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Chilon ließ sich jedoch geraume Zeit nicht mehr blicken, so daß Vinicius anfangs nicht wußte, was er davon denken solle. Umsonst sagte er sich, daß Nachforschungen, wenn sie zu erwünschten und sicheren Ergebnissen führen sollen, Zeit erfordern. Sein Blut empörte sich ebenso wie sein feuriges Wesen gegen die Stimme der Vernunft. Untätig zu sein, abzuwarten, still sitzen und die Hände in den Schoß zu legen, war zudem seiner ganzen Natur derart zuwider, daß er sich auf keinen Fall dazu entschließen konnte. Aber die Straßen der Stadt im dunklen Sklavenkleide nutzlos zu durchstreifen, erschien ihm nur als Bemäntelung der eigenen Untätigkeit und konnte ihm keine Befriedigung gewähren. Seine Freigelassenen, gewandte Männer, denen er befohlen hatte, Nachforschungen auf eigene Hand anzustellen, waren weit weniger glücklich gewesen als Chilon. Neben der Liebe, die er für Lygia empfand, erwachte jetzt noch die Hartnäckigkeit des Spielers in ihm, der durchaus gewinnen will. Vinicius war immer so gewesen. Von frühester Jugend hatte er alles, was er wollte, mit der Leidenschaftlichkeit eines Menschen durchgesetzt, der es nicht versteht, daß ihm etwas unerreichbar und er gezwungen sein solle, darauf zu verzichten. Zwar hatte die militärische Zucht seinen Eigenwillen auf einige Zeit gebändigt, aber sie hatte ihm auch zugleich die Überzeugung eingeprägt, daß jeder Befehl, den er einem Untergebenen erteilte, unbedingt vollzogen werden müsse. Sein langer Aufenthalt im Orient unter einem kriechenden und an sklavischen Gehorsam gewöhnten Volke hatte ihn nur in der Meinung bestärkt, daß es für sein »Ich will« keine Beschränkung gebe. Jetzt war daher auch seine Eigenliebe tief verwundet. Außerdem lag in diesen Schwierigkeiten, in diesem Widerstande und gar in der Flucht Lygias etwas für ihn Unverständliches, ein Rätsel, mit dessen Lösung er sich vergebens den Kopf zermarterte. Er fühlte, daß Akte die Wahrheit gesagt habe und daß er Lygia nicht gleichgültig sei. War dies aber der Fall, warum zog sie dann ein unstetes, armseliges Leben seiner Liebe, seiner Zärtlichkeit und dem Aufenthalt in seinem prächtigen Hause vor? Auf diese Frage vermochte er keine Antwort zu finden, und es dämmerte ihm nur eine Art dunkler Ahnung auf, daß zwischen ihm und Lygia, zwischen seinen und ihren Anschauungen, zwischen der Welt, in der er und Petronius lebte, und der Lygias und Pomponia Graecinas ein Unterschied und eine Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verständigen, liege, tief wie ein Abgrund, den nichts überbrücken oder ausfüllen könne. Dann schien es ihm, als müsse er Lygia verlieren, und bei diesem Gedanken büßte er noch den Rest seines seelischen Gleichgewichtes ein, den ihm Petronius erhalten wissen wollte. Es gab Zeiten, in denen er selbst nicht wußte, ob er Lygia liebe oder hasse, er begriff nur, daß er sie finden müsse und daß er sich eher von der Erde verschlingen lassen wolle, als sich nicht an ihrem Anblick und an ihrem Besitze zu erlaben. In seinem Geiste sah er sie mitunter so deutlich, als stände sie vor ihm; er erinnerte sich jedes Wortes, das er zu ihr gesprochen und das er von ihr gehört hatte. Er fühlte ihre Nähe; er fühlte sie an seiner Brust, in seinen Armen, und dann ergriff ihn ein Verlangen nach ihr wie eine verzehrende Flamme. Er liebte und begehrte sie. Und wenn er daran dachte, daß sie ihn liebe und ihm freiwillig alles gewähren könne, was er von ihr verlangte, so erfaßte ihn ein bitterer, ungeheuchelter Schmerz, und tiefe Rührung ergriff ihn mit Sturmesgewalt. Aber er hatte auch Augenblicke, in denen er vor Wut erbleichte und sich an dem Gedanken an die Demütigungen und Qualen, mit denen er Lygia, wenn er sie gefunden habe, überhäufen wolle, berauschte. Er wollte sie nicht nur besitzen, sondern als niedergetretene Sklavin besitzen, und zu gleicher Zeit fühlte er, daß, wenn ihm die Wahl gelassen würde, entweder ihr Sklave zu sein oder sie nie mehr in seinem Leben wiederzusehen, er lieber ihr Sklave sein wolle. Es gab Tage, an denen er an die Striemen dachte, welche die Geißel an ihrem rosigen Körper zurücklassen werde, und zu gleicher Zeit diese Wunden küssen wollte. Auch der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß er glücklich sein würde, sie töten zu können.
Unter dieser Aufregung, dieser Marter, Pein und Ungewißheit litt seine Gesundheit und selbst seine Schönheit. Er wurde zum unvernünftigen und grausamen Herrn. Die Sklaven und selbst die Sklavinnen nahten ihm zitternd, und da er ohne jeden Grund über sie ebenso erbarmungslose wie ungerechte Strafen verhängte, so begannen sie ihn im stillen zu hassen. Da er jedoch sowohl dies wie seine Vereinsamung fühlte, sann er nur immer mehr auf Rache. Nur Chilon gegenüber hielt er an sich aus Furcht, dieser könne sonst seine Nachforschungen einstellen. Als der schlaue Grieche dies bemerkte, suchte er noch größeren Einfluß auf ihn zu gewinnen und immer höhere Forderungen zu stellen. Zuerst versicherte er Vinicius bei jedem Besuche, daß die Angelegenheit leicht und rasch von statten gehe, dann begann er selber Schwierigkeiten zu entdecken und verhehlte nicht, daß sie die Nachforschungen noch längere Zeit fortsetzen müßten, wenn er sich auch nach wie vor für einen endgültigen Erfolg verbürge.
Endlich nach langen Tagen des Harrens kam Chilon mit so verstörtem Gesicht zu Vinicius, daß der junge Mann bei seinem Anblick erblaßte und, auf ihn zuspringend, kaum die Kraft hatte, zu fragen: »Befindet sie sich nicht unter den Christen?«
»Gewiß, Herr,« antwortete Chilon, »aber ich traf den Arzt Glaukos bei ihnen.«
»Von wem sprichst du, und was ist das für ein Mann?«
»Du hast wohl den alten Mann vergessen, Herr, mit dem ich von Neapel nach Rom reiste und bei dessen Verteidigung ich diese beiden Finger verlor, ein Verlust, der mich daran hindert, das Schreibrohr in der Hand zu halten. Räuber, welche ihm Weib und Kind entführen wollten, stachen ihn mit einem Messer nieder. Ich verließ ihn sterbend in der Herberge zu Minturnae und beweinte ihn lange Zeit! Leider habe ich mich überzeugt, daß er noch am Leben ist und der Christengemeinde in Rom angehört.«
Vinicius, der nicht verstand, wo Chilon hinaus wollte, begriff nur so viel, daß jener Glaukos ein Hindernis für Lygias Auffindung sei; daher unterdrückte er den in ihm aufsteigenden Ärger und sagte: »Wenn du ihn beschütztest, so müßte er dir doch dankbar sein und dir helfen.«
»Ach, edler Tribun, selbst die Götter sind nicht immer dankbar; was ist da erst von den Menschen zu erwarten? Ja, er müßte mir dankbar sein. Leider aber ist er ein alter Mann von schwachem und durch das Alter und manche trübe Erfahrung verdüstertem Geiste; aus diesem Grunde ist er mir nicht nur nicht dankbar, sondern klagt mich, wie ich von seinen Glaubensgenossen erfahren habe, an, ich sei mit den Räubern im Einverständnisse gewesen und ich sei der Urheber seines Unglücks. Das ist der Lohn für meine beiden Finger!«
»Ich bin sicher, Schuft, daß es so ist, wie er sagt!« rief Vinicius.
»Dann weißt du mehr als er, Herr,« erwiderte Chilon mit Würde, »denn er vermutet nur, daß es so war, was ihn aber nicht hindern würde, die Christen zusammenzurufen und sich grausam an mir zu rächen. Er hätte es ohne Zweifel auch schon getan und wäre ebenso unzweifelhaft dabei von den anderen unterstützt worden. Zum Glück aber kennt er meinen Namen nicht, und im Bethause, wo wir uns trafen, bemerkte er mich nicht. Ich jedoch erkannte ihn sofort und hätte ihn im ersten Augenblicke gern umarmt. Nur die Klugheit und die Gewohnheit, jeden Schritt, den ich unternehmen will, zu überlegen, hielten mich davon ab. Nachdem ich daher das Bethaus verlassen hatte, begann ich mich nach ihm zu erkundigen, und seine Bekannten erklärten mir, er sei der Mann, den sein Gefährte auf der Reise von Neapel hierher verraten habe … Ich hätte sonst gar nicht gewußt, was er da erzählt.«
»Was geht mich das an! Sprich, was hast du im Bethause gesehen?«
»Dich geht es nichts an, Herr, mir aber liegt genau so viel daran, wie an meiner gesunden Haut. Da ich aber wünsche, daß meine Lehre mich überlebe, so würde ich lieber auf die Belohnung verzichten, die du mir versprochen hast, als mein Leben um des schnöden Mammons willen in Gefahr bringen, ohne den ich als wahrer Philosoph zu leben und die göttliche Weisheit zu erforschen vermag.«
Vinicius näherte sich ihm jedoch mit unheildrohendem Gesichte und begann mit dumpfer Stimme: »Und wer sagt dir, daß dich der Tod von der Hand des Glaukos früher trifft als von der meinen? Woher weißt du, Hund, daß meine Sklaven dich nicht sofort im Garten verscharren werden?«
Chilon, der ein ausgemachter Feigling war, sah Vinicius an und erkannte auf den ersten Blick, daß noch ein einziges unbedachtes Wort ihn rettungslos ins Verderben stürzen würde.
»Ich will sie suchen, Herr, und werde sie finden!« rief er hastig.
Beide schwiegen – und währenddessen war nur das rasche Atmen des Vinicius und der entfernte Gesang der im Garten arbeitenden Sklaven zu vernehmen.
Nach einiger Zeit erst nahm der Grieche, als er bemerkte, daß der junge Patrizier sich etwas beruhigt hatte, wieder das Wort: »Der Tod ging dicht an mir vorüber, aber ich sah ihm mit derselben Ruhe wie Sokrates ins Auge. Nein, Herr, ich habe nicht gesagt, daß ich die Nachforschungen nach dem Mädchen aufgebe, ich wollte dir nur mitteilen, daß diese Nachforschungen jetzt mit großer Gefahr für mich verbunden sind. Du hast seinerzeit gezweifelt, ob jener Euricius wirklich auf der Welt ist, und obwohl du dich mit deinen eigenen Augen überzeugt hast, daß meines Vaters Sohn die Wahrheit gesprochen hat, argwöhnst du jetzt, daß ich den Glaukos erfunden habe. O, wenn er nur ein Phantasiegebilde wäre, wenn ich mit voller Sicherheit unter den Christen verkehren könnte, wie ich es früher getan habe, so würde ich dafür mit Freuden die arme alte Sklavin hingeben, die ich vor drei Tagen gekauft habe, damit sie mich bei meinem Alter und bei meiner Verkrüppelung pflege. Aber Glaukos lebt, Herr, und wenn er mich nur ein einziges Mal erblickt, würdest du mich nicht mehr lebend sehen, und wer würde dir in diesem Falle das Mädchen ausfindig machen?«
Dann schwieg er von neuem und begann seine Tränen zu trocknen, dann fuhr er fort: »Wie kann ich aber nach Lygia suchen, solange Glaukos lebt? Bei jedem Schritte kann ich ihm begegnen, und tritt dieser Fall ein, so bin ich verloren, und mit mir gehen zugleich meine Nachforschungen zugrunde.«
»Worauf zielst du? Wozu rätst du? Was wünschst du, das geschehen soll?« fragte Vinicius.
»Aristoteles lehrt uns, Herr, daß geringere Dinge für größere aufgeopfert werden müssen, und König Priamos sprach häufig davon, daß das Alter eine schwere Last sei. Diese Last des Alters und Unglücks ruht schon längst auf Glaukos, und zwar so schwer, daß der Tod für ihn eine Erlösung wäre. Denn was ist der Tod nach Seneca anders als eine Erlösung?«
»Treibe deine Narrenspossen mit Petronius, nicht mit mir, sondern sage, was du willst.«
»Wenn die Tugend Narrheit ist, dann mögen mir die Götter die Gnade gewähren, stets ein Narr zu sein. Ich wünsche, Herr, diesen Glaukos zu beseitigen, denn so lange er lebt, schwebt mein Leben, schweben meine Nachforschungen in beständiger Gefahr.«
»Dinge meinetwegen Leute, die ihn mit Knütteln totschlagen; ich werde sie bezahlen.«
»Sie werden dir zuviel abverlangen, Herr, und werden später das Geheimnis gegen dich ausnutzen. Es gibt so viel Schufte in Rom wie Körner Sandes in der Arena; aber du glaubst nicht, was sie für Forderungen stellen, wenn sich einmal ein ehrlicher Mann ihrer Schurkerei bedienen muß. Nein, würdiger Tribun! Und wenn nun gar die Wache die Mörder auf frischer Tat ertappte? Dann würden sie unzweifelhaft angeben, wer sie gedungen hat, und du würdest in Ungelegenheiten kommen. Mich werden sie nicht angeben, denn ich nenne ihnen meinen Namen nicht. Du tust unrecht, wenn du mir nicht traust; denn abgesehen von meiner Ehrlichkeit mußt du bedenken, daß es sich hierbei für mich um zwei andere Dinge handelt: um meine gesunde Haut und um die Belohnung, die du mir versprochen hast.«
»Wieviel brauchst du?«
»Tausend Sesterzen; du wirst verstehen, Herr, daß ich ehrliche Schufte wählen muß, solche, die nicht, wenn sie das Geld genommen haben, auf Nimmerwiedersehen damit verschwinden. Gute Arbeit, gute Bezahlung! Auch für mich muß dabei etwas abfallen, damit ich die Tränen trocknen kann, welche ich aus Schmerz um Glaukos vergieße. Ich rufe die Götter zu Zeugen an, wie sehr ich ihn liebe. Wenn ich heute tausend Sesterzen bekomme, so ist seine Seele nach zwei Tagen im Hades, und erst dort wird er erkennen, wie sehr ich ihn geliebt habe, falls er nämlich dann noch Erinnerung und das Denkvermögen besitzt. Ich werde die Leute unverzüglich aufsuchen und ihnen sagen, daß ich von morgen abend an für jeden Tag, den Glaukos noch am Leben bleibt, hundert Sesterzen zurückbehalte. Auch habe ich einen bestimmten Plan, der mir unfehlbar erscheint.«
Vinicius versprach ihm noch einmal die geforderte Summe, verbot ihm aber, fernerhin von Glaukos zu sprechen, und fragte ihn dann, was er sonst für Nachrichten bringe, wo er die ganze Zeit über gewesen sei, was er gesehen und entdeckt habe. Aber Chilon konnte nicht viel Neues erzählen. Er sei noch in zwei anderen Bethäusern gewesen und habe jede Person, namentlich aber die Frauen betrachtet, jedoch keine gesehen, die Lygia ähnlich gewesen wäre. Die Christen zählten ihn aber jetzt zu den Ihrigen und verehrten ihn, seitdem er das Geld zur Loskaufung von Euricius' Sohn gegeben habe, als einen Mann, der auf Christi Pfaden wandele. Ferner habe er von ihnen erfahren, daß einer ihrer größten Gesetzgeber, ein gewisser Paulus aus Tarsos, sich in Rom befinde und auf Grund der von den Juden gegen ihn erhobenen Anklagen eingekerkert sei; diesen wolle er aufsuchen. Am meisten aber freue ihn eine andere Nachricht, nämlich, daß der oberste Priester der ganzen Sekte, der Christi Jünger gewesen sei und dem dieser die Leitung der Christen der ganzen Welt übergeben habe, binnen kurzem ebenfalls nach Rom kommen werde. Alle Christen wünschten, ihn mit eigenen Augen zu sehen und seine Predigt zu hören. Es würden dann einige große Versammlungen abgehalten werden, an denen auch er, Chilon, teilnehmen werde, und mehr noch, weil es dabei leicht sei, sich im Gedränge zu verbergen, wolle er Vinicius mitnehmen. Dann würden sie Lygia zweifellos finden. Sei Glaukos einmal aus dem Wege geräumt, so sei dies nicht einmal mit großer Gefahr verknüpft. Rächen könnten sich augenscheinlich auch die Christen, aber im allgemeinen seien sie friedliche Leute.
Darauf begann Chilon mit einer Art Erstaunen zu erzählen, er habe nie bemerkt, daß sie Ausschweifungen begingen, Quellen und Brunnen vergifteten, Feinde des menschlichen Geschlechts seien, einen Esel verehrten oder Kinderfleisch äßen. Nein, davon habe er nichts gesehen. Gewiß werde er unter ihnen auch Leute finden, die für Geld Glaukos beseitigten; aber ihre Lehre fordere, soviel ihm bekannt sei, nicht zum Verbrechen auf, sondern befehle im Gegenteil das Vergeben der Beleidigung.
Vinicius mußte an die Worte denken, die ihm Pomponia Graecina bei Akte gesagt hatte, und im allgemeinen erfüllten ihn Chilons Mitteilungen mit Freude. Wenn auch sein Gefühl für Lygia anscheinend vom Haß verdrängt worden war, so gewährte es ihm doch eine gewisse Erleichterung, zu erfahren, daß die Lehre, zu der sie und Pomponia sich bekannten, weder eine verbrecherische noch eine abstoßende sei. Es erwachte in ihm aber auch ein dunkles Gefühl, daß gerade diese unbekannte und geheimnisvolle Verehrung für Christus die Kluft zwischen ihm und Lygia bilde; und so begann er diese Religion plötzlich zu fürchten und zu hassen.