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Schwarz überlegte lange, welche Fakultät er wählen solle.
– Ich gab mir selbst mein Ehrenwort, dass ich mein Leben nicht zersplittern wolle, deshalb denke ich nach – sagte er zu Wassilkiewicz.
Tatsache war's, dass ihn die Universität in vollem Ernste anzog. Aus verschiedenen Weltgegenden zog die Jugend wie ein Schwarm Kraniche hierher. Die einen gingen, die anderen kamen für die schmachtenden Köpfe zu schöpfen. Es schwärmten die jungen Leute um die Wissenschaft, wie die Bienen um den Honig, sie drängten sich zusammen, sie zerstreueten sich, sie gingen haufenweise dahin, sie schöpften aus dem Borne des Wissens, sie schöpften aus sich, sie schöpften aus dem Leben, sie gaben und empfingen es, schlossen es in sich oder verschleuderten es, schritten voran oder standen still, fielen oder rangen und siegten; in dieses Meer tauchend sanken einige unter, andere schwammen oben auf. Bewegung, Lärm – das Leben herrschte absolut. Die Universität war gleichsam das gemeinschaftliche Mutterhaus, in dem die Gehirne sich befruchteten; – eine Art Strudel, in dem Vernunft und Jugend kochend aufbrauste. Sie öffnete sich jährlich und gab reiche Früchte, neue Pfropfreiser empfangend. Die Menschen wurden dort wiedergeboren. Es war schön anzuschauen, wie die Jugend ähnlich den Wasserwogen sich Jahr aus Jahr ein in die Welt ergoss, den Blinden Licht, der menschlichen Scholle gleichsam Nahrung bietend. Aus diesem Meere nun befand sich der Lebenskahn Schwarzens – wohin sollte er ihn lenken? Die verschiedenen Fakultäten lockten ihn gleich ebenso vielen Häfen. Welche Richtung nehmen? Er dachte lange nach, endlich schiffte er hinaus. Er wählte die medizinische Fakultät.
– Es sei wie ihm wolle, ich muss reich sein – sagte er sich, die Fakultätsfrage entscheidend.
Schwarz schwankte aber vorzüglich deshalb, weil er als offener Kopf an den Geheimnissen der Wissenschaft unendliches Interesse nahm. Es zog ihn wohl auch die Literatur und das Recht an, die Naturwissenschaften betrachtete er aber als den Triumph des menschlichen Geschlechts. Seine diesfälligen Ansichten hatte er noch aus den Mittelschulen mitgebracht. Es befand sich dort ein junger Professor, der die Chemie lehrte, ein großer Enthusiast, der sagte seinen die Schule verlassenden Hörern, die Hand aufs Herz legend:
– Glaubt mir, meine Teueren, dass es außerhalb der Naturwissenschaften nichts als leeres Geschwätz gibt.
Freilich versicherte der Präfekt nach beendigter Rekolektion, dass nur die Kirchenlehre den Menschen zur ewigen Glückseligkeit führe, aber Schwarz, den schon damals der Präfekt »einen gemeinen Ketzer« nannte, schnitt dazu eine so garstige Grimasse, dass er einerseits alle Anwesenden zum Lachen reizte, andererseits aber auch Vielleicht nicht ganz mit Unrecht sich der Donner auf sein Haupt entlud. Er wählte also die medizinische Fakultät. Übrigens hatte auch auf ihn in dieser Beziehung Wassilkiewicz eingewirkt. Wassilkiewicz, selbst noch Student, hatte ob mit Recht oder Unrecht einen ungeheuern Einfluss auf die Jugend. Es traf sich einmal, dass in einem Studentenkreise beim gemütlichen Geplauder ein Philolog mit mehr Heuchelei als Aufrichtigkeit deduzierte, dass der der Wissenschaft sich Weihende sich ihr allein ganz hingeben, die Welt und das Glück hintansetzen, sich ihr einverleiben, nur ihr Reflex, « ihr Organ sein müsse. In dieser Deduktion war mehr falscher Eifer und Schwulst als Wahrheit: »Man sagt – fuhr der Redner fort – dass ein isländischer Fischer so starr in den Glanz des Nordlichtes blickte, dass er der Strömung nicht widerstand. Die Wogen zogen ihn in die Tiefe, während er die Augen aufs Nordlicht heftend von seinen Strahlen gerötet dastand, bis ihn der Geist des Abgrunds hinunterriss und in eine Glaswoge einschloss – aber in den Augen des Fischers hatte sich das Nordlicht abgedrückt.
»Das ist die Wissenschaft und das Leben! – sprach er weiter – wer einmal die Stirne vor ihr neigt, den mögen die Wogen des Lebens in welche Tiefe immer tragen, das Licht bleibt uns für immerdar.«
Es gibt in der Welt Grundsätze, die man nicht anerkennt, es gehört aber eine allzugroße Dosis von Mut dazu, gegen sie anzukämpfen. Es schwiegen daher auch gar manche, nur Wassilkiewicz schnaufte ärgerlich, erhob sich im Sessel, raffte sich endlich auf und begann:
– Nichts als leere Worte! Möge der Schwabe diese Wissenschaft freien, nicht wir! Bei mir ist die Wissenschaft für die Menschen, nicht die Menschen für sie. Möge der Deutsche zum Pergament werden. Dein Fischer war ein Narr; hätte er das Ruder gerührt, er würde das Nordlicht gesehen und seinen Kindern Fische heimgebracht haben. Wieder was Neues! Das Volk leidet Hunger und Kälte und du wirst dich der Welt entreißen und ihr eine Last und keine Hilfe sein? Oh, Tetwin, Tetwin! (so hieß der frühere Redner) bedenke die Bedeutung und nicht den Klang deiner Worte. Ihr schmelzt die Dummheit mit dem Verstande zusammen! Heute scheint es dir, dass du für einige vergilbte Blätter dem Glücke entsagen kannst. Falsch! Wenn der Moment kommt, und das Herzweh dir die Brust zusammendrückt, sehnst du dich redlich nach Glück und Liebe. Bei mir zum Beispiel in Samogitien, da sitzt in einer Hütte ein greises Paar – Vater und Mutter, beide taubenweiß und sie erzählen sich von mir Elenden Dinge wie von einem Prinzen mit goldnem Haare. Was würde ich wohl wert sein, wenn ich mich in meine Bücher vergrabend an sie nicht dächte und sie in ihren alten Tagen verließe? Ich wäre keinen Pfifferling wert! Ich bin hierhergekommen, aber bei der Wissenschaft gedenke ich ihrer und meiner. Und nicht ich allein, jeder, der das Feld bearbeitet, hat das Recht, das Brot seines Ackers zu genießen. Die Wissenschaft in allen Ehren – aber der Gelehrte entziehe sich nicht dem Leben, sonst liegt er auf der Bärenhaut. Gelehrt, gelehrt! ... und kann sich die Weste nicht zuknöpfen, er sieht die Kinder nicht, kümmert sich nicht um die Frau. Warum nicht die Praxis des Lebens mit der Wissenschaft in Einklang bringen? Warum sie nicht dem Leben einflößen und sie durchs Leben befruchten?
So sprach Wassilkiewicz und schnaufte Doch es handelte sich hier nicht darum, ob er wahr oder falsch gesprochen – wir haben diese Rede deshalb hergesetzt, weil Schwarz, von Natur dem Praktischen zugeneigt, sie sich zu Herzen nahm, sie erwog, bedachte, reflektierte und die Fakultät der Medizin sich wählte.
Man sage was man wolle, der Mensch bringt gewisse Neigungen mit auf die Welt. Schwarz war von Geburt mehr zum Realismus geneigt, hielt sich mehr an die Sache als an die Idee – war auch kein Freund der Dialektik. Er sah lieber den Gegenstand wie er wirklich war, als verschönert. Der Gedankengang im Menschenkopfe ist ein doppelter: die einen gehen ewig vom Mittelpunkte aus, die anderen streben dem Zentrum zu, die ersten gehen in die zu erforschenden Dinge näher ein und beleben sie, solche mit dem Ursprunge durch den zarten Faden der Erfahrung verbindend – es sind dies die sogenannten schöpferischen Talente; die anderen greifen die Gegenstände wie sie sich darbieten auf, tragen sie in sich hinein, wo sie solche erst in Parallele setzen, verbinden, auseinanderlegen, ordnen – es sind die wissenschaftlichen Talente. Jene sind geborene Schöpfer, diese Forscher. Es herrscht zwischen ihnen derselbe Unterschied wie zwischen dem Verschwender und dem Geizhals – wie zwischen Einatmen und Ausatmen. Es ist schwer zu bestimmen, welche besser: die einen haben die Gabe des Schaffens, die anderen des Umschaffens und vor allem der Umgestaltung, des Reformierens. Auch in den anderen liegt eine aktive Kraft – wohl besitzt auch der Magen diese Eigenheit. Das vollkommene Gleichgewicht zwischen der Bewegung vom und zum Zentrum ist Genialität. Die natürliche unumgängliche Folge ist auch die Bewegung in die Weite.
Schwarz besaß die zweite Befähigung – sich zu konzentrieren. Es war ihm dies auch wohl bekannt und diese Kenntnis bewahrte ihn im Leben vor vielen Ungehörigkeiten, verlieh seinen Begierden und Kräften ein gewisses Gleichgewicht; er unternahm nie etwas, dessen Durchführung ihm unmöglich war. Er rechnete mit seinem Ich. Endlich besaß er noch viel Eifer, den man bei ihm eine gewisse Zähigkeit im Studium nennen konnte. Der Geist, der aus alles nüchtern zu blicken liebte, wollte auch alles nüchtern sehen; um aber gründlich zu sehen, muss man gründlich wissen. Er liebte es nicht zu erraten – er musste es kennen In Folge dessen lernte er nie etwas halb. Wie die Spinne die Fliege, umgab er das zu erforschende Objekt hastig mit einem Gedankennetze, zog das Objekt in sich hinein, saugte es sozusagen aus und verdauete es endlich. Seine Gedanken hatten nebstbei eine hohe Elastizität. Er begehrte – das Attribut der Jugend. Er war selbständig bis zum Dünkel. Gar oft verwarf er die allgemein angenommene Ansicht eben deshalb, weil sie die Autorität für sich hatte. Man muss aber gestehen, dass er in diesem Falle bemüht war, alles, was dagegensprach, aufzusuchen – fand er nichts, gab er nach. Er entwickelte dabei keine geringe Energie des Gedankens und der Aktion. All dies bildete seine Kraft, seine Wehr, teils erworben, teils angeboren. Wir müssen noch hinzufügen, dass er nebstbei zweitausend Rubel in Vermögen hatte. – Alle diese Fonds kalkulierend widmete er sich der Medizin. Aber mit je größerm Feuereifer er dazu gegriffen, desto mehr wurde er im Anfange entzaubert. Er liebte zu begreifen und da musste man memorieren ... Das trifft nicht jeder, jedenfalls ist es eine Sache des Gedächtnisses und des festen Willens, nicht des Verstandes Man musste das Gedächtnis des Auges in der Hand haben, man musste eine Unzahl von Sachen sich ernstlich einprägen, im Kopfe ausschichten, wie Getreide im Speicher. Es war beinahe eine Handwerksarbeit, der Geistesorganismus zog aus diesen Vorräten keinen Nutzen, weil er sie nicht verdauete, nicht assimilierte. Es fehlte ihm an Nahrung. Die Philosophie des physischen Baues der Organismen kann sich, was die Subtilität und die Masse der Resultate betrifft, allen anderen gleichstellen, aber Schwarz begann erst den Organismus selbst kennenzulernen, es wurden ihm noch keine Fingerzeige gegeben, ob eine Philosophie dieser Lehren existiere. Da er nun aber einmal begonnen hatte, musste er weiter waten und er tat's. Die technische Seite der Wissenschaft war abstoßend, undankbar, voll verborgener Schwierigkeiten, unerwarteter Geheimnisse, nicht selten dunkel, oft kaum reif, am öftersten spröde, immer mühsam. Es schien beinahe, als ob hier die Natur dem menschlichen Geiste den Krieg erklärt hätte. Schwarz überwand die Schwierigkeiten und ging Vorwärts. Diese Technik hatte in den Augen Schwarzens noch eine andere, traurige Seite, sie übte moralisch einen schlechten Einfluss aus. Sie deckte das Ende des Lebens auf, ohne zu zeigen, ob eine Fortsetzung vorhanden sei. Man zog ohne das geringste Zaudern vom Tode den Vorhang weg. Die ganze Abscheulichkeit dieses unterirdischen Arbeiters zeigte sich da in seiner nackten Unverschämtheit. Das Tote war zugleich eine zynische Verheißung für die Lebenden. Am hellen Tage schien einem der Tod zuzurufen: zum Wiedersehen in der Finsternis! Es war gleichsam eine Herausforderung, die in sich den Verzweiflungsvollen Hinweis enthielt auf die menschliche Ohnmacht gegenüber der unerbittlichen, boshaften, frechen und widerlichen Macht. Dass man dieser Macht geradeaus ins Angesicht blickte, rief in dem Geiste der Jungen eine heftige Reaktion hervor. Diese Reaktion offenbarte sich im Axiome:
– »Verlieren wir keine Zeit, genießen wir das Leben, denn früher oder später holt alles der Teufel!«
Bei diesen Beschäftigungen verwischte sich stufenweise die Zartheit der Gefühle; die Indifferenz wurde zur Brutalität, der Ehrgeiz verwandelte sich in Neid, Liebe in Leidenschaft, die Leidenschaft in tierischen Trieb. Die Liebe sah man wie die Sonne durch ein rußiges Glas, man fühlte die Wärme, aber sah nicht das Licht. Schwarz wehrte diese Eindrücke ab, schüttelte sie von sich und schritt vorwärts. Schließlich musste man dem wissenschaftlichen Grundsatze treu bleiben. Wer zu einer Bahn Vertrauen hat, betritt keine andere, die gewählte erscheint ihm als die beste. In
der von Schwarz erwählten und betretenen Bahn stützte sich seit den Zeiten des Hippokrates alles auf Erfahrung. Das Gesicht, das Gehör, der Geschmack, der Geruch, das Gefühl, das sind die einzigen Kriterien, auf die sich der jetzt schon gewaltige Bau stützt. Das ist der Glaube der Jugend, in allem der Gegensatz des Alters. Was in die Wissenschaft aus einem andern als dem experimentalen Wege gelangte, war zweifelhaft. Jeder beurteilt die Begriffe der anderen nach den eigenen. Die Annahme eines außerhalb der Empirie Stehenden erscheint, wenn auch wahr, durch ein solches Glas gesehen als Leichtsinn. Es existieren nur die erforschten Dinge. Das Verbindungslied der Ursachen und Folgen sind die Notwendigkeit oder der Gedanke, aber erst im Menschen; die Geschichte ist eine mehr oder weniger skandalöse Chronik; das auf die Erfahrung gestützte Recht der modus vivendi der Gesellschaft, die Spekulation eine Geisteskrankheit. Schwarz wehrte sich dieser Ideen nicht, denn sie hinderten ihn nicht im Fortschritte. Er lag also seinem Studium ob.