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Sie gingen durch den Vicus Patricius, den Viminalis entlang zu dem ehemaligen Viminalischen Tore, nahe der Ebene, auf der Diokletian später seine prächtigen Bäder errichtete. Sie schritten an den Resten der Mauer des Servius Tullius vorüber und gelangten über immer ödere Strecken nach der Via Nomentana, wandten sich dann links zur Via Salaria, kamen über Hügel voller Sandgruben und hier und da über Begräbnisplätze. Inzwischen war es völlig dunkel geworden, und da der Mond noch nicht aufgegangen war, wäre es für sie ziemlich schwer gewesen, den rechten Weg zu finden, wenn er ihnen nicht, wie es Chilon vorausgesehen hatte, von den Christen gewiesen worden wäre. Wirklich waren rechts und links und vor ihnen dunkle Gestalten zu erblicken, die sich vorsichtig zwischen den Sandgruben hinbewegten. Einige von diesen Leuten trugen Laternen, verbargen sie jedoch so gut wie möglich unter ihren Mänteln, andere, die einen besseren Weg hatten, gingen im Dunklen. Das militärische Auge des Vinicius unterschied an ihren Bewegungen die jüngeren Männer von den älteren, die sich auf Stöcke stützten, und von den Frauen, die sorgfältig in lange Mäntel gehüllt waren. Die Straßenwächter und die die Stadt verlassenden Dorfbewohner hielten diese nächtlichen Wanderer augenscheinlich für Arbeiter, die nach den Sandgruben gingen, oder für Mitglieder von Begräbnisbrüderschaften, die mitunter nächtliche Feiern veranstalteten. Je weiter der junge Patrizier aber mit seinen Begleitern kam, desto mehr Laternen erglänzten ringsum, und desto größer wurde das Gedränge der Menschen. Einige sangen mit leiser Stimme Lieder, die wie es Vinicius vorkam, sehr traurig klangen. Manchmal vernahm sein Ohr abgerissene Worte oder Sätze der Lieder zum Beispiel: »Wache auf, der du schläfst« oder »Stehe von den Toten auf;« der Name Christus aber erklang immer von neuem von den Lippen der Männer und Frauen. Einige, die in seine Nähe kamen, sprachen: »Friede sei mit euch!« oder »Gelobt sei Jesus Christus!« Aber Friede kam nicht über sein Herz, das im Gegenteil rascher zu schlagen begann, als er glaubte, Lygias Stimme zu hören. Jeden Augenblick begegneten ihm Frauen, deren Gestalt und Bewegungen ihn in der Dunkelheit an sie erinnerten, und erst, als er zu verschiedenen Malen seinen Irrtum eingesehen hatte, begann er seinen Augen zu mißtrauen.
Der Weg erschien ihm lang. Er kannte zwar die Umgebung Roms gut, aber im Finstern vermochte er sich nicht in ihr zurechtzufinden. Jeden Augenblick stießen sie auf Engwege, Mauerreste und Hütten, die er sich nicht erinnerte, in der Umgebung der Stadt gesehen zu haben. Endlich trat die Mondsichel aus einer dichten Wolkenmasse hervor und beleuchtete die Gegend besser als die trüben Laternen. Nun begann in der Ferne etwas zu glänzen wie ein Feuer oder das Licht einer Fackel. Vinicius wandte sich an Chilon und fragte ihn, ob dies das Ostrianum sei.
Chilon, auf den die Nacht, die weite Entfernung von der Stadt und die geisterhaften Gestalten augenscheinlich einen tiefen Eindruck machten, entgegnete mit etwas unsicherer Stimme: »Ich weiß es nicht, Herr; ich bin noch nie im Ostrianum gewesen. Aber sie könnten ihren Christus auch näher bei der Stadt verehren.«
Nach einiger Zeit fuhr er fort, da er das Bedürfnis nach Unterhaltung und Hebung seines Mutes fühlte: »Sie versammeln sich wie Mörder, und doch ist ihnen der Mord verboten, wenn mich jener Lygier nicht unverschämt belogen hat.«
Vinicius, der an Lygia dachte, war ebenfalls über die vorsichtige und geheimnisvolle Art erstaunt, in der sich die Gläubigen versammelten, um ihren obersten Priester zu hören, und sagte daher: »Wie alle Religionen so hat auch diese ihre Anhänger mitten unter uns, und die Christen sind eine jüdische Sekte. Warum versammeln sie sich hier, da doch in dem Stadtteile jenseits des Tiber jüdische Tempel stehen, in denen die Juden am hellen Tage opfern?«
»So ist es nicht, Herr. Die Juden sind gerade ihre erbittertsten Feinde. Man hat mir erzählt, daß es schon vor der Thronbesteigung des jetzigen Caesars beinahe zu einem Kriege zwischen den Juden und ihnen gekommen wäre. Den Caesar Claudius verdrossen diese Feindseligkeiten so, daß er alle Juden auswies; dieses Edikt ist aber jetzt nicht mehr in Kraft. Die Christen verbergen sich nun vor den Juden und dem Pöbel, der sie, wie du weißt, aller Verbrechen und Schandtaten bezichtigt.«
Eine Zeitlang schritten sie schweigend weiter, dann begann Chilon, dessen Angst mit der Entfernung von der Stadt zunahm, von neuem: »Als ich zu Euricius ging, borgte ich mir von einem Barbier eine Perücke, und ich habe mir auch zwei Bohnen in die Nase gesteckt. Sie dürfen mich nicht erkennen. Aber wenn sie mich auch erkennen, werden sie mich nicht töten. Es sind keine schlechten Leute, es sind sogar sehr ehrliche Leute, die ich liebe und ehre.«
»Verschwende deine Lobsprüche nicht voreilig,« entgegnete Vinicius.
Sie kamen jetzt durch einen engen Hohlweg, der auf beiden Seiten von Wällen eingefaßt war, über die sich an einer Stelle ein Aquädukt hinzog. Der Mond trat aus einer Wolke hervor, und sie erblickten am Ende des Hohlweges ein Gemäuer, das, ganz mit Efeu bewachsen, im silbernen Glanze des Mondlichtes dalag. Es war das Ostrianum.
Vinicius begann das Herz rascher zu schlagen.
Am Tore nahmen ihnen zwei Grubenarbeiter das Losungswort ab. Nach kurzer Zeit befand sich Vinicius mit seinen beiden Gefährten auf einem ziemlich geräumigen, auf allen Seiten von Mauern eingeschlossenen Platze. Hier und dort erhoben sich einzelne Denkmäler, in der Mitte aber sah man die eigentliche Katakombe oder die Krypta, die in ihrem unteren Teile unter der Erde lag und Gräber enthielt; vor dem Eingange zur Krypta plätscherte ein Brunnen. Es war augenscheinlich, daß in der Katakombe selbst nicht eine allzugroße Menschenmenge Platz finden konnte; Vinicius konnte daraus mit Leichtigkeit schließen, daß die Versammlung unter freiem Himmel auf dem Hofe stattfinden sollte, auf dem sich denn auch bald eine sehr zahlreiche Menschenmenge einfand. Soweit das Auge reichte, schimmerte Laterne an Laterne, obgleich viele der Ankömmlinge ohne Licht erschienen waren. Mit Ausnahme weniger, die unverhüllten Hauptes dastanden, waren alle aus Furcht vor Verrat oder auch zum Schutze gegen die Kälte vermummt, und der junge Patrizier dachte mit Unruhe daran, daß, wenn sie die ganze Zeit so blieben, es ihm in dieser Menschenmenge und bei dem trüben Licht unmöglich sein würde, Lygia herauszufinden.
Aber mit einem Mal wurden vor der Krypta einige Pechfackeln angezündet, welche in kleinen Stößen aufgehäuft dagelegen hatten. Es wurde hell. Nach einiger Zeit begann die Menge, erst leise, dann immer lauter einen seltsamen Gesang. Vinicius hatte noch nie in seinem Leben ein ähnliches Lied gehört. Dieselbe Sehnsucht, die ihm schon aus den Gesängen entgegen geklungen war, welche die ihm auf dem Wege nach dem Begräbnisplatze begegnenden Leute mit halblauter Stimme vor sich hingemurmelt hatten, zeigte sich auch jetzt in dieser Hymne, nur weit bestimmter und kräftiger. Zuletzt wurde der Gesang so ergreifend und großartig, als ob zugleich mit den Menschen der ganze Friedhof, die Hügel, die Gruben, die ganze Umgebung von Sehnsucht erfüllt wären. Vor allem herrschte der Eindruck vor, als läge darin ein nächtliches Flehen, ein demütiges Gebet um Rettung auf der Wanderschaft und in der Dunkelheit. Es schien, als erblickten die zum Himmel emporgewandten Augen dort in der Höhe jemand, als flehten ihn ausgebreitete Arme an, herabzusteigen. Als der Gesang zu Ende war, trat gleichsam ein Augenblick der Erwartung ein, was einen so tiefen Eindruck machte, daß Vinicius sowohl wie seine Begleiter unwillkürlich zum gestirnten Himmel emporblickten, wie in Furcht, es könne sich etwas Außergewöhnliches ereignen und wirklich ein Wesen aus der Höhe herabsteigen. Vinicius hatte in Kleinasien, in Ägypten und in Rom selbst eine Menge Tempel der verschiedensten Art gesehen, hatte vielerlei Religionen kennen gelernt und viele Gesänge gehört, aber hier erst sah er zum erstenmal Menschen, die ihren Gott im Gesange anriefen, nicht um irgend einen feststehenden Ritus zu beobachten, sondern aus der Tiefe des Herzens, aus einer so wahr gefühlten Sehnsucht heraus, wie sie Kinder nach Vater oder Mutter empfinden mögen. Man hatte blind sein müssen, um nicht zu sehen, daß diese Menschen ihren Gott nicht nur verehrten, sondern auch aus tiefster Seele liebten. Etwas derartiges hatte Vinicius noch in keinem Lande, bei keinem Gottesdienste, in keinem Tempel erlebt; denn wer in Rom und Griechenland überhaupt noch den Göttern Ehre erwies, tat dies, um Hilfe für sich zu erlangen, oder aus Furcht; aber niemandem kam es in den Sinn, sie zu lieben.
Obgleich sich seine Gedanken mit Lygia beschäftigten und er sie mit gespannter Aufmerksamkeit in der Menge suchte, konnte er doch nicht umhin, das Wunderbare und Ungewöhnliche, was sich in seiner Nähe zutrug, zu beobachten. Inzwischen wurden noch einige Fackeln in das Feuer geworfen, das die Begräbnisstätte mit rotem Lichte erfüllte und den Laternenschimmer überstrahlte. In diesem Augenblicke trat ein Greis, in einen Mantel mit Kapuze gehüllt, aber mit entblößtem Haupte aus der Katakombe und bestieg einen Stein, der in der Nähe des Stoßes Fackeln lag.
Die Menge verneigte sich bei seinem Anblick. Stimmen in Vinicius' Nähe begannen zu flüstern: »Petrus … Petrus! …« Einige knieten, andere breiteten die Arme nach ihm aus. Es trat so tiefe Stille ein, daß man jeden Pechtropfen von den Fackeln zu Boden fallen hörte und das Wagengerassel aus der Nomentanischen Straße sowie das Rauschen des Windes in den wenigen Pinien, die in der Nähe der Begräbnisstätte wuchsen, vernahm.
Chilon beugte sich zu Vinicius hinüber und sagte: »Das ist er! Der erste Jünger Christi – ein Fischer!«
Der Greis hob die Hände empor und segnete mit dem Zeichen des Kreuzes die Anwesenden, die in diesem Augenblick auf die Kniee fielen. Vinicius und seine Gefährten, die sich nicht verraten wollten, folgten dem Beispiele der anderen. Der junge Mann konnte sich nicht sofort den Eindruck, den er davon empfing, klar machen; denn es kam ihm vor, als sei jene Gestalt, die er da vor sich sah, ziemlich schlicht und zugleich außergewöhnlich, und, was noch stärker ins Gewicht fiel, als sei diese Außergewöhnlichkeit ein unmittelbarer Ausfluß jener Schlichtheit. Der Greis trug keine Mitra auf dem Haupte, keinen Eichenkranz um die Stirn, keine Palme in der Hand, kein goldenes Schild auf der Brust, keine mit Sternen gestickten oder weißen Gewänder, mit einem Worte keine Abzeichen, wie sie die orientalischen, ägyptischen, griechischen Priester oder die römischen Flamines trugen. Und von neuem machte diese Verschiedenheit denselben Eindruck auf Vinicius, den er beim Anhören der christlichen Hymne empfand; denn auch dieser »Fischer« erschien ihm nicht wie ein in der Abhaltung von Zeremonien geübter Hoherpriester, sondern wie ein schlichter, betagter und unendlich verehrungswürdiger Zeuge, der von fernher gekommen war, um eine Wahrheit zu verkünden, die er gesehen und mit Händen gegriffen hatte, an die er glaubte, wie man an Selbsterlebtes glaubt, und die er liebte, eben weil er daran glaubte. Auch lag in seinen Zügen eine Kraft der Überzeugung, wie nur die Wahrheit selbst sie besitzt. Und Vinicius, der sich als Skeptiker dem Zauber, den der Greis ausübte, nicht hingeben wollte, gab sich doch einem fieberhaften Verlangen hin, zu erfahren, was wohl von den Lippen dieses Gefährten des geheimnisvollen »Christus« fließen werde und was das für eine Lehre sei, an die Lygia und Pomponia Graecina glaubten.
Nun begann Petrus zu sprechen, und er sprach anfangs wie ein Vater, der seine Kinder ermahnt und sie lehrt, wie sie leben sollen. Er forderte sie auf, den Ausschweifungen und der Genußsucht zu entsagen, dagegen Armut, Herzensreinheit und Wahrheit zu lieben, Unrecht und Verfolgung geduldig zu ertragen, den Vorgesetzten und der Obrigkeit zu gehorchen, sich vor Verrat, Betrug und Verleumdung zu hüten und endlich einander und selbst den Heiden ein gutes Beispiel zu geben. Vinicius, für den das Gute nur in dem bestand, was ihm Lygia wiederverschaffen konnte, das Böse in allem, was zwischen ihnen eine Scheidewand aufrichtete, wurde von einigen dieser Ratschläge gerührt, ärgerte sich aber zugleich über sie, da er glaubte, daß der Greis, indem er Reinheit und den Kampf gegen die Begierden einschärfte, es nicht nur wage, seine Liebe zu verdammen, sondern auch Lygia gegen ihn einnehme und sie in ihrem Widerstande bestärke. Er sah ein, daß, wenn sie unter den Anwesenden war und diese Worte hörte, sie sich zu Herzen nehmen und ihn von diesem Augenblicke an als Feind ihrer Religion und als Unwürdigen betrachten müsse. Bei diesem Gedanken erfaßte ihn heftiger Ärger. »Was habe ich denn da Neues gehört?« sagte er zu sich. »Soll denn das jene geheimnisvolle Lehre sein? Jedermann weiß das, jedermann hat es gehört. Die Armut und die Einschränkung der Bedürfnisse schärfen ja die Zyniker ein, die Tugend hat schon Sokrates als etwas Altes und Gutes empfohlen; der erste beste Stoiker und selbst so einer wie Seneca, der fünfhundert Tische aus Zitronenholz besitzt, preist die Mäßigkeit, ermahnt zur Wahrheit, zur Geduld in Widerwärtigkeiten, zur Ausdauer im Unglück, und all das ist wie verlegenes Getreide, das die Mäuse annagen, die Menschen aber nicht essen wollen, weil es vor Alter dumpf riecht.« Daneben aber ergriff ihn auch etwas wie ein Gefühl der Enttäuschung, da er die Enthüllung irgendwelcher unbekannter magischer Geheimnisse erwartet oder wenigstens einen sich durch seine Beredsamkeit auszeichnenden Rhetor zu hören gehofft hatte und nun nur die schlichtesten, jedes Schmuckes entbehrenden Worte vernahm. Er war nur über die Stille und die Aufmerksamkeit erstaunt, mit der die Versammlung lauschte. Der Greis aber sprach weiter zu diesen ihn aufmerksam anhörenden Menschen und ermahnte sie, gut, friedfertig, gerecht, arm und sittenrein zu sein, nicht um im Leben Frieden zu haben, sondern um nach dem Tode ewig bei Christus zu weilen in solcher Freude, in solcher Ehre, Kraft und Wonne, wie sie niemand auf Erden je empfunden habe. Und jetzt konnte sich Vinicius, trotzdem er eben noch Abneigung gegen das Gehörte empfunden hatte, nicht verhehlen, daß doch ein Unterschied zwischen der Lehre des Greises und dem bestehe, was die Zyniker, Stoiker oder andere Philosophen behaupteten; denn diese empfahlen das Gute und die Tugend als das Vernünftige und einzig Praktische im Leben, während jener dafür Unsterblichkeit verhieß und zwar nicht eine trostlose unter der Erde, in Leere, Niedergeschlagenheit und Mangel, sondern eine glänzende, fast dem Leben der Götter gleiche. Zudem sprach er davon, wie von etwas völlig Gewissem. Bei einem solchen Glauben erhielt die Tugend einen geradezu unbegrenzten Wert, und ein armseliges Leben wurde etwas ungemein Gleichgültiges. Denn eine kurze Zeit dulden, um eines überschwenglichen Glückes teilhaftig zu werden, ist etwas ganz anderes, als nur darum leiden, weil es das Naturgesetz so mit sich bringt. Und der Greis sprach ferner davon, daß Wahrheit und Tugend um ihrer selbst willen zu lieben seien, denn das höchste Gut und die von Ewigkeit her bestehende Tugend sei Gott; wer daher Wahrheit und Tugend liebe, der liebe Gott und werde dadurch zu seinem geliebten Kinde. Vinicius verstand dies nicht recht; er wußte jedoch schon aus den Worten, die Pomponia Graecina zu Petronius gesprochen hatte, daß dieser Gott nach der Meinung der Christen alleinig und allmächtig sei; als er daher jetzt abermals hörte, er sei allgütig und allgerecht, mußte er sich unwillkürlich sagen, einem solchen Weltenschöpfer gegenüber erschienen Jupiter, Saturn, Apollo, Juno, Vesta und Venus als ein eitler lärmender Haufen, in dem alle zugleich und jeder auf seine eigene Faust stritten. Aber das größte Erstaunen ergriff den jungen Mann, als der Greis zu lehren begann, daß Gott auch die Allliebe sei und daß der, der seinen Nächsten liebe, Gottes Hauptgebot erfülle. Es sei nicht genug, nur die Angehörigen des eigenen Volkes zu lieben, sondern der Gottmensch habe sein Blut für alle vergossen und auch unter den Heiden Anhänger gefunden wie den Centurio Cornelius; es sei ferner nicht genug, nur diejenigen zu lieben, die uns Gutes tun, sondern Christus habe auch den Juden, die ihn dem Tode überliefert, und den römischen Soldaten, die ihn ans Kreuz geheftet haben, verziehen. Man müsse daher denen, die uns Unrecht zufügen, nicht nur verzeihen, sondern sie auch lieben und ihnen das Böse mit Gutem vergelten; es sei auch nicht genug, nur die Guten zu lieben, sondern man müsse auch die Schlechten lieben, da es nur durch die Liebe möglich sei, das Böse aus ihnen auszutreiben. Bei diesen Worten sagte sich Chilon, daß er jenen Arbeiter umsonst ausgesucht habe und daß Ursus niemals in seinem Leben sich dazu entschließen werde, Glaukos zu töten, weder in dieser Nacht noch in einer folgenden. Er tröstete sich aber dafür mit der anderen Folgerung, die sich aus der Lehre des Greises ziehen ließ, nämlich, daß auch Glaukos ihn nicht töten werde, sollte er ihn auch entdecken und erkennen. Vinicius glaubte jetzt nicht mehr, daß in den Worten des Greises nichts Neues enthalten sei, sondern legte sich erstaunt die Frage vor: was ist das für ein Gott? was ist das für eine Religion? und was sind das für Menschen? Nichts von dem, was er gehört hatte, fand in seinem Kopfe Platz. Es waren dies alles für ihn unerhörte, neue Begriffe. Er fühlte, daß, wenn er beispielsweise diese Lehren befolgen wollte, er alle seine Anschauungen, seine Lebensgewohnheiten, seinen Charakter, sein ganzes bisheriges Wesen gleichsam zusammentragen und alles zu Asche verbrennen, ein ganz neues Leben beginnen und eine ganz neue Seele erhalten müsse. Eine Religion, die ihm gebot, die Parther, Syrer, Griechen, Ägypter, Gallier und Britannier zu lieben, seinen Feinden zu verzeihen, ihnen Böses mit Gutem zu vergelten und sie zu lieben, kam ihm geradezu wahnsinnig vor. Zugleich aber hatte er das Gefühl, als liege gerade in diesem Wahnsinn etwas Mächtigeres, als in allen bisherigen philosophischen Systemen. Er hielt diese Lehre wegen ihres Wahnsinns für undurchführbar, aber eben wegen dieser Undurchführbarkeit für göttlich. Er sträubte sich im Innern dagegen, hatte aber dabei die Empfindung, als verlasse er mit ihr gleichsam ein Blumenfeld, einen berauschenden Duft und als müsse jeder, der diesen nur einmal eingeatmet habe, wie im Lande der Lotophagen alles andere vergessen und einzig und allein nach ihm verlangen. Es kam ihm vor, als sei in dieser Religion nichts Wirkliches enthalten, und zugleich, als sei die Wirklichkeit ihr gegenüber etwas so Nichtiges, daß sie nicht wert sei, daß man ihr auch nur einen Gedanken widme. Es taten sich ihm gleichsam weite Räume auf, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte – die Unendlichkeit, Dunkelheit. Diese Begräbnisstätte begann auf ihn den Eindruck eines Tollhauses zu machen, aber auch den eines geheimnisvollen, ehrfurchtgebietenden Ortes, an dem wie auf einem mystischen Lager etwas geboren wurde, was die Welt bisher noch nie gesehen hatte. Er erinnerte sich an alles, was der Greis vom ersten Augenblicke an über Leben, Wahrheit, Liebe, Gott gesagt hatte, und sein Geist wurde von dessen Glanze geblendet wie das Auge von unablässig niederzuckenden Blitzen. Wie es bei Menschen, deren Leben in einer einzigen Leidenschaft aufgeht, gewöhnlich der Fall ist, so schwebte ihm bei dem Gedanken an dies alles stets seine Liebe zu Lygia vor, und bei dem Lichte jener Blitze trat ihm das eine klar und deutlich vor die Seele, daß, wenn Lygia mit in der Versammlung sei, wenn sie diese Religion bekannte, ihr gehorchte und ihr im Innern zugetan war, sie niemals seine Geliebte werden könne.
Zum erstenmal, seit er sie bei Aulus kennen gelernt hatte, empfand Vinicius, daß, auch wenn er sie jetzt wieder in seinen Besitz brächte, damit noch gar nichts gewonnen sei. Noch nie war ihm etwas derartiges in den Sinn gekommen, und auch jetzt konnte er sich keine Rechenschaft davon ablegen, denn es war nicht sowohl klares Verständnis, wie vielmehr eine dunkle Ahnung von einem unersetzlichen Verluste und einem namenlosen Unglücke. Er wurde von einer Unruhe gepackt, die sich bald in stürmischen Groll gegen die Christen im allgemeinen und gegen diesen Greis im besonderen verwandelte. Dieser Fischer, den er anfänglich für einen schlichten Mann gehalten hatte, erfüllte ihn jetzt fast mit Furcht und erschien ihm wie eine geheimnisvolle Schicksalsmacht, die sein Los unerbittlich und zu gleicher Zeit in tragischer Weise entschied.
Der Grubenarbeiter legte von neuem einige Fackeln in das Feuer, ohne daß die Anwesenden darauf geachtet hätten, der Wind rauschte nicht mehr in den Pinien, die Flamme schlug in ebenmäßiger Lohe zu den Sternen empor, die am heiteren Himmel glänzten, und der Greis, der den Tod Christi erwähnt hatte, begann jetzt nur noch vom Heiland zu sprechen. Alle hielten den Atem an, und es trat eine noch tiefere Stille als vorher ein, so daß man beinahe die Herzen hätte klopfen hören können. Dieser Mann hatte alles gesehen, und er erzählte wie einer, dem sich jeder Augenblick so fest ins Gedächtnis geprägt hat, daß er, wenn er die Augen schließt, alles wieder vor sich sieht. Er erzählte nun, wie Johannes und er nach der Rückkehr vom Kreuze zwei Tage und zwei Nächte lang im Zimmer gesessen hätten, ohne zu schlafen, ohne zu essen, in Jammer, Schmerz, Sorge, Zweifel, den Kopf in die Hände gestützt, in der Meinung, er sei tot. O, wie schwer sei das gewesen, wie schwer! Schon sei der dritte Morgen angebrochen und das Tageslicht habe das Zimmer erhellt, Johannes aber und er hätten noch immer ohne Trost, ohne Hoffnung dagesessen. Trotzdem sie bis zum Umsinken müde gewesen seien (da sie auch die Nacht schlaflos zugebracht hätten), seien sie doch aufgestanden und hätten von neuem zu klagen begonnen. Als kaum die Sonne aufgegangen sei, sei Maria aus Magdala atemlos, mit ausgelöstem Haar und mit dem Rufe hereingestürzt: »Sie haben den Herrn fortgenommen!« Auf diese Kunde hin seien sie aufgesprungen und zur Grabstätte geeilt. Johannes als der jüngere sei zuerst angekommen, habe das Grab leer gefunden und nicht gewagt, einzutreten. Erst als sie alle drei beim Eingänge angelangt seien, sei er, der ihnen dies erzähle, hineingegangen, habe auf dem Steine das Schweißtuch und die Linnen gesehen, den Leichnam aber nicht gefunden.
Dann habe sie ein Schrecken bei dem Gedanken erfaßt, die Priester hätten Christus weggetragen, und sie seien beide in noch größerem Schmerze nach Hause zurückgekehrt. Später seien noch andere Jünger gekommen, und sie hätten alle zusammen laute Klage erhoben, damit der Herr der Heerscharen sie desto leichter höre. Alle Hoffnung sei in ihnen erstorben, denn sie hätten erwartet, daß der Meister Israel erlösen solle, und es sei nun schon der dritte Tag nach seinem Tode. Sie hätten daher nicht verstanden, warum der Vater den Sohn geopfert habe, und hätten das Tageslicht nicht mehr schauen, sondern sterben wollen; so schwer habe der Schmerz auf ihnen gelastet.
Die Erinnerung an diese furchtbaren Stunden entpreßte den Augen des Greises noch jetzt zwei Tränen, die im Scheine des Feuers deutlich zu sehen waren und in seinen Bart herniederrannen. Sein altes, von Haaren entblößtes Haupt fing an zu zittern, und die Stimme erstarb ihm in der Brust. Vinicius sagte sich im stillen: »Dieser Mann spricht die Wahrheit und weint in Wahrheit,« und der Schmerz hatte auch die einfachen Herzen der Zuhörer überwältigt. Sie hatten schon oft von Christi Leiden gehört, und sie wußten, daß auf Trauer Freude folgte; jetzt aber, wo ein Apostel, der alles mitangesehen hatte, es ihnen erzählte, rangen sie unter dem Eindruck des Gehörten schluchzend die Hände oder schlugen sich an die Brust.
Allmählich beruhigten sie sich jedoch, denn der Wunsch, noch mehr zu hören, überwog ihren Schmerz. Der Greis schloß die Augen, als wolle er sich die Vergangenheit besser vergegenwärtigen, und fuhr dann fort: »Als sie so klagten, stürzte Maria aus Magdala abermals herein und rief, sie habe den Herrn gesehen. Da sie ihn vor dem hellen Glanze nicht erkennen konnte, glaubte sie, es sei der Gärtner; er aber sprach: Maria! Darauf rief sie: Rabbuni! und fiel ihm zu Füßen. Er aber befahl ihr, zu den Jüngern zu gehen, und verschwand dann. Sie aber, die Jünger, glaubten ihr nicht, und als sie vor Freude weinte, wiesen einige sie zurecht, andere glaubten, der Schmerz habe ihren Geist verwirrt; denn sie hatte auch gesagt, sie habe am Grabe Engel gesehen; sie aber, die ein zweites Mal hingegangen waren, hatten es leer gefunden. Dann kam am Abend Kleophas, der mit einem anderen Jünger nach Emmaus gegangen und schleunigst zurückgekehrt war, und sagte: Der Herr ist wahrhaftig aufgestanden. Und sie begannen untereinander zu sprechen bei geschlossenen Türen aus Furcht vor den Juden. Siehe, da stand er plötzlich mitten unter ihnen und sprach, als sie sich fürchteten: Friede sei mit euch! – – – – – – – –
Und ich sah ihn, wie ihn alle sahen, und er brachte gleichsam Licht und Freude in unsere Herzen zurück; denn jetzt glaubten wir, daß er auferstanden sei, daß die Meere austrocknen, die Berge in Staub zerfallen würden, aber seine Herrlichkeit ewig währen würde. – – – – – – – –
Und nach acht Tagen legte Thomas Didymus seine Finger in des Heilands Wunden und berührte seine Seite; dann fiel er ihm zu Füßen und rief: Mein Herr und mein Gott! Der Meister antwortete ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Und wir hörten diese Worte und unsere Augen betrachteten ihn, denn er war unter uns.«
Vinicius hörte zu, und es ereignete sich etwas Wunderbares in ihm. Für einen Augenblick vergaß er, wo er war, er begann das Gefühl der Wirklichkeit, den Maßstab, seine Urteilsfähigkeit zu verlieren. Er stand vor zwei Unmöglichkeiten. An das, was der alte Mann sagte, konnte er nicht glauben, und doch fühlte er, man müsse blind sein und an seiner eigenen Vernunft verzweifeln, um anzunehmen, jener Mann, der da sagte: »Ich habe es gesehen,« lüge. In seinen Bewegungen, seinen Tränen, seiner ganzen Haltung, in den Einzelheiten der Ereignisse, von denen er erzählte, lag etwas, was jeden Argwohn unmöglich machte. Vinicius kam es zuweilen vor, als träume er. Aber er sah die schweigende Menschenmenge um sich herum; der Qualm der Laternen drang zu ihm; in einiger Entfernung loderten die Fackeln und neben ihm aus dem Steine stand ein dem Grabe naher Greis mit leise zitterndem Haupte, der, Zeugnis ablegend, sagte: »Ich habe es gesehen.«
Und er erzählte ihnen alles weitere bis zur Himmelfahrt. Zuweilen machte er eine kleine Pause, denn er sprach sehr umständlich, aber man hatte das Gefühl, daß sich auch die kleinsten Einzelheiten seinem Gedächtnis so fest eingeprägt hätten, als wären sie in Stein gemeißelt worden. Seine Zuhörer erfaßte unendliches Entzücken. Sie nahmen die Kapuzen ab, um besser hören zu können und kein Wort von dem zu verlieren, was für sie unschätzbaren Wert besaß. Es war ihnen, als habe eine überirdische Kraft sie nach Galiläa versetzt, als wandelten sie mit den Jüngern durch die Haine und an den Seen dieses Landes, als verwandle sich diese Begräbnisstätte in den See Tiberias und als stehe Christus dort am Ufer, in der Morgendämmerung, so wie er damals stand, als ihn Johannes vom Schiffe aus sah und sagte: »Es ist der Herr!« und Petrus sich in die Fluten stürzte, um früher zu den geliebten Füßen ZU liegen. In den Zügen der Hörer war grenzenlose Begeisterung, Selbstvergessenheit, Glück und unendliche Liebe zu lesen. Es war augenscheinlich, daß während Petrus' langer Erzählung einige eine Vision hatten; als er aber zu berichten begann, wie in der Stunde der Himmelfahrt die Wolken sich unter den Füßen des Erlösers zusammenschlossen, ihn verhüllten und den Augen der Apostel entzogen, richteten sich aller Blicke unwillkürlich zum Himmel empor, und es trat ein Augenblick gespannter Erwartung ein, gleich als hätten jene Menschen die Hoffnung, den Heiland noch zu sehen oder als erwarteten sie, er würde noch einmal von den himmlischen Gefilden herniedersteigen, um Zeuge zu sein, wie der greise Apostel die ihm anvertrauten Lämmer weide, und ihn samt der Herde zu segnen.
Und für diese Menschen gab es in diesem Augenblicke kein Rom, keinen grausamen Caesar, keine Tempel, keine Götter, keine Heiden; nur Christus schwebte ihnen vor, der die Erde, das Meer, den Himmel, die Welt umfaßt.
In den an der Via Nomentana zerstreut liegenden Häusern begannen die Hähne zu krähen und Mitternacht anzuzeigen. In diesem Augenblicke zupfte Chilon Vinicius am Mantel und flüsterte: »Herr, dort, nicht weit von dem alten Manne steht Urban und neben ihm ein Mädchen.«
Vinicius fuhr zusammen, als erwache er vom Schlafe, und nach der ihm von dem Griechen angegebenen Richtung blickend, gewahrte er Lygia.