen, sprach vom Testamente, verrichtete mit einem Worte alles, was bei Sterbenden als die christliche Art und Weise von dieser Welt ins Jenseits überzugehen in Gebrauch ist. Unter diesen Zeremonien verstrich der Tag. Als es zu dämmern begann, versuchte Schwarz die Gräfin zu bereden etwas auszuruhen, denn die arme junge Dame konnte trotz ihrer kräftigen Leibesbeschaffenheit in Folge des Schmerzes und der Schlaflosigkeit sich kaum auf den Füßen halten. Sie sträubte sich lange und gab endlich nach, als er sie fast dazu zwang. Beim Fortgehen reichte sie Schwarz die Hand und dankte ihm für seine Bemühung um den Vater. Schwarz betrachtete sie jetzt erst aufmerksamer. Sie mochte zwanzig Jahre oder noch weniger haben, indem die stark entwickelte Gestalt sie älter, als sie in der Tat war, erscheinen ließ. Sie war von mittlerem Wuchse, hatte einen großen aber anmutigen Mund, blaue, gescheite Augen, dunkle Haare und im allgemeinen ein ungemein sympathisches Gesicht Die schöne Stirne wer von den Haaren umschattet, der Gesichtsausdruck und jede Bewegung verrieten den echt aristokratischen Schönheitstypus. Nebstdem hatte sie besonders kleine Hände.
Der Graf entschlummerte ungefähr eine Stunde nach ihrem Fortgehen. Schwarz und Augustinowicz saßen erschöpft und nachdenkend bei der von einem Schirme bedeckten Lampe. Augustinowicz begann endlich halblaut:
– Sage mir, was geschieht mit der Gräfin, wenn der ... Dabei zeigte er auf den Kopf des Kranken und fuhr sich, die Augen schließend, mit dem Finger über die Kehle.
– Ich denke eben daran – erwiderte Schwarz. Vielleicht findet sich jemand von der Familie.
– Und wenn sich niemand findet?
– Man wird am Ende mit ihr darüber sprechen müssen. Es sind augenscheinlich arme Leute; der Hausmeister sagte mir, »dass der Mietzins für die Wohnung bis jetzt nicht gezahlt ist. Aber sie werden doch allenfalls irgendwo Verwandte oder wenigstens Bekannte haben.
– Wir sprechen übrigens später davon, sagte Augustinowicz, der sich ungern lange bei einem Gegenstande aufhielt.
– Warte doch – unterbrach ihn Schwarz – für jeden Fall habe ich da eine eigene Idee. Bis jetzt kam niemand hierher, und es ist rein untunlich, dass die Arme (erwies mit den Augen auf die Türe, hinter der die Gräfin schlief) ... nach seinem Tode so allein bleibe. Sprich – fragte er hastig – ist deine Bekannte, die Frau Witzberg eine fromme Person?
– O! Wie eine Oblatschale!
– Ehrlich, gutmütig?
– Ungemein, – aber welche Beziehung hat dies alles zur Gräfin?
– Ich möchte sie ihrer Fürsorge anempfehlen.
– Aber der Prozess?
– Eben deshalb.
Hier machte der Kranke plötzlich eine Bewegung – Schwarz warf einen raschen Blick auf ihn und fuhr dann flüsternd fort:
– Nur der Mietzins steht noch im Wege, aber das macht sich, ebenso wie das andere. Vielleicht bleibt übrigens etwas nach seinem Tode zurück.
– Ja der Mietzins, der Mietzins! – flüsterte Augustinowicz. Um nicht einzuschlafen, muss ich dir ein Histörchen erzählen. Ich zahlte niemals den Mietzins, ja es ärgerte mich, wenn man ihn nur erwähnte, und konnte doch keinen einzigen Hausherrn daran gewöhnen, keinen Mietzins zu fordern. Endlich gelang es mir doch mit einem. Ich wohnte im Hause eines Beamten: es war ein altes Männchen und dumm wie Midas Ohren. Da saß ich einmal in dem zur Wohnung gehörenden Gärtchen und da es Sommer und nachts war, zählte ich aus Mangel einer interessanteren Beschäftigung die Sterne am Himmel. Ich wurde etwas träumerisch, denn ein gestirnter Himmel disponiert zum Träumen. Da kommt dieser Esel mit seinen Ungereimtheiten: er verlangte geradezu Bezahlung des Zinses. Nun erhob ich mich von meinem Platze und feierlich mit der Hand zwischen Ost und West einen Bogen ziehend, fragte ich ihn mysteriös:
– Schaut Ihr diese Unermesslichkeit und diese Millionen Gotteslichter?
– Ich sehe sie, erwiderte er, über den Ton meiner Rede etwas erschrocken ... aber ...
– Schweigt! sagte ich mit ernster Stimme und den Hut ziehend blickte ich gen Himmel, worauf ich auf den erschrockenen Hausherrn blickend losdonnerte:
– Leerer Staub! Vergleicht damit Euere fünf Rubel ...
Ein dumpfes Ächzen unterbrach Augustinowicz. Der Graf wurde ganz blau, krümmte sich, die Finger an den Händen zogen sich knäuelartig zusammen – es kam augenscheinlich ein zweiter Anfall. Schwarz stürzte im Momente zum Kranken – er streckte ihm fast mit Gewalt den Arm gerade.
– Rasch, lass ihm zur Ader! – rief er mit gedämpfter Stimme.
Es wurde stille – durch einen eigentümlichen Zufall brannte in diesem Momente auch die Lampe noch dunkler. Von Zeit zu Zeit vernahm man nur die rasch und halblaut gesprochenen Worte Schwarzens.
– Der Puls?
– Wasser!
– Er erstickt, flüsterte Augustinowicz. Beide hielten den Atem an sich, man vernahm den dumpfen Schlag der Lanzette, der Stahl drang in die Vene, aber es kam kein Blut.
– Es ist zu Ende, es hilft nichts mehr! rief Schwarz tief aufatmend aus.
Schweißtropfen traten ihm auf die Stirne.
– Er lebte ... hat gelebt ... bis er starb – sagte Augustinowicz mit der gleichgültigsten Miene von der Welt. Wir haben das Unsrige getan – jetzt gehen wir schlafen.