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Der Sommer vergeht. –

Zwei Tage später erhält Else einen Brief aus Kopenhagen. Sie kennt die Handschrift von der Zeit her, wo sie bei Onkel Rektors war, aber sie sieht doch ganz anders aus, wenn sie ihren Namen zeigt. Wie sehr liebt sie jeden Buchstaben! Seine Handschrift ist nicht, was Mutter eine »Gelehrtenklaue« nannte und zu der Vater und Julius hinneigen. Die Züge sind eher etwas groß und eckig. Sie verbirgt den Brief an ihrer Brust, wie es sich gehört, aber sie tut es nicht deshalb. Obgleich sie vor Sehnsucht brennt, ihn zu lesen, ist es ihr doch fast, als könne sie keinen Augenblick finden, der dazu gut genug wäre.

Endlich – –

 

22. September.

Else, liebste Jungfrau Else!

(Es gab einen Mann, der hieß Jakob Böhme, und Dein Vater kennt ihn besser als ich. Als der zum erstenmal das Wort »Idee« nennen hörte, rief er aus: »Ich sehe eine Jungfrau!« Obgleich ich gewiß nur wenig Berührungspunkte mit diesem Mann habe, geht es mir doch wie ihm. Wo ich auch immer weile, was ich mir auch vornehme, immer, immer sehe ich eine Jungfrau vor mir – die einzige Jungfrau, die es auf der Welt gibt, die in den Falten ihres Gewandes die Jungfräulichkeit der ganzen Welt vereinigt hat und sich darein hüllt wie in ein Gewand: »Ich grüße Euch, holde Maid – Ihr seid wohl in Jungfräulichkeit gehüllt!«

Und ich fange an zu verstehen, daß es in einem Buch, das Du kennst, so heißen muß: »Sehet eine Jungfrau! Sehet eine Jungfrau!« – es ist in meinem Innern eine ganze seufzende Menschheit, die auf diese Jungfrau schaut. – Dies nur zur Erklärung der Überschrift, der Anrede, die ich nicht lassen kann. Darnach beginnt der eigentliche Brief.)

Es kann ja gar nicht anders sein, als daß wir zwei uns nun ganz verstehen – so ganz, daß es der gewöhnlichen entscheidenden Frage und Antwort nicht zwischen uns bedarf. Alles ist entschieden, und fürs ganze Leben – so stellt es sich wenigstens mir dar – ich frage Dich deshalb nicht, ob Du meine Gattin werden willst (sie neigt sich vor und legt ihre Lippen auf das Wort), ich nehme es als ganz selbstverständlich an. Ich könnte gut sagen, es ist mir, als seiest Du es schon, ja weit mehr als das. Mir ist, als seiest Du alles, wonach ich mich gesehnt habe, alles, was ich brauche, und dieses auszudrücken hat keine Sprache Worte genug.

Ich will es auch gar nicht versuchen, sondern sehen, daß ich mich in Kürze fasse, weil meine Zeit sehr knapp ist, und lieber die Vernunft ein wenig walten lassen, selbst in diesem Brief. Ich hätte Dir viel zu sagen, bis zurück zu dem Augenblick, wo ich Dich zum ersten Male sah – wie es kam, daß ich Dich liebte, obgleich ich es für eine vollkommene Unmöglichkeit hielt und fest entschlossen war, es nie soweit kommen zu lassen. Aber das muß ich mir auf später aufsparen. Jetzt zur Sache.

Ich habe nur eine Sehnsucht: Dich Tag und Nacht bei mir zu haben; aber ich weiß, in diesem Punkt bist Du zum Teil noch von Deinem Vater und von seiner Einwilligung abhängig. Meine Einnahmen sind weder sehr groß noch sehr sicher, trotzdem biete ich sie Dir vertrauensvoll. Wenn Du willig bist, mich selbst zu nehmen, was ich für den schlimmsten Teil halte, wirst Du auch alles andere, was dran hängt und was nicht dran hängt, mit in den Kauf nehmen. Aber Dein Vater sieht dies und noch vieles andere vielleicht anders an als Du und ich. Willst Du deshalb mit ihm sprechen, ehe ich mich an ihn wende? Oder würdest Du vorziehen, daß ich den ersten Schritt tue? Schriftlich oder mündlich? Ich würde natürlich das letztere vorziehen, um einen lebendigen Schimmer von »der Jungfrau« zu sehen; aber in dieser ganzen Woche, oder besser gesagt, in den nächsten zehn Tagen wäre es mir vollständig unmöglich, hier abzukommen. Meine Stunden in der Metropolitanschule, ein Artikel für den »Neuen Tag«, in dem ich mitten drin bin, und drei Vorträge über die Lebenswerte, die ich halten soll, füllen so ziemlich jede Stunde am Tage aus. Laß mich umgehend wissen, wie Du die Sache gehalten haben willst.

Ich bin gestern beim ersten Tagesgrauen von Skovholm abgereist, um den Frühzug noch zu erreichen. Nur Fräulein Mörk war bei dem frühen Kaffee anwesend, und sie hätte ebenso gerne wegbleiben können, da ich nichts wünschte, als so wenig wie möglich sprechen zu müssen. Etwas verwirrt und nicht wenig überrascht befand ich mich plötzlich in Kopenhagen, ich meine darüber überrascht, daß ich überhaupt wo anders sein könnte als an einem einzigen Orte. Ein Denker hat das Leben einmal als eine »Korrespondenz mit der Umgebung« definiert, und jetzt erfahre ich, daß er recht hat, denn ich gehe faktisch als ein lebloser, vollständig lebloser Klumpen Fleisch umher. Lebendig bin ich nur an einem Ort, denn ich stehe in wirklicher Verbindung nur mit einem einzigen Mittelpunkt des Daseins, mit einem Haselnußgang, einem Hügel und einer Wiese. Ja, das sind zwar drei, soweit kann ich noch zählen, aber wenn ich hinzufüge, mit einer Jungfrau, Else dabei, dann wird aus den dreien doch nur ein Hinter-, Mittel- und Vordergrund für sie. Es geht mir am besten, wenn die verschiedenen Menschen oder Dinge – alle und alles sind eigentlich nur Dinge für mich geworden – die einem im Lauf des Tages auf den Leib rücken, zur Ruhe gegangen sind, und ich mit geschlossenen Augen dasitzen und nur noch fühlen kann …

Else, Jungfrau Else – dann schleicht sich ein zögernder, ängstlich zarter Druck von den süßesten, weichsten Lippen auf meine rauhe, harte Wange, dann kommen zwei weiche Arme und legen sich um meinen Hals und ziehen meinen widerspenstigen Struwwelkopf an die zart gewölbte, leise klopfende Jungfraubrust. Und ich sitze verloren da und grüble darüber nach, ob der Kopf eines solchen Barbaren einer solchen zarten Behandlung auch wert sei?

Jetzt muß ich fort und über die »Lebenswerte« sprechen – das akademische Viertel ist gleich abgelaufen; aber es gibt nur einen Lebenswert, nur eine Jungfrau Else für

Deinen Paul.


Den ganzen Tag ist immer jemand bei Vater drinnen. Und sie muß doch mit ihm reden – sie will es gleich selbst tun. Das muß jetzt der Küster sein, denn er spricht so laut. Vater hat ihn schon ein paarmal dagehabt; aber da der Küster sich angewöhnt hat, nur auf das zu hören, was er selbst sagt, so ist das ein wesentliches Hindernis für einen glücklichen Ausfall der Verhandlung.

Sie geht hin und horcht, ob sie nicht bald fertig seien. »Nein, sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn einer aus eigener Überzeugung und aus freiem Willen beschlossen hat, den geraden Weg zu gehen, sich von allen Schlingen im Walzer frei zu halten und sich nicht selbst durch die Finger zu sehen, dann kann etwas aus ihm werden, jawohl – aber nicht darum, daß man ein Kopfhänger geworden ist und sich mir nichts dir nichts in einen Missionsverein meldet, oder in eine von diesen Gemeinschaften –«

Mit einem kleinen Seufzer tritt Else von der Tür zurück. Endlich geht der Küster, aber der Zimmermann wartet auch schon. Nun, er braucht nicht so viel Zeit – jetzt ist sie an der Reihe.

In Vaters Stube ist etwas von dem Geruch, für den Mutter den Ausdruck erfunden hat »es menschelt«. Vater sitzt am Schreibtisch, die Bücher vor sich, und sieht müde aus. Der Zimmermann hat die Geburt seines vierzehnten Kindes angemeldet.

»Ich möchte gerne mit dir reden, Vater, wegen eines Briefes, den ich heute bekommen habe.«

Sie sieht Vater an, daß er an Julius denkt, und meint, dieser werde um sie angehalten haben, und daß er sich vorbereitet, die Überraschung mit Fassung aufzunehmen.

»Nämlich, nämlich – Paul hat geschrieben – er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden wolle.« Sie sieht klein und kindlich aus, wie sie dieses Wort mit dem gehörigen Nachdruck vorbringt.

»Paul – was sagst du – Paul?«

»Ja – und ich möchte gerne.« Jetzt ist es gesagt.

»Paul – aber du kennst ihn ja gar nicht. Was soll nun das heißen?«

»Doch – ich habe ihn damals bei Onkel Rektors getroffen, und jetzt neulich – und ich liebe ihn, Vater.« Diese Bekräftigung gehört wohl dazu.

»Du mußt wirklich entschuldigen« – Vater faßt sich an den Kopf – »daß mir das überraschend kommt. Hier läßt du dich nun seit einem Jahr ganz ruhig mit Julius ein –«

»Ich habe mich nicht mehr mit Julius eingelassen als du selbst, Vater.«

»Na, er wird sich ja wohl kaum einbilden, daß ich ihn heiraten wolle. Und nun liebst du auf einmal Paul.«

»Ja, aber das ist nicht auf einmal.«

»Nun, dann auf zweimal.« Vater steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Sie macht ihm offenbar mehr Beschwer als der Küster und der Zimmermann zusammen. »Aber das ist ja ganz unbegreiflich. Wie in aller Welt kann Paul darauf verfallen, dir einen Antrag zu machen – Paul?«

Vater bleibt vor ihr stehen und nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände. »Sag mir einmal, Else, hast du daran gedacht, daß er das ist, was man einen Freidenker heißt?«

»Nein.« Sie sieht mit großen Augen zu ihm auf.

»Er hat es aber wirklich schwarz auf weiß erklärt.«

»Ja – aber ich meine nur, ich hätte daran nicht gedacht.«

»Meine liebe Else« – Vater setzt sich wieder – »das überrascht mich beinahe am meisten. Du hast nicht daran gedacht? Aber wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich habe wirklich nicht daran gedacht.«

»Woran hast du denn dann gedacht? Doch, ihn zu heiraten, so viel ich verstehen kann?«

»Ja.«

»Was denkst du dir denn eigentlich unter der Ehe?«

Er muß fast lächeln über seine eigene Frage, während er sie betrachtet: ein kleines, zartes, schwarzgekleidetes Mädchen, das in seinem großen Lehnstuhl fast verschwindet.

»Über sie selbst habe ich vielleicht nicht so viel nachgedacht,« sagt sie ernst, »denn die Ehe ist für mich nur Paul.«

»Ja, ja – aber wenn du dir nun ein gemeinsames Leben mit ihm denkst, dann meinst du doch wohl, du werdest alle seine Interessen mit ihm teilen, so weit du es vermagst ihn in seiner Arbeit stärken und aufmuntern, neben ihm stehen im Kampf, geistlich gesprochen … Nun aber geht sein Streben – wenigstens in recht wesentlichem Grad, darauf aus, dem Christentum entgegenzuarbeiten. In diesem also wünschest du ihm Mitarbeiter zu sein?«

»Nein, das nicht – ich habe nur gedacht, daß ich ihn lieben werde.« Jetzt kann sie nicht mehr. Sie verbirgt das Gesicht in ihrem Taschentuch.

Vater setzt sich zu ihr und legt den Arm um sie. Sie weint an seiner Schulter. »Ach, Vater, es war von so großer Bedeutung für mich, daß Mutter einmal sagte: ›Sei nur gut gegen Paul, sonst nichts.‹ Mir war, als hätte sie mir ihren Segen dazu gegeben.«

Vater streicht ihr übers Haar. »Da handelte es sich nicht um die Ehe, liebe Else. Glaube mir, da hätte Mutter anders gesprochen.«

»Ach, glaubst du das, Vater, glaubst du das wirklich?«

»Ob ich es glaube! Deine Mutter, die die Ehe so hoch stellte, und der die Gemeinschaft im kleinsten wie im größten nie tief und innerlich genug sein konnte! Nun ja, von dieser Seite kennst du sie ja nicht. Deine Mutter,« – er versinkt in Gedanken und lächelt – »die am Tag nach unserer Verlobung anfing lateinisch zu lernen – mit der ich während des ganzen ersten Jahres unserer Ehe griechisch lernen mußte, weil sie es nicht ertragen konnte, von dem kleinen Neuen Testament, das ich immer in der Tasche trug, ausgeschlossen zu sein! Für sie, Else, war die Liebe in erster und letzter Linie die große Sehnsucht darnach, eins zu sein – im Geist und in der Wahrheit – und wie könntest du das mit einem Manne werden, der alles leugnet, was du …« Vater hält inne.

Else weint noch immer, denn was Vater von Mutter sagt – ach, das ist ja so ganz ähnlich … Und doch, wenn Mutter dagewesen wäre, dann hätte sie gewiß einen Ausweg gefunden, ein erlösendes Wort.

»Sag mir einmal, Else,« beginnt Vater plötzlich wieder, »wie steht es eigentlich um deinen eigenen Glauben?«

Soll sie zur Rechenschaft gezogen werden? Sie steht Vater so entsetzt an, daß dieser ihr wieder zärtlich übers Haar streicht.

»Ja, ich weiß ja wohl, daß du deinen Kinderglauben noch hast, oder besser gesagt, den Glauben deiner Kindheit.«

Sie versteht den Unterschied nicht. »Ist denn das nicht dasselbe?« fragt sie matt.

»Nein,« antwortet er. »Unter dem Kinderglauben verstehe ich das Bewußteste, das Tiefste in einem Menschen – der Glaube der Kindheit aber ist nur der erste tastende Anfang. Den Kinderglauben wählt man selbst, den Glauben der Kindheit bekommt man, oder man gleitet in ihn hinein, und einen anderen Glauben hast du natürlich nicht – das soll kein Vorwurf sein, ich bin gewiß, daß du schon das, was du an ihm hast, zusammen mit deiner eigenen Bibel, mit deinem eigenen Gebet – – wie hast du übrigens seither beten können, ohne daran denken zu müssen?«

»Ich habe nur gedankt, Vater, ich konnte gar nicht anders.«

»Nun ja – und sicherlich könntest du dir gar nicht denken, daß du das Gefühl, das dir der Herr ins Leben mitgegeben hat, je aufgeben könntest?«

»Nein, dann bliebe nicht viel von mir übrig. Es ist ja überall dabei.«

»Jawohl, meine Liebe, aber auf diesem Punkt kannst du nicht stehen bleiben. Was du erhalten hast, mußt du dir auch selbst durch eigene Wahl aneignen, sonst entschlüpft es dir – unwiederbringlich. Wir werden alle vor die Wahl gestellt, und ich glaube, du stehst jetzt davor, denn du hast angefangen, deiner selbst bewußt zu werden, und das Leben tritt vor dich hin. Da gilt es zu wählen, auf welcher Seite man stehen will.«

»Ja, Vater, aber kann ich nicht beide wählen, den lieben Gott sowohl als Paul?«

»Meinst du, die beiden paßten zusammen? ›Sowohl als‹, mein liebes Kind, das ist keine Wahl. Wenn der Weg zum Himmelreich ›sowohl als‹ hieße, gäbe es kaum jemand, der ihn nicht ginge – trotz aller modernen Wissenschaft. Übrigens stellt sich die große Entscheidung eigentlich auch nicht als ein Entweder-Oder dar, jedenfalls nicht sogleich. Die Wahl für die Christen heißt nur: ihn und ihn allein. Erst nachher schaut man sich um, und da entdeckt man, was man in seinem Leben aufgeben muß und was man behalten darf. Dies ist eine Wahl, die du noch nicht getroffen hast. Wenn du dem Herrn angehören willst, Else, mußt du ihm jetzt deine Liebe und deinen Willen ungeteilt geben. Dies ist für mich im Augenblick das Wesentlichste, deshalb will ich vorläufig am liebsten nichts weiter über diese Verbindung sagen, die –«

»Die was, Vater?«

»Zu der ich selbstverständlich meine Einwilligung nicht geben könnte. Nein, Else, denn ich bin der Ansicht, daß sie dir zum Schaden gereichen würde, zum unheilbaren Schaden. Aber mein Nein ist nur ein bedingtes Hindernis, das weiß ich wohl, und deshalb will ich es jetzt nicht vorbringen. Ich wünsche nur, daß du dich prüfst und dir darüber klar wirst, ob du dir deinen Kinderglauben aus den Händen gleiten lassen willst?«

»Ich habe ja gesagt, daß das unmöglich sei, Vater, denn dann könnte ich mich selbst nicht wiederfinden.«

»Oder ob du ihn bekräftigen willst, indem du dich ganz dem Herrn hingibst, denn jetzt kannst du die Wahl nicht umgehen. Ich glaube nicht, das sage ich dir ganz aufrichtig – daß du den Herrn wählen kannst und zugleich das Leben in Verbindung mit – mit dem offenbaren Widerstand gegen ihn; aber die Entscheidung mußt du selbst treffen.«

»Ich kann nicht, Vater, ich kann nicht – denn dann würde ich ihn ja verlieren.«

»Jetzt hast du dieser Verbindung selbst das Urteil gesprochen, Else; ich kann mir also ersparen, es zu tun.«

»Nein, ach nein, Vater, ich meine nur, daß ich mich davor fürchte. Ich kann jetzt gar kein Urteil fällen, ich weiß nur, daß Paul mich liebt und ich ihn.«

»Was liebst du eigentlich, Else?«

»Ihn.«

»Hast du je ein ordentliches ernstes Gespräch mit ihm geführt?«

»Ja – nein, vielleicht nicht so, wie du meinst.«

»Du weißt also gar nicht einmal, was in ihm wohnt. Sein Äußeres ist zwar nicht so bezaubernd, daß man meinen könnte – aber trotzdem muß ich dein Gefühl eigentlich für recht oberflächlich halten. Nun, du bist auch erst achtzehn Jahre alt.«

»Achtzehn und ein halb, Vater, – oder beinahe –«

»Und was sein Gefühl anbetrifft – ja, deine Seele kann er doch nicht lieben, da er nicht an eine solche glaubt. Ich verstehe nicht, wie man sich mit einer rein äußerlichen Liebe begnügen kann, oder daß du dir ein Zusammenleben ohne eine Gemeinschaft in dem heiligsten –«

Diese Worte brachten Elses Tränen zum Versiegen.

Vater legte seine Hand auf ihr gebeugtes Köpfchen. »Bedenke, Else, wenn ich von Mutter nichts besessen hätte als das – was ich auf dem Kirchhof habe versenken müssen, wenn wir nun beide nicht die gewisse Hoffnung hätten –«

Else schlingt die Arme um seinen Hals. »Ach, das wäre schrecklich, Vater, sie ist trotzdem ferne genug. Aber jetzt ist mir Mutter und Himmel dasselbe.«

»Nicht ein und dasselbe, wie du es nennst, aber wir glauben, daß sie lebt, und daß die eigentliche Gemeinschaft mit ihr unverändert fortbesteht. Wie kannst du dir da denken, daß du diese Gemeinschaft in deiner Ehe entbehren könntest?«

»Nein, Vater, aber glaubst du nicht, Paul könnte – wenn er mich doch lieben gelernt hat, was ja ganz und gar nicht wahrscheinlich war – so könnte er doch auch –«

»Spekulierst du auf seine Bekehrung? Liebe kleine Else, du bist selbst nicht bekehrt und meinst schon, du könntest einen andern bekehren!«

»Nein, ich meinte nur, da ich ihn liebe, da er mich liebt –«

»Ich glaube, diesen Gedanken solltest du auf der Seite lassen. Du kannst dir selbst sagen, daß eine Ehe mit dir nicht der Weg sein wird, ihn dem Christentum näher zu bringen.«

»Warum nicht, Vater?«

»Glaubst du wirklich, daß du den Kampf gegen alle seine Argumente aufnehmen könntest? Bedenke, so oft du ihn nicht widerlegen kannst, bestärkst du ihn in seinem Widerstand. Und welche Achtung, meinst du, werde er vor deinem Glauben bekommen, der dich nicht hindert, dich mit einem Atheisten zu verbinden? Kann er den Eindruck bekommen, daß er eine lebendige Macht oder auch nur eine Wirklichkeit für dich sei? Du schwächst ja schon zum voraus deinen eigenen Einfluß. Nun, wie gesagt, ich will jetzt gar nicht weiter darauf eingehen.«

Vater ist aufgestanden und steht vor ihr. Sie sitzt ganz unbeweglich. Er legt ihr beide Hände auf die schmalen Schultern.

»Hast du mich verstanden, liebe Else?«

»Ja, Vater.«

»Glaubst du, daß ich es gut mit dir meine?«

»Ja.«

»Ich kenne dich genügend, Else, um zu wissen, daß du dich ohne die Nähe Gottes nie glücklich fühlen würdest. Deshalb bitte ich dich jetzt nur: binde dich nicht, ehe du dich – ja, wie es heißt – mit dem Herrn beraten hast, oder besser gesagt, bis du ganz genau weißt, was sein Wille in Beziehung auf dich selbst ist. Schreibe Paul, er solle dir Zeit lassen, dir selbst klar zu werden, und bringe dein Anliegen vor den Herrn. Das ist alles, um was ich dich bitte.«

Alles, um was Vater bittet. Ach ja, denn er ist ja sicher –

»Kommt es dir nicht auch so am richtigsten vor?«

»Doch, Vater.«

Er küßte sie auf die Stirn, und sie gleitet leise zur Tür hinaus. Am nächsten Tag sitzt Else an Mutters kleinem Schreibtisch. Die Perlen, in denen die ganze Welt enthalten ist, liegen tief verborgen in einer der Schubladen. Die ganze Nacht hindurch ist es ihr gewesen, als liege sie in einem großen Doppelbett, und als sei sie der Martin, über den der Arzt den Kopf schüttelte – und Vater säße am Bett und läse mit Martines dumpfem Ton vor: »Geht nun hin und grabt mein Grab –«

Ach, wenn Mutter jetzt da gewesen wäre! Mutter mit ihrer Kunst, die ihr niemand nachmachen konnte, auf der richtigen Seite zu stehen und doch die Hochzeitsgeige erklingen zu lassen!

Draußen klatscht ein schwerer, vom Wind gepeitschter Herbstregen nieder. Das Begräbnis rückt gegen die ganze frohe Sommerwelt heran; nicht gegen die Hochzeitswelt – nein, nein, sie darf nicht wieder begraben werden!

Jeden Augenblick wischt sich Else die Augen; Tränenspuren sehen auf Papier so häßlich aus.

 

24. September.

Geliebter, teurer Paul!

Alles, was Du von mir glaubst, das bin ich alles mit einander, nicht weil etwas an mir wäre, sondern weil ich Dich liebe – so sehr, wie alle Menschen zusammengenommen, die Du in Deinem Leben nötig haben könntest. Ich weiß nicht, wann diese Liebe begann, denn es ist mir gar nicht, als habe sie je begonnen, mir ist, als gehöre sie zu mir – schon lange, lange. Von der Zeit an, wo ich mit meiner Puppe von dem Ritter spielte, der einst kommen sollte, ist es, als habe ich gut gewußt, daß Du hinter dem Spiele standest. Es gefällt mir so besonders gut, daß Du sagst, es brauche weder Frage noch Antwort zwischen uns, denn jedes verstehe alles, was das andere meine. Aber als ich Deinen Brief gelesen hatte – ach, ich danke Dir für diesen Brief, Paul, ich liebe ihn so sehr! – ging ich gleich zu Vater, denn ich wollte selbst mit ihm sprechen. Und er sagt – ja, er könne seine Einwilligung nicht geben, aber das solle nicht das Hindernis zwischen uns sein – ich selbst müsse mir das überlegen. Und das habe ich so getan, daß mir jetzt der Kopf bitter weh tut, und daß das, was ich jetzt schreibe, vielleicht keinen rechten Sinn hat.

Ach, Paul, es ist so schwer, daß Du darauf verfallen bist, mich Jungfrau Else zu nennen, obgleich es wunderschön ist, wenn Du es erklärst; denn ich kann es ja nicht lassen, immerfort an die Antwort jener Else im Volkslied zu denken, es ist, als hättest Du sie selbst hervorgerufen. »Da antwortet Jungfrau Else: – ich mach nicht auf meine Tür, eh Du« – ja, Du weißt selbst, was nachher kommt.

Etwas gibt es, Paul, was uns vielleicht trennen wird. Ich weiß wohl, ich sprach nicht mit Dir davon, weder beim ersten- noch beim zweitenmal, das war vielleicht unrecht, aber es kam daher, daß ich dachte, wir fühlten an jenem Abend so ganz gleich; ich konnte mir nichts anderes denken, als daß Du denselben Glauben habest wie ich. Vater sagt, was ich jetzt tun müsse, sei, mir darüber klar zu werden, was ich in mein Leben mit hereinnehmen könne und auf was ich verzichten müsse – und ich dürfe mich nicht binden, ehe ich mir ganz klar sei, und darin hat er ja auch recht.

Meinen Glauben kann ich nie aufgeben – (sie hält an und liest den Satz durch mit kräftigem innerem Nachdruck; mitten in ihrem Herzenskummer gefällt es ihr, daß es dasteht und daß Paul sehen kann, daß –), lieber will ich alles andere in der Welt aufgeben. Mein geliebter, teurer Paul, Dich lasse ich nicht, denn das kann ich nicht – ich werde Dich immer lieben und nie einen anderen. Ich weiß nur nicht, ob ich Dich werde heiraten können, aber das macht ja keinen so großen Unterschied – (sie hält wieder inne, ach, es macht einen so unermeßlich großen Unterschied, daß ihr Herz sich schon bei dem Gedanken ganz krank fühlt; aber sie schreibt es um seinetwillen und weil es doch wahr ist), wenn ich immer an Dich denke und Dich in meinem Herzen trage, denn das werde ich beständig. Ach Paul, es ist so schwer für mich – es ist, wie wenn ich in ein schwarzes Loch hineinsähe, oder wie in den Tod hinein, wenn ich mir ein Leben ohne Dich denken soll. Mir ist, als müßte ich Mutters Tod und Begräbnis noch einmal durchmachen – und es wäre noch schlimmer als damals. Und ich weiß ja noch gar nicht, ob es durchaus sein muß. Aber Paul, wenn ich das vielleicht auch jetzt noch nicht einsehen kann, so wäre es doch noch viel schwerer, wenn ich bei Dir wäre mit dem Bewußtsein, daß Du meine Seele gar nicht liebtest – wenn ich neben Dir herginge und mich innerlich ganz allein fühlte, und wüßte, daß Du mit diesem Leben mit mir fertig wärest und eine Ewigkeit mit mir zusammen gar keine Bedeutung für Dich hätte. Ich glaube, das Herz würde mir darüber brechen, denn dann müßte ich ja doch allein lieben. Ach Paul, eins, nur eins möchte ich für Dich sein, die, bei der Du Freuden pflücken könntest – und dabei vielleicht immer wieder neue finden würdest – und jetzt muß ich Dich doch betrüben. Aber willst Du auf mein Ja warten? Nicht für Dich selbst, denn das weißt Du schon! sondern auf das Ja, daß ich Dich heiraten will. Dann will ich sehen, daß ich Klarheit und Sicherheit erlange, denn jetzt weiß ich noch nicht – ich weiß noch nicht – –

Ach bitte, bitte, verstehe diesen Brief und sage ja dazu, sage, daß nichts zwischen uns entschieden sein soll, aber daß wir doch ab und zu von einander hören und einander immer, immer lieben werden.

Deine Else.

Sie legt den Kopf auf ihre Arme. Ach, ganz anders sollte es dastehen, aber jetzt kann sie nicht mehr. So schreibt sie nur »Geliebter teurer Paul!« darunter und küßt den Namen einmal ums andere, bis sie wieder über die Tränenspuren auf dem Papier erschrickt und den Brief mit zitternder Hand zusammenfaltet. Sie hält es für besser, ihn nicht mehr durchzulesen, lieber sollen ein paar Komma verkehrt sein, über deren Gebrauch sie ohnehin nie ganz sicher ist.

Wenn der Postbote den Brief heute mitnimmt, hat Paul ihn morgen früh, und dann kann seine Antwort übermorgen da sein. Sie hält sie in den Händen. Ein großer dicker Umschlag, den sie fast nicht zu öffnen wagt. Ach, wie soll sie es ertragen, seinen ganzen Schmerz zu lesen, und wie soll sie seinen verzweifelten Bitten und Überredungen widerstehen! Dazu wird sie nie den Mut haben. – Nun, so sei es ohne Mut! Sie öffnet den Umschlag mit einem Ruck und entfaltet den Brief.

 

25. September.

Liebe Else!

Dein Brief, der nicht ganz leicht zu verstehen war, hat mich etwas erstaunt – was Du vielleicht begreifen wirst.

Du richtest plötzlich eine Mauer zwischen uns auf – das heißt, Du weißt nicht, ob sie da sein wird, aber Du glaubst es. Du ziehst ein Hindernis hervor, das mir wie ein Blitz aus blauem Himmel vorkommen muß, denn wenn wir uns neulich auch bis zu einem gewissen Grad eins fühlten, wie Du es nennst, so kannst Du mich doch wohl kaum, auch in Deinen wildesten Phantasien nicht, für einen überzeugten Christen gehalten haben – und ich hatte nicht gemerkt, daß Du diesem einen Gedanken geschenkt oder auch nur den Schatten eines Bedauerns darüber gefühlt hättest.

Nun haben augenscheinlich die Worte Deines Vaters Dir meine Lebensanschauung vorgestellt wie ein Gespenst, das Dir den pflichtschuldigen Schrecken einjagt, während ich absolut nicht einsehen kann, daß uns eine Verschiedenheit der Auffassung trennen müßte. Was hat sie mit unserer Liebe zu tun? Von mir aus sollst Du Dein Christentum in vollster Freiheit und in vollem Frieden haben dürfen, und mit der Achtung vor der Überzeugung des andern – durch deren Mangel ihr euch auszeichnet – werde ich Dich glauben lassen, was und wie Du willst. Du brauchst mich durchaus nicht zu versichern, daß Du Deinen Glauben nie aufgeben werdest, denn ich habe nicht im Sinn, dies von Dir zu verlangen.

Weiter schreibst Du, daß Dein Herz brechen würde – dies geschieht nun überhaupt mehr in den Romanen als im Leben – wenn Du mit mir verheiratet wärest und wüßtest, daß ich Deine Seele nicht liebte und Du innerlich also ganz allein sein würdest. Ja, das sind wir alle – diesem kannst Du gar nicht entgehen, selbst mit dem allerchristlichsten Gatten nicht. In die Einsamkeit unseres Bewußtseins tritt nie der Fuß eines andern. Aber daß ich Deine Seele nicht liebte – was soll das heißen? Soll das mit anderen Worten ausdrücken, daß ich mich nur an Deinen Körper gebunden hätte, und ist es ein Aufguß der alten ewigen Beschuldigungen für die Sinnlichkeit, die man jedem frei ins Gesicht schleudern zu dürfen meint, der sich nicht zur christlichen Lehre bekennt. Jawohl liebe ich Deinen Körper, das ist sehr richtig, Else, und seit ich ihn in meinen Armen gehalten habe, fein und zart und bebend, habe ich nur eine Sehnsucht, Dich für immer zu umarmen.

Doch um die Seele handelt es sich – ja, wo hast Du sie denn?

Doch wohl in Deinem Körper? Außerhalb hast Du sie nie besessen. In dem Buch, das Du kennst, steht etwas davon, daß das Blut »die Seele des Fleisches« sei. Die Seele im Blute, das verstehe ich. Mit jedem Tropfen des roten Blutes, das von Deinem Herzen in Deinen Körper getrieben wird, sehe ich etwas von dieser Seele, die dazu gehört und sich in jeder Bewegung kundgibt. So oft Du den Hals neigst, die Augen niederschlägst oder plötzlich aufschaust, so oft Du Deine schlanken Finger schließest oder öffnest, so oft Du einen Schritt machst, sehe ich Deine Seele, eine Offenbarung Deines Wesens, die ich mir beinahe, obschon es ein Widerspruch ist, von Deinem Körper losgelöst denken könnte, die Bewegung als etwas für sich, das mir noch teurer ist, als der Körper selbst.

Ich kann dies noch weiter ausführen, etwas, was ich am besten an Dir kenne, und wofür ich Dich am meisten liebe, ist, daß von Dir, und zwar durch jede Deiner Bewegungen, eine Stille ausgeht. Die meisten Menschen, die ich kenne, melden sich mit Lärmen an und lassen eine lärmende Leere zurück. Wohin Du kommst, da wird es stille, und wenn Du gehst, ist ein Widerhall da, der gleichsam noch lange mit einem spricht. Als Du von Deinen Pfarrhauszimmern sagtest: »Das ist Mutters Werk« – da fühlte ich, daß dies alles »Jungfrau Else« war, denn sie waren so von Stille erfüllt – trotz Fräulein Dagny und Fritz – daß Ruhe herrschte, wo man stand, und daß nur eine, nur eine einzige auf der Welt da ihr Wesen getrieben haben konnte.

Diese Stille, die von jeder Deiner Bewegungen ausgeht – ich vernehme sie wie einen Gesang – und ich, den das Musizieren leicht ermüdet, könnte dieser Harmonie ohne Töne immerfort lauschen. Weißt Du, gerade wie jener Mönch im Walde, der immer nur einem Vogelton lauschte. Ist es da nicht Deine Seele, auf die ich lausche? Ist es nicht Deine Seele, die ich liebe?

Aber eine Ewigkeit mit Dir zusammen, das Wort sollte für mich keine Bedeutung haben?

Ewigkeit ist unleugbar ein sehr großes Wort, und ich liebe es nicht so sehr wie ihr – und doch meine ich gerade, der Schimmer der Ewigkeit, den man bisweilen in seinem Leben auffangen kann, sei in mein Leben hereingebrochen mit Dir oder durch Dich. Du hast mir ein Erlebnis bereitet, das ich noch nicht ganz ergründen kann, einen Augenblick, der nicht ausgelebt werden kann – ist das nicht Ewigkeit?

Nein, denn Du meinst die Ewigkeit nach dem Tod, nicht wahr? Ihr müßt es immer so massiv und systematisch wie möglich haben.

Liebe Else, selbst wenn es ein bewußtes Leben nach dem Tode gäbe, könnte niemand, Du ebenso wenig wie ich, im voraus sagen, wie uns da zumute sein würde. Und ich will Dir gerne zugeben, daß ich Dich für das Leben hier und für sonst keines haben möchte … Ja, so ehrlich und so an die Erde gebunden bin ich. Übrigens war ich der Ansicht, die Ehe wäre nicht über den Tod hinaus, selbst bei euch nicht. Oder lieben die Christen vielleicht ihre ersten Ehegatten noch immer für ewig, während sie die zweiten und dritten haben? Das kommt ja häufig vor, selbst bei Pfarrern. In diesem Fall ist es nicht schwer, sich der ewigen Liebe zu verpflichten, und auch nicht lästig, sie zu halten – und ich könnte sie schließlich zur Not auch aushalten.

Aber dieser Brief soll nicht ein Angriff auf die Gefühle der andern oder eine Apologie für die meinigen sein; die ersten sind mir vollständig gleichgültig, die letzteren brauchen es nicht. Ich mußte nur auf Deine Einwendungen eingehen.

Eins muß ich Dir noch sagen, für mich ist durchaus nichts Imponierendes bei dem Opfer, das Du auf dem Altar des Glaubens bringen sollst. Dein Konfirmandenchristentum wird in meinen Augen nicht besser, weil Du es als ein Hindernis zwischen uns aufbauschest. Ich weiß nur zu gut, daß die Menschen es oft nötig haben, sich von der Macht des Glaubens in ihrem Leben zu überzeugen – oder ihm Realität zu geben – durch eine krankhafte Entsagung um seinetwillen. Aus diesem Grunde habe ich einst meinen einzigen und besten Jugendfreund verloren.

Wir waren Klassenkameraden, und er war der schönste in der Schule, wie ich wohl der häßlichste. Er war ein Pfarrerssohn und wollte Theologie studieren; wir nannten ihn den »Prälaten«. Er hatte sich fast ausschließlich an mich angeschlossen, wir schwärmten beide für die großen klassischen Dichter, »Gottes edelste Söhne«, und die Schönheit des Lebens. Den Gedanken von »Licht und Sonne für alle« habe ich zum Teil von ihm. In einem Punkt stimmten wir nicht überein; er hielt mit der ganzen religiösen Anlage seiner Natur hartnäckig an der christlichen Überlieferung fest. Da ließ er sich auf keinen Widerspruch ein; ohne sie hatte das Leben für ihn keinen Mittelpunkt.

Als junge Leute sahen wir uns weniger; er hatte Perioden tiefer Schwermut, wo er sich einschloß, und andere, wo er sich Hals über Kopf Vergnügungen hingab, die nie eine Anziehung für mich gehabt haben. Aber eines Abends, als er eben Kandidat geworden war, kam er zu mir und sagte, er wolle Missionar werden. Nicht im Dienst der dänischen Missionsgesellschaft, deren Posten kamen ihm zu zivilisiert vor, sondern nach Afrika wollte er, an den Zambesi, zu weißen Ameisen, Krokodilen und Lehmhütten, die in der Regenzeit über einem einstürzen. Ich fragte ihn, ob er auch bedacht hätte, welch ein großes Opfer das für seine verfeinerte Natur sei, und da antwortete er ungeduldig: »Ja, ja, gerade deshalb gehe ich ja. Versuche nicht, mich zurückzuhalten, bewundere mich auch nicht dafür. Dir will ich es gestehen, für mich ist es der letzte verzweifelte Versuch, sonst nichts.« – »Was für ein Versuch?« fragte ich, während er aufsprang und im Zimmer hin und her rannte. Da blieb er vor mir stehen und sah mich mit einem Blick an, den ich nie vergessen werde. »Ich meine, wenn ich so viel wirklich Wertvolles für das opfere – dann muß es doch wirklich werden können.« – »Und wenn es doch nicht wirklich wird?« – »Dann kann ich ebenso gut im Schlamm des Zambesiflusses untergehen, als in dem der zivilisierten Hauptstadt.«

Ähnliche verzweifelte Versuche sind vielleicht der Grund zu vielen der »christlichen Werke«, die die Menschen so sehr bewundern, denen ich mich aber seither etwas skeptisch gegenüberstelle.

Doch jetzt meine Antwort auf Deinen Vorschlag. Nein, Else, absolut nein! Auf etwas Schwebendes, Unbestimmtes zwischen uns, das eines schönen Tags mit einer Entscheidung nach der einen oder eher nach der andern Seite enden soll, lasse ich mich nicht ein! Entweder Du bist mein – ohne Vorbehalt, ohne Bedingung, ohne Abhängigkeit von etwas anderem zwischen Himmel und Erde, als von Deinem eigenen Herzen, oder – ja, oder unsere Wege müssen sich trennen.

Verstehe mich recht, ich bin bereit, vorläufig auf Dich zu warten – wenn ich es auch ungern tue. Sagen wir, ein oder auch zwei Jahre, und ich will auch alle nur mögliche Rücksicht auf Deinen Vater und auf Deine eigenen Wünsche nehmen. Eine sogenannte Verlobung will ich gar nicht, die Liebe, die uns zusammenzwingt, sollen andere nicht im voraus schon befühlen und betasten dürfen. Aber eins muß entschieden sein. Du bist mein, und ich bin Dein. Wir schreiben einander als das, was wir sind – und wir müssen uns bisweilen sehen dürfen. Und an dem Tag, wo ich nicht mehr ohne Dich sein kann, an dem Tag mußt Du kommen, weil – weil mein Recht auf Dich, das Du mir aus eigener, freier Wahl eingeräumt hast, das größte ist.

So muß es sein, auf etwas anderes gehe ich nicht ein. Die Liebe, die Du mir bietest, indem Du beständig an mich als einen in der Ferne Weilenden denkst, will ich weder erwidern noch annehmen. Ich kann natürlich wohl ein Gefühl schätzen, das unter einer unumgänglichen, hoffnungslosen Trennung aufrecht erhalten wird, aber nicht, wenn die Trennung freiwillige Tat des einen Teils ist. Wenn Du Dich mir selbst versagst – dann sind alle Versicherungen von Liebe überflüssig.

Nun handelt es sich doch um Frage und Antwort zwischen uns, aber so, wie Du Dich dazu gestellt hast, ist dies jetzt unvermeidlich. Sagst Du ja, Else, das heißt zu dem Zusammenleben mit mir? Oder kannst Du nein sagen – trotz Deinem eigenen Herzen, trotz der Wahrheit? Ich sage nicht trotz meiner?

Dein Paul.

Mehrere Stunden sind vergangen, sie weiß nicht wie viele. Vater pfeift Juno im Flur, dann schaut er zur Tür herein: »Willst du mit in den Wald?«

Ja, warum nicht! Sie setzt einen Hut auf, und Dorthe kommt mit einer dicken Jacke herbei. »Man denkt zwar noch nicht gern an den Winter, aber der Sommer vergeht,« sagt sie.

Es ist ganz still im Wald. Er ist noch schön, aber tief drinnen riecht es feucht und moderig. Der Sommer entflieht, Blatt um Blatt. Der Wald weiß, daß er nicht ein einziges zurückhalten kann, und er versucht es auch gar nicht. Er läßt das Leben entfliehen und sieht nur so hoffnungslos aus, daß einem das Herz weh täte, wenn dies nicht schon vorher der Fall wäre.

Da ist die Lichtung im Walde, die Mutter die »Insel« nannte, und wo die Adlerfarne so dicht gedrängt stehen, daß sie sich förmlich um den Platz streiten, während die Birken freundlich auf sie herabschauen, wie zierliche Fräulein, die Frieden halten und ihre seidenen Schleppen über der rohen Menge aufnehmen. An diesem Platz ist es schon ganz gelb geworden; schleierzart und wie lichtes Gold sind die feinen Kronen der Birkenfräulein, und in den kühnsten Schattierungen von braunrot bis schwefelgelb prangend fallen die streitsüchtigen Farnkräuter über einander her. Der stattliche Tannenwald dehnt sich dunkelgrün und ohne Mitgefühl nach den Seiten hin aus.

Plötzlich hält Vater an. Vor einem großen Busch Farnkräuter »steht« Juno wie versteinert. Sie macht dies noch besser als die alte Diana. Hinter den gefiederten leuchtenden Farnkräutern funkeln zwei Augen hervor.

»Ein Hase!« flüstert Vater. In diesem Augenblick springt der Hase auf, und Juno hinter ihm her – um die ganze Insel herum in wirbelndem Lauf, mit kurzem, fast heulendem Kläffen, während Vater ihr pfeift und Else aus Leibeskräften ruft.

Endlich kehrt Juno zurück, schnaufend, mit dampfender Zunge, die ihr auf der einen Seite des Maules weit heraushängt – den Schwanz zwischen die Beine eingezogen – um ihre Prügel in Empfang zu nehmen. Juno kann das Jagen nicht lassen, und sie würde einen außerordentlich guten Jagdhund abgeben. Vater erzählt, daß sie kürzlich, als Fritz sie entlehnt hatte, das Wild sogar »verbellt« habe.

»Es war ein großer, fetter Hase,« fügt Vater mit einer stillen Wehmut in der Stimme hinzu. Er setzt sich mit Else auf eine Bank, die sich an der Kreuzung der Wege um eine knorrige Eiche hinzieht.

»Hier saß deine Mutter einmal,« sagt Vater, »mit einem Strauß Kaprifolien, nach denen sie über Gräben und Mauern gesprungen war. Sie war sehr müde und sagte, ich werde sie nach Hause tragen müssen. Es war nicht lange vor der Geburt des kleinen Karl. Da fiel mir ein Wort von Katharina von Siena ein. »Von dem göttlichen Meister fehlt uns gerade so viel, als wir von unserem Eigenen behalten.« Das Wort gefiel deiner Mutter sehr gut; sie erzählte von Siena und der kleinen Färbertochter, ich sagte auch, was ich davon wußte, und ehe wir uns versahen, waren wir vor dem Pfarrhaus angelangt. Später nannte deine Mutter diese Katharina immer »die liebe kleine Heilige, die mir heimhalf«.

Die kleine Heilige – die mir heimhalf –

»Woran denkst du, mein Kind?« So bleich und versonnen hat Vater seine Else noch nie gesehen.

Sie fährt zusammen und errötet ein wenig. »Ich weiß es nicht. Vater, warum haben wir so wenig Achtung vor der Überzeugung der andern – wenn sie sich doch alle Mühe geben, die unsrige zu respektieren?«

»Tun sie das wirklich? Das habe ich noch nie bemerkt,« sagt Vater, »übrigens könnte es auch von einem Mangel an Vertrauen in ihre eigenen Überzeugungen herrühren. Aber warum wir« – Vater steht auf und streift etwas Rinde von seinem Rock ab – »ja, warum hattest du so wenig Respekt vor Julius' musikalischer Auffassung, wenn ihr mit einander übtet?«

»Weil sie falsch war.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hörte es ja.«

»Das heißt, du verläßt dich unbedingt auf dein eigenes Gehör. Ich kann mich nicht erinnern, daß du dich ihm ein einzigesmal gefügt hättest, wenn er ein Lied anders beginnen wollte als du.«

»Nein, denn vor falschen Tönen kann ich keinen Respekt haben.«

»Nun, so geht es uns auch. Was für uns falsche Töne sind, können wir nicht respektieren; der Dinge sind sogar drei, die uns zu unserem Standpunkt berechtigen, und die dir bei Julius fehlten. Erstens geben sich diese Menschen nicht alle Mühe, denn sie haben ursprünglich alle denselben geistlichen Sinn bekommen wie wir, während ihm der musikalische abging – die sogenannte religiöse Anlage hat nämlich nicht viel mit dem Glauben zu tun. Zweitens wissen wir, daß ihnen ihr Standpunkt selbst zum Verderben wird, und um ihretwillen können wir ihn nicht anerkennen. Und zum dritten können wir alle falschen Töne bei den andern nach uns selbst beurteilen, denn auch wir haben sie in unserm Herzen, deshalb wissen wir, woher sie kommen und wohin sie führen. Wir stehen in beständigem Kampf, damit sie nicht auch bei uns laut werden – und was wir an uns selbst verdammen, können wir doch nicht an andern anerkennen.«

Vater bleibt stehen und schaut über die herbstlich gelbe Insel hin. »Hast du einen Brief von Paul bekommen?«

»Ja.« Er liegt ihr schwer auf dem Herzen, es ist, als bohre er sich tief hinein, und doch muß sie ihn nahe, ganz nahe haben.

»Ich dachte es mir.« – Vater umfaßt ihr Köpfchen mit beiden Händen. – »Liebe, kleine Else.«

Sie steht auf und sie gehen zusammen weiter. Zwischen den Tannen erzählt sie Vater die traurige Geschichte von Pauls Freund.

»Armer Mensch!« sagt Vater. »War denn nicht ein vernünftiger Mensch da, der ihm von der Reise zu den weißen Ameisen abgeraten hätte? Wie sonderbar, dem Christentum durch ein Opfer, das man selber bringt, Wirklichkeit geben zu wollen – das in demselben Augenblick, wo man sich darauf stützen will, einstürzt. Die Wirklichkeit ist da – in einem Opfer, das für alle Zeiten gebracht worden ist. Darein soll sich der Mensch versenken, dann wird er die Wirklichkeit davon erfahren. Aber dies wollen sie lieber umgehen – sie wollen lieber an den Zambesi – wollen verzweifeln dürfen.«

Vater pfeift Juno. »Wo ist der Hund wieder?« Mit einem schlechten Gewissen kommt er dahergejagt, streift es aber gleich ab, als er merkt, daß niemand etwas entdeckt hat.

»Können denn alle Menschen glauben, Vater?«

»Ja, wenn sie es sich nicht selbst unmöglich machen. Der Sitz des Glaubens ist in unserem tiefsten Innern, wo wir ganz, ganz allein sind, ohne jegliche Hilfe von außen, wo uns eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als zu widerstehen oder uns hinzugeben. Ein kindlicher Glaube ist die Übergabe da drinnen … Aber dort schließen die Menschen sich ein – dort wollen sie ihre eigenen Herren sein. Dann kommen sie mit ihren Gedanken – aber in den Gedanken kann der Glaube nicht beginnen, deshalb ist es gewissermaßen richtig, wenn sie sagen, sie könnten nicht glauben. Aber wer ist schuld daran?«

Else empfindet es als eine Art Beruhigung, daß Vater spricht, und daß sie sich zwingen muß, ihm zuzuhören, dann kann sie selbst warten … Jetzt auf diesem Spaziergang ist es ihr gerade wieder zumut wie an jenem traurigen Morgen, wo sie sich der Überzeugung, daß Mutter tot war, nur noch ein Weilchen – nur noch ein Weilchen, verschließen wollte.

Aber diesmal will sie den Widerstand festhalten. Der Kirchhof darf nicht vorrücken und die Hochzeitseite begraben – ihre eigene Hochzeit. Sie will ihr Glück und ihr Leben haben wie die andern …

Als sie heimkehren, ruht die Dämmerung weich wie ein Mantel über dem Pfarrhaus und Garten.

»Schreibst du heute abend an Paul?« fragt Vater, als sie im Zimmer angekommen sind.

»Ja, vielleicht.«

»Er will natürlich nichts von einer bedingten Antwort wissen, aber er läßt dir doch wohl Zeit, zur inneren Klarheit zu kommen?«

»Nein, er will sogleich ein Ja haben – oder gar keines.«

Vater tritt zu ihr. »Nun, und du?«

Sie sinkt ihm in die Arme, und ihr jammervolles Weinen schneidet ihm ins Herz.

»Wenn du nun nicht anders könntest, Vater? Wenn ich nicht anders kann?« Sie wimmert an seinem Hals.

Er nimmt sie auf den Schoß – was er fast nie getan hat, solange sie ein kleines Kind war. Es ist, als ob er jetzt in seiner sparsamen Weise etwas von der Zärtlichkeit geben wollte, mit der Mutter so verschwenderisch gewesen war.

»Für mich würde es ein großer Schmerz sein – ungefähr der größte –«

»Ach, Vater!«

»Das schlimmste von allem ist, an seiner Seele Schaden zu nehmen, und wie könntest du das unter solchen Verhältnissen vermeiden? Die Luft, die man einatmet, beeinflußt einen doch. Und ich glaube, daß dir dieses Glück eine große Enttäuschung bringen würde. Ja, mein liebes Kind, ein Mensch, der in keinem Verhältnis zu Gott steht, kann dir das Gefühl, von dem du träumst, nicht bieten. Seinem Herzen fehlt die wahre Tiefe, es ist nicht lebendig geworden. Man spricht so viel von der Humanität unserer Zeit – o ja, aber sie existiert doch hauptsächlich in Gedanken. Das Herz kann deshalb doch trocken und kalt sein, nichts trocknet so aus als die Verneinung, und die Kultur allein kann das nicht wieder gut machen. Meinst du da nicht selbst, daß eine Liebe, die dir nicht einmal Zeit lassen und das Recht der Überlegung einräumen will, weder verständnisvoll noch rücksichtsvoll ist?«

»Ach nein, Vater, darum handelt es sich gar nicht. Paul kann sich nur gar nicht denken, daß ihn jemand wirklich liebe, und nur um zu verbergen, wie sehr er darunter leidet, zeigt er sich unliebenswürdig.«

»Nun ja, jeder auf seine Weise. Ich kann dich nicht in seine Hände wünschen, das weiß ich, und ich könnte mir gar nicht denken – aber nicht mein Glaube soll dich von ihm scheiden, dein eigener muß dich leiten.«

Wie bitterlich sie weint! Zorn erfaßt ihn bei dem Gedanken an die Hände, die so rücksichtslos nach ihr gegriffen haben. »Ist es so schwer, kleine Else?«

»Ach, es kommt mir schlimmer vor als der Tod, wenn ich Paul lassen soll.«

»Schlimmer als der Tod! Liebes Kind, dies ist deine erste Liebe – und sie pflegt weder die entscheidende noch die bleibende zu sein – besonders nicht, wenn sie sich in so jungen Jahren einstellt.«

»Du hast aber doch selbst gesagt, Mutter sei erst achtzehn Jahre alt gewesen, als du sie auf jenem Waldfest sahest, und du nicht mehr als fünfundzwanzig – und –«

»Deine Mutter – meine liebe Else – deine Mutter –« Zwischen Mutter und irgend sonst jemand ist ein so großer Abstand, daß Vater ihn nicht auf einmal überbrücken kann. »Deine Mutter – die so einzig in ihrer Art war – sie mußte ja auch ein ganz einzig dastehendes Gefühl erwecken –«

Ihr Kopf sinkt wieder an seine Brust. »Ach Vater, was soll ich tun, wenn ich doch nicht kann, wenn ich nicht kann? Denn ich kann nicht –«

»Nein, du kannst nicht. Weißt du nicht, daß man erst dann kann, wenn man angefangen hat, nicht mehr zu können?«

Er steht auf und umschließt ihre Hände mit den seinigen. »Wollen wir beten, Else?«

Sie läßt es ihn tun und hört nur zu. Sie ist so müde …

Vater betet, daß Gott ihr Herz erleuchte, daß er ihr Kraft gebe in ihrer Gebrechlichkeit, um seinen Willen zu dem ihrigen machen zu können. Es ist gerade wie damals, wo er für Mutter betete, eines der Gebete, die zum Sterben helfen, wie es auch Mutter damals half, aber nicht um dem Tod zu entgehen. – Das meint Vater auch gar nicht, es ist viel eher, als sei er sich bewußt, daß er Erde darauf werfe – Erde auf all ihr Glück.

Aber unwillkürlich kehrt Ruhe bei ihr ein, etwas von dem Wort Abendkühle, das sie als Kind so gerne gehabt hatte, und sie sagt mit Vater: »Amen«.

Dann steht er auf, um Licht zu machen. Es ist schon lange ganz dunkel im Zimmer, und im Eßzimmer hören sie Dorthe mit dem Teegeschirr klirren.

 

27. September.

Geliebter Paul!

Ich kann nur dasselbe sagen wie das letztemal, daß ich nur ein Ja für Dich habe – das kann sich nie in meinem Leben ändern – aber ehe ich mir innerlich ganz klar geworden bin, kann ich Dich nicht heiraten, und das ist doch das einzige, was ich wünsche – lieber heut als morgen – denn es gibt keinen Augenblick, wo ich mich nicht nach Dir sehnte.

Aber ich wage es jetzt noch nicht, Paul, gerade um der Wahrheit willen, wie Du sagst. Wenn ich jetzt mit einem Ja versichern sollte, daß ich mich mit Gott im Himmel über Dich beraten habe, was ich doch nicht getan habe, dann wäre es ja eine Lüge. Auch um meines eigenen Herzens willen wage ich es noch nicht; wenn ich mit einem schlechten Gewissen zu Dir käme, könnte mein Herz seines Glückes nicht froh werden – und gerade wenn es ganz froh wäre, würde es mich noch ängstlicher machen. Aber am allermeisten wage ich es um Deinetwillen nicht – denn wenn es ein Unrecht wäre, daß ich käme, so wäre es nicht gut für Dich, es wäre dann kein Segen dabei, und Dir schaden, das möchte ich am allerwenigsten.

Wenn Du also das, daß ich nicht gleich Ja sage, als ein Nein auffassen willst – dann weiß ich schon, wie Du diesen Brief aufnehmen wirst.

Aber wenn ich nun um Deinetwillen etwas, das ein Unrecht wäre, nicht zu tun wage, dann, lieber Paul, bedenke, daß ich es nur tue, weil ich Dich liebe …

Soeben habe ich Deinen Brief noch einmal durchgelesen, sowie diesen Anfang des meinen. Und jetzt kommt es mir vor, als drücke er gar nicht aus, was ich denke, und als komme er Deinem Brief gar nicht recht entgegen. Das kommt daher, Paul, daß ich, so oft ich Deinen Brief lese, immer das Gefühl habe, Du habest vollkommen recht. Eigentlich habe ich nicht eine einzige Einwendung zu machen, denn der so spricht, ist ja der, den ich liebe, und ihn verstehe ich besser als sonst jemand auf der Welt. Ach, ich kann ihn in allem, was er sagt, so gut verstehen!

Ja, Paul, ich kann mit allem übereinstimmen, sowohl darin daß eine Verschiedenheit der Auffassung nichts mit unserer Liebe zu tun habe, als daß mein eigenes Christentum nicht als ein Hindernis gerechnet zu werden brauchte, nein, ich weiß selbst am besten, wie schwach und klein dies Christentum ist, gerade so, wie Du es beurteilst. Es kann keine Berge versetzen und auch nicht selbst ein Berg sein, es kann sich mit meiner Liebe zu Dir gar nicht messen – und wenn ich es habe größer erscheinen lassen wollen, weil ich meinte, es müßte es eigentlich sein, so ist es falsch und unwahr.

Ich habe im Augenblick kein anderes Gefühl, als daß ich Dich liebe; das ist alles, was ich glaube, weiß und fühle …

Jetzt spreche ich so ehrlich mit Dir, wie man eigentlich nicht einmal sollte. Du hast ja selbst damals in Skovholm gesagt, wenn man seine Gedanken ganz rückhaltlos ausspräche, so würde meistens ein unwahres Bild von einem herauskommen, denn unwillkürlich sei die Art, wie wir unseren Willen aussprächen, etwas Gemachtes, und nur unser Wille selbst sei unser eigentliches Wesen. Aber ich will es heute trotzdem versuchen, mich vollständig auszusprechen, dann weißt Du auch, wie aufrichtig ich bin, wenn ich jetzt noch hinzufüge, daß ich, so oft ich Dir innerlich recht gebe und nichts will, als zu Dir kommen, nur einen Namen leise auszusprechen brauche – und dann kann ich nicht –

Dies ist die Wahrheit, Paul. Nicht weil ich gläubig bin – ich bin viel eher nicht gläubig – nicht weil ich sagen kann, ich liebe diesen Namen über alles – ich liebe Dich, Paul, Dich – sondern weil ich, wenn ich ihn ausspreche, nicht anders kann. Und ich muß ihn immer aussprechen, wenn ich an Dich denke.

Aber so lange dies so ist, muß ich warten – und wenn Du das nicht willst –

Aber ich liebe Dich, Paul!

Deine Else.

 

29. September.

Liebe Else!

Wenn ich es als Nein auslege, daß Du nicht gleich Ja sagen kannst, – ja, ist es etwas anderes? Bedeutet der Aufschub, um den Du bittest, und der durchsichtig genug ist, etwas anderes, als daß Du Dich zu größerer Sicherheit Deiner Abweisung durcharbeiten wolltest? In der Umgebung und bei dem Einfluß, unter dem Du stehst, kann es nicht anders sein. Du denkst es auch selbst nicht – aber auf eine Abweisung will ich nicht lange warten.

Würde es sich um Dein Gefühl für mich handeln, über das Du Dir noch nicht ganz klar wärest, wäre meine Liebe so unerwartet auf Dich eingedrungen, und so heftig vielleicht, daß Du Dich erst sammeln müßtest, ehe Du Dich fürs Leben bändest, dann könnte ich mich darein finden. Ich würde selbst nicht wünschen, Dich durch Überrumpelung gewonnen zu haben, und ich würde ein so nüchternes, bewußtes und überzeugtes Ja wie nur möglich verlangen.

Aber das, worüber Du zur Klarheit gelangen möchtest, ist, ob Du mich bei dem christlichen Standpunkt, auf dem Du stehst, zu heiraten wagst oder nicht. Und schon jetzt bist Du auf dem Punkt angelangt, wo Du es nicht wagst. Damit ist ja faktisch die Entscheidung getroffen. Ob Du Dich durch die Macht der überlieferten Vorstellungen noch weiter befestigen kannst, geht mich nichts an, schon jetzt lässest Du mich wissen, daß deren Einfluß auf Dich größer ist, als der meinige. Das ist Nein für mich – bloß mit einigen Umschweifen, mit denen ich lieber verschont sein will.

Unter diesen Verhältnissen kann ich Deine Liebe, die Du mir trotzdem anbietest, nicht annehmen, und zwar ebenso sehr Deinet- als meinetwegen nicht. Ich habe zwar in meinem Leben von anderer Seite nicht so viel Liebe erfahren, daß ich sie aufgeben oder mir verbitten sollte … Aber diese Liebe zwischen uns hat jetzt keinen Zweck mehr, und damit steht sie sozusagen außerhalb der Wirklichkeit.

Ist es Deine Ansicht, daß sie zur Treue verpflichten soll? Mit anderen Worten, daß sie fürs Leben binden soll? Das hätte durchaus keinen Sinn – das wirst Du selbst einsehen, ehe viel Zeit darüber hingegangen ist, und das ist dann ganz richtig – denn das Leben muß gelebt werden, niemand hat das Recht, es in einem hoffnungslosen Verhältnis dahinwelken zu lassen.

Aber wenn unsere Liebe nicht zu einer absoluten Treue verpflichtet, dann existiert sie für mich nicht mehr. Jedenfalls hat sie ihren Charakter so sehr verändert, daß ich für mein Teil lieber die augenblickliche Entscheidung vorziehe. Ob wir aus dem Zusammenbruch der Liebe vielleicht noch ein paar Scherben wie Güte oder Freundschaft für einander retten können, das ist und bleibt mehr als gleichgültig.

Dich zu lieben und Dich besitzen zu wollen, ist für mich ein und dasselbe, und dieses tue ich jetzt so alles umfassend, so stark, so tief – als ich mir überhaupt etwas bewußt bin.

An dem Tag, wo dieses starke Wollen aus meinem Leben ausgeschieden ist – und so weit ich es vermag, werde ich es für meine Pflicht halten, daran zu arbeiten – an dem Tag liebe ich Dich auch nicht mehr, wenigstens nicht mehr in der Bedeutung, wie ich das Wort auffasse. Was ich dann für Dich fühle, kann ich jetzt noch nicht sagen – und es würde ja auch keinen Wert für Dich haben!

Ich bin Dein Paul.


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