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Als man noch ganz klein war, aber doch schon so groß, daß man Vater, Mutter und Mamam sagen konnte, faltete Mutter einem die winzigen Händchen und lehrte einen »Vater unser – Amen« sagen. Das war nicht so sehr verschieden von dem, was man vorher sagen konnte.
Jeden Morgen und Abend war es einem ein wahres Vergnügen, zu zeigen, daß man selbst die Händchen falten und die Worte, die man nicht verstand, hersagen konnte.
Allmählich konnte man an Mutters Gesicht sehen, daß man da eigentlich ernst sein müsse, und es auch unwillkürlich wurde; da hatte man dann gelernt, »der du bist im Himmel« vor das Amen hineinzuschieben; und bei diesem Punkt blieb man jahrelang stehen.
Dann fügte Mutter, während sie halb auf der Kante der kleinen eisernen Bettlade saß, eine Bitte nach der andern hinzu – gerade als ob sie Perlen auf eine Schnur reihte – bis man alle Bitten, die ganze Perlenschnur, der Reihe nach in seiner Hand hatte. Andere Gebete, Verschen von Engeln, Sternen und Blumengärten, lernte man nicht. Mutter sagte, sie seien zwar ganz schön, aber sie kämen doch erst aus zweiter Hand, und deshalb brauche man sie nicht.
Man verstand lange nicht alles, was man in dem Gebet sagte; aber Mutter war da, um es einem zu erklären.
»Mutter, warum soll ich immer ›wir‹ sagen?«
»Weil man sein Vaterunser nie allein betet. So oft mein Elsenkind es betet, ist es, als strecke es zuerst seine Händchen nach beiden Seiten aus, und gleich sind da andere Hände, die die ihrigen erfassen. Sie sind nicht immer weiß, es können gut schwarze Negerhände, oder gelbe Chinesenhände oder noch viele andere sein, denn das Vaterunser wird auf der ganzen Welt gebetet, und jemand betet es sicher immer mit. Dann fallen sich die Hände mit einander, und klein Else sagt ›wir‹ mit dem Negerkind, das sie nie gesehen hat, oder mit dem Chinesenkind, das sie nicht kennt. Und wenn man einmal allein ist –«
»In einem schwarzen Wald?«
»In einem schwarzen Wald, oder verlassen in einer Dachkammer sitzt – sobald man ›Vaterunser‹ sagt, hat man jemand bei sich, jemand, mit dem man Hand in Hand dasteht und sich einer langen, langen Kette um die ganze Wett herum anschließt.«
»Mutter, was heißt ›geheiligt werde‹?«
»Dasselbe, als wenn man sagte ›geliebt werde‹. Wir bitten, daß wir seinen Namen lieben lernen, denn was wir am meisten lieben, das halten wir auch am heiligsten.«
»Mutter, wie kann ein Reich ›kommen‹?«
»Wie kann ein Tag kommen? Denke daran, wie sehr du deinen Geburtstag herbeiwünschest, je eher, desto lieber. So kommt das Reich Gottes. Denn es ist nicht ein Stück Land, es ist ein Tag voll Sonnenschein.«
»Jetzt weiß ich etwas! Mutter, weißt du, warum ich jetzt in der Nacht Brot bekommen soll?«
»Weil noch vieles andere in dieser Bitte enthalten ist, was wir auch bei Nacht brauchen.«
»Ja wohl, aber essen tu ich doch nicht. Nein, sondern weil so viele zugleich das Vaterunser beten. Und manche davon wohnen aus der andern Seite der Erde. Bei denen ist es jetzt Tag, und sie sollen doch nicht Hunger leiden, weil wir jetzt schlafen wollen. Am Morgen haben sie Abend, aber da beten sie dann um Brot für uns.«
Mutter sagte, es sei dumm, daß sie daran noch nie gedacht habe, aber von jetzt an werde sie jeden Abend daran denken, daß die Chinesenkinder oder irgend welche andere jetzt gerade Brot brauchten.
Lange verstand man unter Gebet nur das Vaterunser. Aber allmählich mußte man außerdem noch ein wenig beten, denn es gab doch vieles, was man nicht zum täglichen Brot rechnen konnte, wie zum Beispiel das gelbe Miesekätzchen, von dem man so brennend wünschte, daß es ein Löwe wäre, der Huldfriedes Jungfernzwinger auf dem Hügel bewachte.
Da fragte man eines Tages: »Darf man nicht auch um etwas beten, das man ganz für sich behält?«
»Das versteht sich von selbst. Jeder Mensch hat ja seine eigenen Wünsche, seine eigene Sehnsucht und seine eigene Angst – so darf man auch sein eigenes Gebet haben, das man ganz für sich allein behält.«
»Dann weiß ich gut, um was ich beten will. Soll ich es sagen?«
»Nein, lieber nicht. Aber wenn Mutter das Vaterunser gehört hat, kannst du dein eigenes Gebet ganz leise hinzufügen, und ganz so, wie du selbst es sagen willst, und das soll niemand auf der Welt hören.«
»Warum nicht?«
»Weil es ein Geheimnis ist. Und von einem Geheimnis darf man, außer mit dem, der es mit einem teilt, zu niemand sprechen. Wir beide haben ja viele Geheimnisse mit einander, über die wir nicht mit Dorthe oder vielleicht auch nicht einmal mit Vater sprechen würden.«
Ja, das war ganz gewiß. Und viele Geheimnisse hatte man ja auch mit Huldfriede, und viele nur ganz allein, über Hochzeit und vieles andere. Diese würde man vielleicht nicht einmal Mutter sagen.
»Aber das allergrößte Geheimnis, das man hat, ist das eigene Gebet, denn das ist das Geheimnis, das man mit dem lieben Gott hat. Deshalb will ich es auch lieber nicht hören.«
Von dieser Zeit an pflegte man jeden Morgen und jeden Abend nach seinem Vaterunser sein eigenes Gebet zu sprechen, ganz leise und ganz wie man es selbst ausdrücken konnte, das heißt, wenn man gerade etwas wußte; aber morgens wußte man nicht immer etwas, besonders im Sommer nicht, denn da hatte man es immer so eilig, ins Freie zu kommen.
Es war übrigens immer ganz herrlich droben in dem kleinen Schlafstübchen, besonders am Abend.
Weiße Vorhänge waren an den Fenstern, mit Spitzen, die Mutter selbst gehäkelt, und eine weiße Bettdecke war da, die Mutter selbst genäht hatte, und ein weißer Umhang um den kleinen Spiegel, und die Tür zu Vaters und Mutters Schlafzimmer war die ganze Nacht hindurch angelehnt.
Wenn Mutter Zeit hatte, ging sie abends mit hinauf, selbst noch, als man schon alles ganz gut allein konnte: seine Kleider auf dem Stuhl hübsch zusammenlegen, das Haar auskämmen und sich waschen. Es gab immer so viel zu besprechen, während man sich auskleidete, und Mutter saß auf dem Fenstersims und sah nach, ob die Sterne herausguckten wie Spitzen von kleinen Diamantnadeln, die sich durch den klaren blaßblauen Himmel hindurchbohrten.
Dann sagte Mutter, jetzt solle man ein wenig an alle die denken, denen es schlecht gehe – nein, man konnte mit den andern Menschen nie fertig werden, so lange Mutter da war – um für sie etwas zu erbitten, was man sich selbst ausdenke. Und so oft es in dunklen Winternächten stürmte, sollte man an die armen Seeleute denken, die mit erstarrten Fingern mit dem Tauwerk zu tun hätten und von den tobenden Wellen verschlungen werden könnten, während man selbst in seinem warmen Bett liege.
Ja, das war nicht mehr als billig, obgleich es nächstens zu viele waren, an die man denken sollte. Eines Abends entfuhr einem auch der Ausruf: »Ich glaube, ich will für die ganze Welt beten, dann habe ich sie doch alle auf einmal bei einander.«
Und Mutter lachte und sagte, man sei eine kluge Else, die sie küssen müsse.
Während man sich auskleidete, plauderte man immerfort mit Mutter, und Mutter lachte drüben auf dem Fensterbrett, wenn man mit einer kleinen, altklugen Lebensweisheit hervorkam. Dann lag man in seinem Bettchen, und Mutter band die hellblaue, wattierte Decke auf beiden Seiten an den Gitterstäben fest, denn tagsüber war man wohl ein stilles, ruhiges Mäuschen, nachts aber strampelte man gar zu gern seine Decke weg.
Dann saß Mutter halb auf der Bettkante, und man betete sein Vaterunser laut und Hand in Hand mit vielen auf der ganzen weiten Welt.
Dann lag man ganz still und schloß seine Augen. Denn jetzt betete Else ihr eigenes Gebet, das niemand auf der Welt hören durfte.
Und von ihm glitt man hinüber in den Schlaf. Aber wie man eigentlich einschlief, das brachte man nie heraus. Man nahm sich jeden Morgen vor, aufzupassen, wie es zugehe, aber den Schlaf konnte man nie fassen, wenn er leise herbeigeschlichen kam.
Manchesmal lag man auch noch eine Weile wachend und konnte hören, wie draußen alles still wurde, wie ein Hund in der Ferne bellte und dann verstummte – wie die ganze Welt zur Ruhe ging.
Dann glitt manchmal ein Sausen zum Fenster herein, das war der Nachtwind. Der war viel, viel ernster als der Wind bei Tag, der so lustig daherpolterte, die Blumen und die Baumkronen herumschwang und sich bei Sonnenuntergang zu legen pflegte. Der Nachtwind erhob sich erst ganz leise, wenn alles andere zur Ruhe gegangen war und nichts mehr da war, womit er hätte spielen können. Er trieb sich sonderbar ruhelos und klagend drunten im Garten umher. Besonders am Haselnußgang glitt er hin und her und strich behutsam über alle Blätter hin.
»Hörst du, wie es am Haselnußgang saust?« fragte Mutter. »Das ist sein Gutenachtgruß.«
Ja, wenn der Nachtwind sich erhoben hatte, dann wußte man, daß es Nacht war.
Dann fragte man: »Glaubst du, daß sich der ewige Jude jetzt bald auf den Weg macht?«
Von dem ewigen Juden hatte man in verschiedenen Gedichten und in einer Erzählung gelesen oder gehört, daß er in tiefer Nacht unter den hellen Sternen dahinschreite, und in seiner Einbildung war er einem zu einer Art Mensch geworden, dem man nie bei Tag begegnen konnte, der aber in jeder Nacht mit einsamen Schritten, ruhelos wie der sausende Nachtwind, auf allen den weißen Landstraßen dahinzog. Und die einsamen Schritte ließen die Nacht und die Ruhe ringsumher noch tiefer erscheinen.
Mutter antwortete, daß er jetzt allerdings unter all den Sternen mit seinem Wanderstab dahinschreite … und man könne ja wohl auch für den armen heimatlosen Wanderer beten, daß er einmal Ruhe finden möge.
Nicht selten wurden im Pfarrhaus Bibelstunden gehalten – im Sommer aber meistens im Garten. Das war dann weniger nett, denn gewöhnlich wurde viel niedergetreten – wenn auch die Frauen zu den Kindern sagten, sie dürfen nicht »trampeln« – und man liebte doch jedes Grashälmchen da draußen.
Im Winter wurden sie im Konfirmandensaal gehalten, und als man größer wurde, durfte man auch dabei sein.
Bisweilen sprach Vater, das kannte man ja schon von der Kirche her, aber manchmal waren es auch Männer, die hergereist kamen.
Die beteten dann zum Anfang und zum Schluß, und sie machten immer sehr lange fort. Sie erzählten dem lieben Gott, was er selbst gesagt habe, und was er nicht gesagt habe, was sie ihm bei einem andernmal gesagt hätten, und was sie ihm jetzt sagen wollten.
Und beim Abendessen sprachen sie oft noch weiter von diesen Dingen.
Dies war besonders der Fall, als einmal ein Mann kam, der vom Gebet gesprochen hatte, vom gemeinsamen Gebet und vom Gebet des einzelnen. Es war ihm vielleicht ein Bedürfnis zu zeigen, wie viel er von dem, worüber er gesprochen hatte, wisse; denn er redete immer weiter von allem, was er zum lieben Gott sage, wie er es zu sagen pflege, wie er es bei einer bestimmten Gelegenheit gesagt habe, wie er für diesen oder jenen Menschen bete, was er heute »im stillen« gesagt habe, als er hierher, gereist sei u. s. w.
Man hatte ihm mit großen, starren Augen zugehört, und plötzlich sagte man ganz laut über seine Teetasse weg: »Aber Mutter – dieser Mann hat ja nicht das allerkleinste Geheimnis mit dem lieben Gott.«
Vater sah streng aus, Mutter bot plötzlich sehr freundlich das Weißbrot herum, und der Mann selbst, der es gar nicht verstanden hatte, fragte, was »das kleine Wesen« gesagt habe.
Nachher sagte Mutter, daß Else weder bei Tisch laut sprechen dürfe – das sehe ihr ja gar nicht ähnlich – noch von Dingen reden, die sie nicht verstehe. Es gebe viele Gebete, von denen man wohl sprechen dürfe, man müsse das sogar, wenn man miteinander beten wolle, und das sei etwas Gutes.
»Aber Mutter, er sprach ja von seinem eigenen besonderen Gebet und von allem, was er dem lieben Gott sage.«
»Du kannst dich aber darauf verlassen, daß er außerdem auch noch das Gebet hat, von dem man nicht spricht.«
Ob er es hatte? Der Mann sah gar nicht darnach aus, als habe er mit irgend jemand ein Geheimnis. Ja, man hätte eher glauben können, er wisse gar nicht einmal, daß man eines, und zwar das allergrößte, in seinem Gebet haben sollte.
Und wie viel man auch später in Beziehung auf das Gebet noch lernte, die Ansicht änderte man nie, daß das Gebet zuerst und zuletzt doch das eigene tiefe Geheimnis sei, das man mit dem lieben Gott habe.