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Kaum hatte Vinicius zu Ende gelesen, als Chilon leise und unangemeldet zu ihm in die Bibliothek trat, da die Diener Befehl hatten, ihn zu jeder Tages- oder Nachtstunde vorzulassen.
»Möge die göttliche Mutter deines hochherzigen Ahnherrn Äneas,« sagte er, »dir ebenso günstig sein, Herr, wie mir der Sohn der Maja günstig gewesen ist.«
»Das heißt?« fragte Vinicius, indem er von dem Tische, an dem er saß, aufsprang.
Chilon richtete sich auf und sagte: »Gefunden!«
Der junge Patrizier war so erregt, daß er längere Zeit kein Wort hervorbringen konnte.
»Du hast sie gesehen?« fragte er endlich.
»Ich habe Ursus gesehen, Herr, und mit ihm gesprochen.«
»Und weißt du, wo sie sich verstecken?«
»Nein, Herr. Ein anderer würde dem Lygier aus Eitelkeit zu verstehen gegeben haben, er errate, wer er sei; ein anderer hätte zu erfahren gesucht, wo er wohne, und würde dabei entweder einen Faustschlag erhalten haben, infolgedessen ihm alle irdischen Angelegenheiten gleichgültig gewesen wären, oder hätte den Argwohn des Riesen erregt und ihn veranlaßt, mit dem Mädchen womöglich noch diese Nacht ein anderes Versteck aufzusuchen. Ich tat nichts davon, Herr. Ich begnügte mich damit, zu wissen, daß Ursus bei einem Müller in der Nähe des Emporium arbeitet, der Demas heißt wie dein Freigelassener, und es genügt mir deshalb, weil jetzt der erste beste Sklave, dem du dein Vertrauen schenkst, des Morgens seiner Spur folgen und das Versteck beider aufspüren kann. Ich bringe dir nur die Gewißheit, Herr, daß, da sich Ursus hier befindet, auch die göttliche Lygia in Rom ist, und zweitens die Nachricht, daß sie heut nacht fast zweifellos im Ostrianum sein wird …«
»Im Ostrianum? Wo ist das?« unterbrach ihn Vinicius, der offenbar den Wunsch hegte, sofort nach dem genannten Orte zu eilen.
»Es ist ein altes unterirdisches Gewölbe zwischen der Via Salaria und Via Nomentana. Jener Pontifex Maximus der Christen, von dem ich dir erzählte, Herr, und den sie bedeutend später erwarteten, ist schon angekommen und wird heute nacht in jener Katakombe taufen und lehren. Sie verheimlichen ihre Religion, weil das Volk, obgleich bis jetzt noch keine Edikte erlassen sind, welche sie verbieten, sie haßt und sie daher vorsichtig sein müssen. Ursus selbst sagte mir, daß sie heut alle ohne Ausnahme im Ostrianum zusammenkommen wollten; denn ein jeder wünscht den zu sehen und zu hören, der der erste Jünger Christi gewesen ist und den sie Apostel nennen. Da bei ihnen die Frauen in der Religion ebenso unterwiesen werden wie die Männer, so wird vielleicht Pomponia die einzige Frau sein, die nicht anwesend ist, da sie es vor Aulus, dem Verehrer der alten Götter, nicht verantworten könnte, deswegen in der Nacht das Haus zu verlassen. Lygia jedoch, Herr, die unter dem Schutze von Ursus und der Ältesten der Gemeinde steht, wird ohne Zweifel mit den anderen Frauen hingehen.«
Vinicius, der bis dahin wie im Fieber gelebt und sich nur die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, fühlte jetzt, da die Hoffnung in Erfüllung zu gehen schien, mit einem Male eine solche Schwäche, wie sie jemand empfinden mag, der nach einer seine Kräfte übersteigenden Reise am Ziele anlangt. Chilon bemerkte dies und beschloß, Nutzen daraus zu ziehen.
»Allerdings werden die Tore von deinen Leuten bewacht, Herr – und die Christen müssen dies wissen. Aber sie brauchen keine Tore. Der Tiber braucht sie auch nicht, und wenn auch der Weg vom Flusse bis dorthin weit ist, so lohnt es sich doch, einen weiten Weg zu machen, um den großen Apostel zu sehen. Übrigens können sie tausend Mittel haben, über die Mauern zu gelangen, und ich weiß dies bestimmt. Im Ostrianum wirst du Lygia finden, Herr, und wäre sie auch selbst nicht dort, was ich jedoch nicht glaube, so wird Ursus wenigstens zugegen sein, denn er hat mir versprochen, Glaukos zu töten. Er selbst hat es mir gesagt, er wolle da sein und ihn töten, hörst du, edler Tribun? Du folgst ihm also entweder auf dem Fuße nach und kundschaftest aus, wo Lygia wohnt, oder du läßt ihn von deinen Leuten als Mörder festnehmen und zwingst ihn, wenn du ihn in den Händen hast, zu dem Geständnis, wo Lygia wohnt. Ich habe das meinige getan. Ein anderer, Herr, würde dir gesagt haben, er hätte mit Ursus zehn Kannen vom besten Wein trinken müssen, um ihm das Geheimnis zu entlocken; ein anderer hätte dir gesagt, er habe tausend Sesterzen im Scriptae duodecim-Spiele an ihn verloren oder er habe dies Geheimnis für zweitausend Sesterzen erkauft … Ich weiß, du würdest mir das Doppelte zurückerstatten, aber trotzdem will ich einmal in meinem Leben … das heißt, ich wollte sagen wie immer, ehrlich sein, denn ich weiß, daß deine Freigebigkeit, wie der hochherzige Petronius sagte, alle meine Hoffnungen und Erwartungen übertreffen wird.«
Vinicius aber, der als Soldat nicht nur allen Ereignissen gegenüber gewöhnt war, sich zu beherrschen, sondern auch demgemäß zu handeln, überwand bald eine vorübergehende Schwäche und sagte: »Du wirst nicht vergebens auf meine Freigebigkeit rechnen; zuvor aber begleitest du mich nach dem Ostrianum.«
»Ich nach dem Ostrianum?« fragte Chilon, der nicht die geringste Lust hatte, dorthin zu gehen. »Ich, edler Tribun, versprach dir, Lygia ausfindig zu machen, aber ich machte mich nicht anheischig, sie dir zu entführen … Bedenke, Herr, was aus mir würde, wenn jener lygische Bär, nachdem er Glaukos zerrissen hat, sich überzeugte, daß er ihn nicht mit vollem Recht zerrissen hat? Würde er nicht mich (allerdings mit Unrecht) als den Urheber des vollbrachten Mordes betrachten? Vergiß nicht, Herr, daß, je größer ein Philosoph ist, es ihm desto schwerer fällt, auf törichte Fragen gemeiner Leute zu antworten. Was würde ich ihm also erwidern können, wenn er mich fragte, warum ich den Arzt Glaukos beschuldigt habe? Wenn du aber glaubst, ich betrüge dich, dann schlage ich dir vor: bezahle mich erst dann, wenn ich dir das Haus zeige, in dem Lygia wohnt, und gib mir heute nur einen kleinen Beweis von deiner Erkenntlichkeit, damit ich, wenn dir, Herr (mögen alle Götter dich schützen!), irgend ein Unglück zustoßen sollte, nicht ganz unbelohnt bleibe. Dein gutes Herz würde dies nicht ertragen.«
Vinicius ging zu einem Kästchen (»Arca« genannt), das auf einem marmornen Sockel stand, entnahm ihm einen Beutel und warf ihn Chilon zu.
»Hier sind Scrupula,« sagte er, »wenn Lygia in meinem Hause ist, erhältst du einen ebensolchen Beutel voll Aurei.« Das Scrupulum oder Scripulum war eine kleine Goldmünze, gleich dem dritten Teile des Golddenars (Aureus). Der letztere hatte einen Wert von etwa dreiundzwanzig Mark.
»Jupiter!« rief Chilon.
Vinicius runzelte die Brauen.
»Du bekommst hier zu essen, dann kannst du dich ausruhen. Bis zum Abend rührst du dich nicht von der Stelle, und wenn es Nacht wird, begleitest du mich nach dem Ostrianum.«
In den Zügen des Griechen spiegelten sich eine Zeitlang Furcht und Zaudern. Dann beruhigte er sich jedoch und sagte: »Wer kann dir widerstehen, Herr? Nehmen wir diese Worte als gutes Vorzeichen, wie es ähnlich unser großer Held im Ammontempel tat. Was mich betrifft, so haben diese Skrupel (dabei zeigte er auf den Beutel) die meinigen vertrieben, wobei ich noch gar nicht von der Gesellschaft spreche, die für mich ein Glück und eine Freude ist …«
Vinicius unterbrach ihn aber ungeduldig und begann ihn über die ganze Unterredung mit Ursus auszufragen. Eins wurde ihm daraus klar, daß er entweder noch in dieser Nacht das Versteck Lygias entdecken oder sich ihrer selbst auf dem Rückwege vom Ostrianum bemächtigen könne. Und bei diesem Gedanken erfüllte ihn wahnsinnige Freude. Jetzt, wo er fast die Gewißheit hatte, Lygia zu finden, war auch sein Zorn und Grimm gegen sie verschwunden. Für diese Freude verzieh er ihr jede Schuld. Er dachte an sie nur als an die Geliebte und heiß Ersehnte und hatte den Eindruck, als solle sie von einer langen Reise zurückkehren. Er hatte den Wunsch, seine Sklaven herbeizurufen und ihnen zu befehlen, das Haus mit Blumen zu schmücken. In diesem Augenblick empfand er nicht einmal gegen Ursus Groll. Er war bereit, allen alles zu verzeihen. Chilon, gegen den er bisher ungeachtet seiner Dienste eine gewisse Abneigung empfunden hatte, erschien ihm zum erstenmal als eine angenehme und zugleich außergewöhnliche Persönlichkeit. Sein Haus kam ihm glänzender vor, seine Augen und sein ganzes Antlitz strahlten vor Glück. Er begann wieder Jugendmut und Lebenslust zu empfinden. Seine frühere düstere Stimmung hatte ihn noch nicht hinlänglich über das Maß seiner Liebe zu Lygia belehrt. Er fühlte dies erst jetzt, wo er hoffen konnte, sie zu besitzen. Die Sehnsucht nach ihr erwachte von neuem in ihm, wie im Frühling die von der Sonne bestrahlte Erde zu neuem Leben erwacht, aber sein Verlangen war jetzt gleichsam weniger blind und wild, sondern freudiger und sehnsuchtsvoller. Auch unbegrenzter Tatkraft wurde er sich bewußt und war überzeugt, daß, wenn er nur Lygia mit eigenen Augen erblickte, alle Christen der ganzen Welt, ja nicht einmal der Caesar selbst sie ihm wieder entreißen würden.
Chilon, durch Vinicius' Freude ermutigt, nahm von neuem das Wort und begann seinen Rat zu erteilen. Nach seiner Ansicht war noch kein Grund vorhanden, die Sache als gewonnen zu betrachten; im Gegenteil sei die größte Vorsicht notwendig, ohne welche das ganze Unternehmen noch scheitern könne. Ebenso beschwor er Vinicius, Lygia nicht direkt aus dem Ostrianum zu entführen. Sie müßten mit Kapuzen auf dem Kopfe und mit vermummtem Gesichte hingehen und sich damit zufrieden geben, alle Anwesenden aus einem dunklen Winkel zu beobachten. Selbst wenn sie Lygia erblickten, würde es am sichersten sein, ihr in einiger Entfernung zu folgen, sich zu merken, in welches Haus sie trete, und dieses am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang mit einer großen Schar von Sklaven zu umzingeln und sie am hellen Tage abzuholen. Da sie eine Geisel sei und eigentlich dem Caesar gehöre, so könnten sie dies ohne Furcht vor Verantwortung tun. Falls sie sie im Ostrianum nicht anträfen, würden sie Ursus nachgehen, und der Erfolg wäre dann der gleiche. Er könne nicht eine große Schar von Sklaven in die Katakombe mitnehmen, denn dies könne leicht die Aufmerksamkeit auf sie lenken, und dann brauchten die Christen nur alle Lichter zu löschen, wie sie es bei der ersten Entführung getan hätten, um sich zu zerstreuen oder in der Dunkelheit in Verstecke, die nur ihnen bekannt seien, zu flüchten. Dafür sei es aber nötig, sich zu bewaffnen, und noch besser, ein paar zuverlässige und kräftige Leute mitzunehmen, um gegebenenfalls an ihnen Hilfe zu haben.
Vinicius gab ihm in allem recht, und da er zugleich an Petronius' Rat dachte, ließ er durch einige Sklaven Kroton zu sich rufen. Chilon, der jedermann in Rom kannte, beruhigte sich ersichtlich, als er den Namen des bekannten Athleten hörte, dessen übermenschliche Kraft er mehr als einmal in der Arena bewundert hatte, und erklärte, gern nach dem Ostrianum mitgehen zu wollen. Der Beutel voll großer Aurei schien ihm mit Krotons Hilfe viel leichter zu verdienen.
Gutgelaunt setzte er sich daher nach einiger Zeit zu dem Mahle, das ihm später der Hüter des Atriums vorsetzen ließ, und erzählte während des Essens den Sklaven, er habe ihrem Herrn eine wunderwirkende Salbe verkauft, mit der es genüge, den Huf des schlechtesten Pferdes einzureiben, damit es alle anderen weit hinter sich lasse. Ein Christ seiner Bekanntschaft habe ihn die Zubereitung gelehrt, denn die Christen verständen sich weit besser auf Zauberei und Wunder als selbst die Thessalier, obgleich Thessalien seiner Zauberei wegen berühmt sei. Die Christen hätten überhaupt großes Zutrauen zu ihm, aus welchem Grunde könne sich jeder leicht denken, der die Bedeutung des Fisches kenne. Bei diesen Worten beobachtete er aufmerksam die Gesichter der Sklaven in der Hoffnung, unter ihnen vielleicht einen Christen entdecken und Vinicius davon Mitteilung machen zu können. Da er sich aber in dieser Hoffnung getäuscht sah, begann er außergewöhnlich viel zu essen und zu trinken, wobei er nicht aufhörte, den Koch zu loben und zu versichern, er beabsichtige, ihn dem Vinicius abzukaufen. Seine Freude wurde nur durch den Gedanken beeinträchtigt, in der Nacht mit nach dem Ostrianum gehen zu müssen; er tröstete sich aber damit, daß er den Weg ja verkleidet, in der Dunkelheit und in der Gesellschaft zweier Männer machen werde, von denen der eine seiner Stärke wegen der Abgott von ganz Rom, der andere ein Patrizier und Offizier von hohem Range war. »Selbst wenn man Vinicius erkennen sollte,« sprach er zu sich selber, »wird niemand wagen, Hand an ihn zu legen, und was mich betrifft, so werden sie froh sein können, wenn sie meine Nasenspitze zu sehen bekommen.«
Dann suchte er sich die Unterredung mit dem Arbeiter ins Gedächtnis zurückzurufen, und die Erinnerung erfüllte ihn mit neuer Befriedigung. Er zweifelte nicht im mindesten daran, daß jener Arbeiter Ursus gewesen war. Aus den Mitteilungen Vinicius' und der Sklaven, die Lygia aus dem Palaste des Caesars abgeholt hatten, kannte er die ungewöhnliche Körperkraft dieses Mannes. Und auch darin lag nichts Auffallendes, daß er an Ursus gewiesen worden war, als er sich bei Euricius nach außergewöhnlich starken Leuten erkundigte. Ferner mußte er aus der Wut und Bestürzung des Arbeiters, als er Vinicius und Lygia erwähnte, erkennen, daß diese beiden Personen ihn näher interessierten; der Arbeiter hatte auch von der Buße für die Tötung eines Menschen gesprochen, und Ursus hatte den Atacinus getötet; endlich entsprach die äußere Erscheinung des Arbeiters genau der Beschreibung, die Vinicius ihm von dem Lygier entworfen hatte. Nur der Name konnte Zweifel erwecken, aber Chilon wußte bereits, daß die Christen bei der Taufe häufig andere Namen erhielten.
»Schlägt Ursus den Glaukos tot,« sprach Chilon zu sich selber, »so ist dies zweifellos das beste; schlägt er ihn nicht tot, so ist auch dies ein gutes Zeichen, denn es beweist, wie schwer die Christen ein Mord ankommt. Ich stellte diesen Glaukos als den leiblichen Sohn des Judas und als Verräter aller Christen dar; ich war so beredt, daß sich selbst ein Stein empört und mir versprochen hätte, auf Glaukos' Haupt herabzustürzen, und dennoch konnte ich diesen lygischen Bär kaum dazu bringen, seine Pranke auf ihn zu legen … Er schwankte, wollte nicht, sprach von seiner Reue und Buße. Augenscheinlich ist dies bei ihnen nicht etwas Alltägliches. Selbsterlittenes Unrecht muß man verzeihen, und seltsamerweise steht es ihnen im allgemeinen nicht frei, sich zu rächen, ergo: beruhige dich, Chilon, was kann dir drohen? Glaukos darf sich an dir nicht rächen … Wenn Ursus den Glaukos einer so großen Schuld wegen, wie es der Verrat an allen Christen ist, nicht totschlägt, um so weniger wird er dich um einer so kleinen willen, wie den Verrat eines einzigen Christen, totschlagen. Übrigens will ich, wenn ich einmal diesem verliebten Tauber das Nest seiner Turteltaube gezeigt habe, meine Hände in Unschuld waschen und sofort nach Neapel übersiedeln. Auch die Christen sprechen von einer Art Händewaschung; dies ist augenscheinlich bei ihnen die Art und Weise, wie man bei ihnen einen etwaigen Streit endgültig beilegt. Was für gute Menschen doch diese Christen sind, und wie schlecht man von ihnen spricht! O ihr Götter, das ist die Gerechtigkeit der Welt! Doch mir sagt diese Religion deshalb zu, weil sie den Totschlag verbietet. Doch wenn sie nicht zu töten erlaubt, so erlaubt sie ohne Zweifel auch weder zu stehlen, noch zu betrügen, noch falsches Zeugnis abzulegen, und ich will daher nicht behaupten, daß sie leicht sei. Sie befiehlt offenbar nicht nur, als ehrlicher Mann zu sterben, wie es die Stoiker tun, sondern auch als ehrlicher Mann zu leben. Wenn ich zu Vermögen komme und ein Haus besitze wie dieser Vinicius und ebenso viele Sklaven, dann würde ich vielleicht auch Christ, das heißt so lange, wie es mir paßt. Denn ein reicher Mann kann sich alles erlauben, selbst die Tugend … Ja! es ist eine Religion für die Reichen, und ich verstehe daher nicht, wie sie so viele Anhänger unter den Armen besitzt. Was für einen Nutzen haben diese davon, und warum lassen sie sich die Hände durch die Tugend binden? Ich muß einmal darüber nachdenken. Inzwischen danke ich dir, Hermes, daß du mich diesen Dachs finden ließest … Aber wenn du es nur wegen der zwei weißen einjährigen Kühe mit vergoldeten Hörnern getan hast, so will ich nichts von dir wissen. Schäme dich, Argostöter! Daß ein so weiser Gott es nicht vorausgesehen hat, daß er nichts bekommt! Ich will dir meine Dankbarkeit zum Opfer darbringen; wenn du aber außer dieser meiner Dankbarkeit noch zwei Rinder verlangst, so bist du selbst das dritte und verdientest im besten Falle ein Ochsenknecht zu sein, aber kein Gott. Nimm dich in acht, daß ich den Menschen nicht etwa als Philosoph beweise, daß du gar nicht existierst, denn sonst würden alle aufhören, dir zu opfern. Es ist besser, sich mit den Philosophen zu vertragen.«
Indem er so mit sich und Hermes sprach, streckte er sich auf dem Ruhebett aus, legte den Mantel unter den Kopf und schlief ein, während die Sklaven die Tafel abzuräumen begannen. Er erwachte erst, oder vielmehr er wurde geweckt, als Kroton erschien. Dann begab er sich ins Atrium und begann vergnügt die mächtige Gestalt des gewesenen Gladiators zu betrachten, die mit ihrer Riesengröße das ganze Atrium auszufüllen schien. Kroton hatte sich mit Vinicius schon über die Höhe seiner Belohnung geeinigt und sagte soeben: »Beim Herkules! Es ist gut, Herr, daß du noch heute zu mir geschickt hast, denn morgen begebe ich mich nach Benevent, wohin mich der edle Vatinius berufen hat, damit ich mich dort in Gegenwart des Caesars mit einem gewissen Syphax, dem stärksten Neger, den Afrika je hervorgebracht hat, messe. Kannst du dir vorstellen, Herr, wie sein Rückgrat in meinen Armen krachen wird und wie ich ihm außerdem seine schwarzen Kinnladen mit der Faust zerschmettern werde.«
»Beim Pollux!« erwiderte Vinicius; »ich bin überzeugt, daß du dies fertig bringst, Kroton.«
»Du wirst deine Sache vortrefflich machen,« fügte Chilon hinzu. »Ja! … Zerschmettere ihm außerdem die Kinnladen! Dies ist ein guter Gedanke und eine deiner würdige Tat. Ich bin bereit, zu wetten, daß du ihm die Kinnladen zerschmetterst. Doch reibe dir heute deine Glieder mit Olivenöl ein, mein Herkules, und gürte dich, denn wisse, du bekommst es vielleicht mit einem wahren Kakos zu tun. Der Mann, der das Mädchen beschützt, das dem edlen Vinicius so ans Herz gewachsen ist, besitzt wahrscheinlich riesige Kräfte.«
Chilon sprach nur so, um Krotons Ehrgeiz anzuspornen, und Vinicius sagte: »Das stimmt. Ich habe es zwar nicht gesehen, aber man sagt von ihm, wenn er einen Stier bei den Hörnern gepackt habe, könne er ihn hinziehen, wohin er wolle.«
»O!« rief Chilon, der nicht geglaubt hatte, daß Ursus so stark sei.
Aber Kroton lachte verächtlich.
»Ich erbiete mich, edler Herr,« sagte er, »mit diesem Arme hier jeden, den du willst, emporzuheben, mich mit dem anderen aber gegen sieben solcher Lygier zu verteidigen und das Mädchen in dein Haus zu tragen, wenn auch alle Christen in Rom mich wie kalabrische Wölfe verfolgten. Wenn ich das nicht kann, so will ich mich in diesem Impluvium peitschen lassen.«
»Gestatte das nicht, Herr!« sagte Chiton; »sie würden uns steinigen, und was nützte uns dann seine Kraft? Wäre es nicht besser, Lygia aus ihrer Wohnung zu entführen und weder sie noch dich der Gefahr des Todes, auszusetzen?«
»So soll es geschehen, Kroton,« sagte Vinicius.
»Dein Geld, dein Wille! Vergiß nur nicht, Herr, daß ich morgen nach Benevent gehe.«
»Ich besitze allein in der Stadt fünfhundert Sklaven,« entgegnete Vinicius.
Dann gab er beiden einen Wink, sich zurückzuziehen, und ging selbst in die Bibliothek, wo er sich hinsetzte und folgende Zeilen an Petronius schrieb: »Chilon hat Lygia aufgefunden. Heute abend gehe ich mit ihm und Kroton nach dem Ostrianum und werde sie entweder sofort oder morgen früh aus ihrer Wohnung entführen. Mögen dir die Götter alle Wünsche gewähren! Bleibe gesund, carissime; ich kann vor Freude nicht weiterschreiben.«
Er legte das Rohr weg und begann mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen; denn außer der Freude, die seine ganze Seele erfüllte, brannte in ihm ein Fieber. Er sagte sich, daß morgen Lygia in seinem Hause sein werde. Er wußte nicht, wie er sich gegen sie verhalten sollte, fühlte aber, daß, wenn sie ihm ihre Liebe schenken wollte, er ihr Sklave sein könnte. Er erinnerte sich der Worte Aktes, daß er geliebt sei, und dies erschütterte ihn im tiefsten. Es würde sich also nur um die Überwindung einer gewissen mädchenhaften Scheu und die Beobachtung gewisser Formen handeln, welche die christliche Religion ohne Zweifel vorschrieb. Wenn aber Lygia einmal in seinem Hause sei, und der Überredung oder seiner größeren Kraft nachgegeben habe, dann müsse sie sich sagen: »Es ist nun einmal geschehen« und werde sich nicht länger gegen seine Liebe sträuben.
In diesem Augenblick erschien Chilon und störte ihn in diesem wonnigen Gedankengange.
»Herr,« sagte der Grieche, »erst jetzt schoß mir das Bedenken durch den Kopf, ob die Christen nicht gewisse Zeichen haben, Losungen, ohne die niemand Zutritt zum Ostrianum erhält. Ich weiß, daß dies in den Bethäusern der Fall war und daß ich diese Losungen von Euricius erhielt; gestatte mir daher, daß ich zu ihm gehe, Herr, um ihn um Rat zu fragen und mir jene Losungsworte angeben zu lassen, falls es notwendig ist, sie zu kennen.«
»Gut, edler Weiser,« erwiderte Vinicius freundlich. »Du sprichst wie ein vorsichtiger Mann und verdienst dafür Lob. Gehe daher immer zu Euricius, oder wohin du sonst willst. Aber zur Sicherheit lege den Beutel, den du von mir erhalten hast, auf diesen Tisch hier.«
Chilon, der sich immer ungern von Geld trennte, machte erst allerhand Umschweife, endlich aber tat er das Geheißene und entfernte sich. Von den Carinae bis zum Zirkus, bei dem Euricius' Laden lag, war es nicht allzuweit, und er kehrte daher lange vor Einbruch der Nacht zurück.
»Ich habe die Losungsworte, Herr. Ohne sie würde man uns nicht einlassen. Ich habe mich auch genau nach dem Wege erkundigt und zugleich Euricius gesagt, ich brauche die Paßworte nur meiner Freunde willen; ich selbst ginge nicht mit, weil es für mich alten Mann zu weit sei und ich übrigens morgen den großen Apostel selbst sehen werde, der mir den schönsten Teil seiner Predigt wiederholen werde.«
»Wie, du willst nicht mit? Du mußt!« rief Vinicius.
»Ich weiß, daß ich muß, aber ich werde mich gut vermummen und gebe dir den Rat, dasselbe zu tun; sonst könnten wir die Vögel verscheuchen.«
Sie begannen sich unverzüglich fertig zu machen, denn schon sank die Dämmerung herab. Sie hüllten sich in gallische Kapuzenmäntel und nahmen Laternen mit; Vinicius bewaffnete außerdem sich und seine Gefährten mit kurzen, krummen Dolchen, und Chilon setzte eine Perücke auf, die er sich unterwegs bei Euricius hatte geben lassen. Darauf verließen sie eilends das Haus, um das entfernt gelegene Nomentanische Tor zu erreichen, ehe es geschlossen wurde.