Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Else geht im Haselnußgang auf und ab. Der Herbsttag geht zu Ende. Eine Haselnuß fällt aus ihrer Hülle und rollt Else vor die Füße. Sie hebt sie auf. Sie ist reif. Jawohl, die Haselnüsse sind mehr als reif; man vergißt auch alles.
Voriges Jahr hatte Julius daran gedacht. Ja, sie müssen gepflückt werden.
Jaso, Julius Brief muß sie fertig lesen, ehe sie nach Skovholm geht. Sie hat schon ihre schwarzseidene Bluse an und wartet nur auf Vater, um mit ihm zusammen zu gehen.
Sie setzt sich auf den Hügel und zieht den Brief heraus. Wo hatte sie aufgehört? »... Was die Aussichten anbelangt, so sehe ich mehr und mehr ein, daß auf einen theologischen Kandidaten, der erst vor einem Jahr das Examen gemacht hat, im Kultministerium nicht stark reflektiert wird. Um die Stellen in Westjütland reißt man sich am wenigsten, ich glaube deshalb, ich will dort anfangen. Der Beruf eines Pfarrers ist ja an und für sich ein sehr ernster Beruf, das haben wir beide – du und ich – eigentlich schon mit einander erfahren.«
Sie läßt den Brief in ihren Schoß sinken und denkt über das Gelesene nach, sieht aber dabei aus, als ob sie, wie Mutter zu sagen pflegte, »in die nächste Woche gucke«. Die Nordsee oder die Heide … Julius will sie darauf vorbereiten, daß das seine Aussichten seien – mit ihr zusammen. Ja wohl, das ist Begräbnis, aber der Gedanke daran ist es doch nicht, der sie am meisten erschreckt.
Sie geht aufs Haus zu, um zu sehen, ob Vater fertig sei. Er steht vor der Tür. »Vergiß deinen Mantel nicht,« sagt er, »du sollst ja mit Oberförsters zurückfahren.«
Vater ist auch eingeladen, aber er hat gedankt – denn es ist Sonnabend. Schweigend wandern die beiden nach Skovholm durch den klaren abendlichen Herbsttag.
Else ist der erste Gast. Der Jägermeister empfängt sie mit seiner gewohnten etwas schwiegerväterlichen Art. »Na, mein Mädchen, hast du von Julius gehört, hast du von Julius gehört? Na ja, natürlich.« Er pflegt zweimal dasselbe zu fragen und sich dann selbst die Antwort darauf zu geben.
»Unser kleiner Verzug!« – Fritz legt den Arm um sie und führt sie in die andere Stube hinein; er müsse etwas mit ihr reden, sagt er. »Ich komme eben von Kopenhagen und soll dich vom ›Seminaristen‹ grüßen – nun, du hast ja selbst einen Brief bekommen. Er hat mörderlich Heimweh nach dir.«
»Ach, glaubst du das wirklich?«
»Na, sonst wäre er ja ein noch größerer Esel, als ich gedacht habe. Aber jetzt höre, wie fatal!«
Fritz erzählt, er sei so idiotisch gewesen und habe im Hotel drinnen einigen Freunden ein kleines Fest gegeben. Sie hätten noch beim Glase gesessen, vielleicht etwas nach Tagesanbruch – die Nacht gehe ja so schnell vorüber – und zum Schluß seien vielleicht auch ein paar Gläser entzwei gegangen. Er könne sich nicht so genau erinnern, er wisse nur, daß alles ganz harmlos gewesen sei. Aber am nächsten Tag, da sei der Teufel los gewesen. Der Onkel Rektor habe nämlich die sehr unglückliche Idee gehabt, in demselben Hotel zu übernachten, und habe einen Riesenschrecken bekommen – »und das nur, weil man ein paar gottsträflich langweilige Menschen zusammengetrommelt hat. Es hätte ja sehr leicht viel schlimmer sein können,« versichert Fritz, »sodaß man beinahe sagen kann: man müsse für seine Tugenden büßen. Und nun denke dir, Mathilde und ich hatten ausgemacht, daß ich auf dem Heimweg von Kopenhagen her aussteigen sollte, um bei den Eltern um sie anzuhalten. Nun, das mußte ich nun vorläufig aufgeben; meine Aktien stehen schlecht, das heißt, nicht bei Mathilde, sie ist ja verständig, aber bei den Alten. Und nun hab ich gedacht, du könntest mir vielleicht ein wenig aus der Klemme helfen, wenn du einen vernünftigen Brief an Mathilde schriebest, den sie zeigen kann, und in dem du so en passant die ganze Geschichte erklärtest.«
Else schüttelt den Kopf – sie fühlt, daß sie dazu nicht gewandt genug ist – und sagt: »Wenn ich es nur kann, Fritz.«
»Ich könnte ja auch Paul damit beauftragen,« sagt Fritz überlegend, »aber auf diese Freidenker ist kein rechter Verlaß. Sie meinen bisweilen, sie müßten sich mit ganz besonders moralischen Empfindungen dicke tun, die wir andern recht überflüssig bei ihnen finden – und man kann nicht wissen, ob der gute Kirchenstürmer nicht so ist. Jetzt machen sie auch ein Geschrei wegen der paar Schulden – aber daß man seine Schneider- und Schuhmacherrechnungen nicht bezahlt, das ist man sich doch wirklich selbst schuldig.«
Fritz redet weiter, aber die Worte gehen an ihr vorüber. In der Tür, ihr gerade gegenüber, steht Paul.
Sie fühlt, daß ihr brennende Röte in die Wangen steigt, ja bis in die Schläfen hinauf; so ist es immer, wenn sie mit jemand zusammentrifft, den sie nicht gesehen hat, seit –
»Na, da ist er ja,« sagt Fritz, »ich habe ihn vor zwei Tagen mitgebracht.«
»Guten Abend, Jungfrau Else.« Paul reicht ihr die Hand. Fritz muß zu den andern Gästen hinein; Barons von Egevang, Oberförsters und andere sind gekommen.
»Ich hätte dir natürlich damals gerne geschrieben,« sagt Paul, »und tat es auch wirklich. Aber dann zerriß ich die Briefe wieder. Den Trost, aus dem du dir etwas gemacht hättest, konnte ich dir ja nicht geben. Schließlich schrieb ich nur so etwas von: die du verloren hast, habe ich nie gekannt, oder, was du jetzt vermissest, an das kann ich mich nicht einmal erinnern, aber dann klang es so affektiert, oder wie wenn ich nur an mich selbst dächte.«
»Nein,« erwidert sie leise, »ich hätte es gut verstanden.«
Er sieht sie an. Nicht wie damals während des Tanzes, verständnisinnig oder beschützend, sein Blick geht durch ihre gesenkten Augenlider hindurch und tut ihr weh.
Sie weiß sogleich, daß Paul es auch von ihr gehört hat, daß er es bekräftigt findet, weil er sie hier trifft, und auch durch die Art und Weise, wie man hier mit ihr spricht. Ach, könnte sie ihm nur gerade heraus sagen, daß sie weder halb noch ganz mit Julius verlobt sei – aber es ist nicht so leicht, das einfließen zu lassen.
Fritz kehrt zurück, um Paul zu bitten, die junge Frau Oberförster zu Tisch zu führen, und er selbst bietet Else den Arm. »Das hab ich wenigstens durchgesetzt,« sagt er, »denn wir müssen noch weiter über die Sache sprechen.«
Else späht unwillkürlich umher, wo Paul sitzen wird, und es ist ihr eine Erleichterung, als sie seine Tischkarte neben ihrem Platz entdeckt. Er spricht freilich nur mit seiner Tischdame – von Nürnberg und Rothenburg, wo er gewesen ist, dann von den Rebhühnern, die er und Fritz geschossen haben, und Else leidet lieber Durst, als daß sie ihn um ein wenig Wasser in ihren Rotwein gebeten hätte.
Fritz hält sie warm mit »dem erbärmlich langweiligen Gelage«, für das man nun entgelten müsse; und Else fragt ihn, ob er denn nicht lieber ein für allemale dergleichen aufgeben wolle, wenn es doch nur so langweilig sei.
»Auf dein Wohl, Else,« sagt er, »du sprichst wie ein kleiner Pfarrer. Und ich hoffe auch, daß du eine Frau Pfarrerin wirst.«
Sie hält ihr Glas noch in der Hand und ärgert sich über sein letztes Wort. Paul hat es natürlich auch gehört.
»Darf ich auch mit anstoßen?« Er erhebt sein Glas.
»Auf was?« fragt sie, indem sie das ihrige niedersetzt.
»Ich glaubte, Fritz habe auf dich als künftige Pfarrfrau angestoßen, und ich kann mir denken, daß dir dies als das Höchste vorschwebt.«
»Ja,« erwidert sie treuherzig. »Denn ich weiß ja, wie Mutter war.«
Jetzt könnte sie auch noch mehr sagen. Sie fühlt die forschende Frage in seinen Augen, – aber jetzt will sie nicht – er soll es nur selbst herausfinden. Als er fortgesetzt ihr zugewandt sitzen bleibt, fragt sie leise: »Wie ist es dir seither ergangen, Paul?«
»Ich habe Heimweh gehabt.« Und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: »Ich war ja im Ausland. Aber wie geht es der Wiese – und dem Haselnußgang?«
»Wir kommen morgen zu dir, Else,« sagt Fritz, »auf die Haselnußjagd. Wir dürfen ja am Sonntag nicht auf die richtige Jagd, da müssen wir uns doch wo anders schadlos halten.«
»Ja, jetzt sind sie reif,« sagt sie zögernd.
»Sollen wir nicht lieber wegbleiben?« fragt Paul halblaut. »Es sieht fast aus, als wäre es dir unangenehm.«
»Nein, nein. Ihr müßt gewiß kommen. Es war dumm …«
Später wird musiziert; die Frau Oberförster singt hübsch, aber Else hat Angst, sie müsse weinen, denn es sind von Mutters Liedern darunter, und deshalb schleicht sie sich ins nächste Zimmer hinein. Sie setzt sich an ein Fenster – der Mond scheint hell und klar. Beim Mondschein muß sie immer an die Toten und an das Grab daheim denken, das den Kirchhof so groß gemacht hat, o so groß …
»Du hast dir eine schöne Beleuchtung ausgewählt.« Paul steht vor ihr. »Darf ich mich zu dir setzen? Dieses ewige Musizieren macht mich ganz nervös – fast wie wenn eine Katze im Zimmer wäre – obgleich ich sonst Musik sehr liebe.«
Wie unbehilflich er ist, wenn er freundlich sein will. Ach, die Erziehung ohne eine Mutter – wie sehr merkt man sie ihm an!
Er sieht sie an. »Die Reihe kleiner Perlen – wo ist sie geblieben?«
»Ich trage sie jetzt nicht. Manchmal ist mir's, als könnte ich sie nie wieder tragen.«
»Dann geht es ja wie in dem Vers von Tennyson – wie heißt er doch?«
»Nie wieder, ach, die weißen Perlenschwestern
Am Seidenfaden rollten leis zusammen,
Um sich zu küssen an dem weichen, schlanken Hals.«
Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, mit schweren Tränen, sie fühlt, sie kann sie nicht zurückhalten. Ihr ist so weh ums Herz, sie kann sich selbst nicht erklären, warum.
»Aber das darf ja gar nicht sein,« fährt Paul fort, »wenn die ganze Welt darin enthalten sein soll, darf man sie nicht in einer Schublade einsperren.«
Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr zurückhatten.
»Aber, liebe Else.«
Sie sitzt unbeweglich und fühlt, wie ihr die Tränen die Wangen hinabrollen.
» Liebste Else –«
Ach, wie ein einziges Wort klingen kann, und wie viel darin enthalten sein kann! In diesem einen Wort hört sie die viele Jahre lang eingesperrt gewesene hilflose Sehnsucht, jemand ein wenig Zärtlichkeit beweisen zu dürfen, jemand nur hie und da die Namen geben zu dürfen, die entbehren zu müssen, innerlich arm macht, noch viel ärmer aber, sie niemand geben zu dürfen, und er tut ihr leid, aus tiefstem Herzen leid. Aber sie kann es ihm nicht sagen.
»Es war ganz richtig, jenes Wort über die Perlen,« sagt er kurz nachher, »aber an jenem Abend wußte ich es noch nicht. Es wurde mir erst viel später klar, als ich hörte, daß …«
»Ja,« sagt sie schnell, »ja.« Sie will damit sagen, sie verstehe, was er gehört habe, und denkt nicht darüber nach, ob noch ein anderer Sinn in ihrer Antwort liegen könne.
Fräulein Mörk tritt ein, um Else zu holen. Oberförsters wollen aufbrechen. »Ist es schon so spät?« Sie steht auf, aber Fritz erklärt, er und der Kirchenstürmer werden das Pfarrersrind nach Haus geleiten.
Sie wandeln in dem hellen Mondschein dahin, ohne zu sprechen. Fritz singt Reminiszensen aus den Liedern der Oberförsterin:
»Lieber kleiner Rosmarein,
Süße kleine Liebste mein!«
bis Paul ihn gereizt bittet, einen anderen Vers zu wählen, dieser sei bald nicht mehr auszuhalten. »Bleibst du heute zu Hause, Vater?« fragt Else am nächsten Tag nach der Kirche.
»Nein, ich habe Krankenbesuche zu machen. Warum?«
»Fritz meinte, er – sie – wollten hierherkommen und Haselnüsse pflücken. Das dürfen sie doch?«
»Meinethalb gerne. Wer sind sie?«
»Ich weiß nicht recht – er sagte wir. Frau Brun, die Schwester des Jägermeisters, ist da – und Paul –«
»So – o!«
– Sie hat frische Blumen in die Vasen gestellt, große Farnkräuter in die Ecke hinter dem Sofa und geht wieder und wieder durch die Zimmer, um zu sehen, ob auch alles in Ordnung sei. Um zwei Uhr hört sie Stimmen im Flur. Fritz hat Doktor Bergs Dagny, der er auf ihrem Rad begegnet war, veranlaßt, umzudrehen und mitzukommen.
Else gießt Tee ein. Fritz lacht mit Dagny, die eine ganz unterhaltende Mischung, schneidig und konfirmandlich zugleich ist. Paul sieht sich im Zimmer um; Else bietet sich an, ihm auch die andern Zimmer zu zeigen.
»Ich mag diese Zimmer,« sagt er. »Sie erzählen so viel, und die Anordnung beweist Schönheitssinn.«
»Das ist alles Mutters Werk.«
Fritz ergreift die Gelegenheit zu einer seiner lauten Lobreden.
»Ja, so war sie!«
Else erzählt von einer alten Jungfer, die gestern, als sie ihr eine süße Suppe brachte, einen so schönen Ausdruck gebraucht habe. »Sie werden gerade wie Ihre Mutter, Fräuleinchen – so erquickend.«
Paul steht Else an. Das Blut steigt ihr in die Wangen, denn es ist ihr auf einmal, als habe sie dies erzählt, damit er das von ihr und nicht das von Mutter hören solle.
Kurz nachher ist die kleine Gesellschaft drunten im Haselnußgang. Else fühlt sich erleichtert, als Fritz entdeckt, daß die meisten Nüsse auf der äußeren Seite der Hecke ganz an den obersten Zweigen sitzen. Er und Dagny pflücken eifrig auf dieser Seite unter steter Gefahr, in den Graben hinunterzurutschen, und unter beständigen kleinen Aufschreien von Dagny.
Else führt Paul durch den Gang und zeigt ihm den Hügel und die Wiese. »Aber sie sind gar nicht mehr wie früher,« sagt sie.
Fritz ruft zu ihnen herein. »Werdet ihr wohl bald anfangen? Wir wollen sehen, wer seinen Korb zuerst voll hat! Kleine Dagny, ach, entschuldigen Sie, Fräulein Berg, auf diesem Zweig hier sitzt eine ganze Menge!«
Dagnys frische Stimme klingt herein. »Ja, meinen Sie etwa, ich sei blind?« und dann Fritz' Antwort: »Nein, mit solchen Augen ist man nicht blind, aber wir andern könnten es leicht werden.«
Else fängt an zu pflücken und laut zu sprechen, damit Paul nicht zu viel von Fritzens Unterhaltung höre. Sie haben auch bald eine Menge Haselnüsse in ihrem Körbchen. »O, hier sind so viele große ›Klubberten!‹« ruft sie eifrig und erregt.
»So viele, was?«
Sie kommt in Verlegenheit, lacht und schüttelt den Kopf. »Ach, so nannten wir sie als Kinder, wenn mehrere Nüsse bei einander saßen. Es ist gewiß ein Wort, das Fritz erfunden hat, – es ist dumm – jetzt will ich es auch nicht mehr sagen – o da ist ein Neun-Klubbert!«
Sie reckt sich rasch in die Höhe und schließt die Hand um den seltenen Fund – hält plötzlich inne, als sie ihn lachen hört, wird rot und weiß weder aus noch ein.
Da legt sich seine Hand fest um die ihre, und zieht sie langsam herab. Jetzt öffnet sich die seinige; ihre zarten Finger öffnen sich gleichzeitig und strecken sich weich und bebend in seiner Hand aus.
Dann nimmt er mit seiner andern Hand den großen Büschel Nüsse von ihrer Handfläche und birgt ihn rasch an seiner Brust.
Und sie weiß, während er dies tut, geschieht noch etwas ganz anderes. Sie weiß, so wie ihre Hand sich in der seinigen geöffnet hat, willenlos und doch mit vollem Willen, so öffnet sich etwas Tieferes in ihr selbst, und er nimmt etwas viel Größeres – mit dem sicheren Gefühl, daß sie damit einverstanden sei.
O ja, ihr ist es, als habe sie es herbeigeführt, es gewollt, so sehr ist sie mit dem, was er tut, einverstanden. Das weiß er, das fühlt er – und er neigt sein Gesicht auf die offene, opferfreudige Handfläche und drückt seine Lippen warm und innig darauf.
Dann schließen sich ihre Finger wieder – sie haben jetzt einen Schatz zu bergen.
»Else, Else – –«
Sie schließt die Augen und bleibt unbeweglich stehen. Ihre Hand ruht noch in seiner, und es ist, als stütze sie sein Arm. Ach, wie gut ist er, daß er bei ihr stehen bleibt, lautlos und unbeweglich, und weiß, daß es in ihr und um sie her hervorsprießt, daß die ganze Hochzeitswelt wieder ersteht – daß diese Freude groß, übermenschlich groß ist, so daß sie förmlich weh tut und in tiefer atemloser Stille hingenommen werden muß …
Ach, wie gut ist er, daß er stehen bleibt, nur darauf bedacht, daß die Stille dieses Augenblicks nicht gestört werde, so aus tiefster Seele verständnisvoll, sich in ihr innerstes Empfinden hineinfühlend?
»Seid ihr auch bald fertig?« erklingt plötzlich Fritz Stimme von außen. – Else weiß nicht, wie lange sie und Paul so gestanden haben. »Unser Korb ist beinahe voll – nein, mein Fräulein, er ist zu schwer für Ihre süßen Händchen, jetzt gehen wir alle hinein und holen die Nußknacker und Birnen bei Tante Dorthe.«
Sie fühlt, daß Paul sie losläßt, sanft und hastig, und sie hört seine Stimme den Vorschlag annehmen. Sie geht nach dem Hause, ihr ist, als trete sie aus Wolken, und in ihren Ohren braust es wie gewaltige Wogen. – – Man hat im Pfarrhaus Tee getrunken und das Abendlied gesungen. Dorthe ist sehr heiser, und Marie darf ja nicht vergessen, morgen früh Haferschleim für sie zu kochen, denn Dorthe tut ja nie etwas für sich selbst. Es ist gegen zehn Uhr. Vater sagt, er habe ungefähr noch eine Stunde zu schreiben. Else ist es, als sei alles weit, weit weg. Mit geschlossenen Augen und Ohren bewegt sie sich zwischen den andern, sie ist gar nicht dabei.
Draußen im Haselnußgang ist sie geblieben – nie, nie wieder kommt sie von da heraus.
»Gehst du zu Bett, Else?« fragt Vater unter der Tür seines Zimmers.
»Ja, nachher.« Sie sehnt sich nach der einsamen Stille droben, um sich dort ungestört niederlegen und sich ihrem Erlebnis hingeben zu können.
»Gute Nacht, mein Kind. Vergiß nicht, die Gartenpforte zu schließen, ehe du hinaufgehst.«
Sie ordnet noch einiges im Zimmer, deckt zu, wie Mutter es zu tun pflegte, räumt auf, und bleibt schließlich vor Mutters Schreibtisch stehen. In eine der Schubladen hat sie das kleine Etui gelegt, das, wie sie meinte, nie wieder das Licht des Tages sehen würde. Jetzt nimmt sie es heraus. Die weißen runden Perlen mit dem regenbogenfarbigen Schimmer – das Erbstück der Urgroßmutter, das Mutter ihrem Elsenkind zum Konfirmationstag um den Hals gelegt und dabei gesagt hatte, sie habe sie im See aufgefischt, die Perlen, die die ganze Welt enthielten.
Sie legt die Perlenkette um und tritt vor den Spiegel. Sie passen gut zu ihrem schwarzen Kleid.
»Die ganze Welt,« sagt sie und muß dann über sich selbst lächeln.
Dann geht sie, um die Türe nach dem Garten zu schließen. Ach, welch schöner Mondschein! Wie hell und klar! Sie muß ein wenig hinaus, nur einen Augenblick – in den Haselnußgang! Ja, sie muß ein Stelldichein mit sich selbst halten – in der Welt draußen, die neu erstanden ist.
Im Haselnußgang herrscht tiefe ruhige Dunkelheit, nur der Mond wirft bläulichweiße Streiflichter herein. Kein Hauch geht durch das Laub, kein Blatt bewegt sich. Sie kann gewiß die Stelle wiederfinden – hier muß es gewesen sein – sie hält inne und schließt die Augen.
Ja, ja, das war das Geheimnis, das der Haselnußgang barg, das Geheimnis, das er all die Jahre her für sie aufgehoben hatte! Deshalb hat sie ihn so gern gehabt, so ganz unbegreiflich gern, schon als sie noch ganz klein war. Deshalb hat sie hier immer mit solcher Spannung und Erwartung geweilt. Deshalb, deshalb – denn mehr kann nicht geschehen – zwischen zwei Menschen.
Sie geht auf den Hügel. Die Hochzeitswiese liegt vor ihr, von blendendem Licht übergossen, weiß und verschleiert wie eine Braut, mit Margueriten übersät. Sie weiß, diese blühen im September immer noch einmal; aber können es so viele sein? Oder sind es Tau und Sommerfäden und Mondschein, die die Wiese so weiß machen, so weiß!
Eine wahre Abenteuerlust erfaßt sie. Sie will hinuntergehen – direkt vom Hügel aus. Es ist allerdings ein wenig steil, aber sie hat es schon öfters getan, deshalb kann sie es schon wagen; sie kann ja die Füße in die Ritzen des Steinmäuerchens setzen und dann vollends hinunterspringen.
Schutt und kleine Steine prasseln um sie her. Sie sieht hinunter – jetzt kann sie den Sprung wagen.
Ein Schatten fällt über die Wiese hin. Da steht einer – und breitet die Arme nach ihr aus.
»Jungfrau Else –«
Sie springt ihm entgegen. Seine Arme umschließen sie. Sie wird fest an sein Herz gedrückt – ihre Arme legen sich um seinen Nacken, und sie birgt das Gesicht an seinem Hals.
Er küßt, küßt glühende Worte in ihr kleines Ohr hinein – er liebe, liebe, liebe sie! Namen, jubelnde, zärtliche Namen flüstert er, daß sie gar nicht weiß, wo sie sie alle hintun soll. Er küßt ihre weiche Wange mit der kindlichen Rundung … Sie weiß, sie weiß, wenn sie ihren Kopf nur ein klein wenig dreht – sie dreht ihn – und seine Lippen pressen sich fest auf die ihrigen.
Er will ihr ins Gesicht sehen – sie will es an ihm verbergen, es nur an ihm bergen. Noch nicht – ach, er darf noch nicht … Mit seinen beiden Händen hält er ihr Gesicht von sich ab, und sie schließt die Augen. Vom weißen Mondschein umflossen, kalt vom Tau und kindlich zart –
»Hieß es nicht erquickend?« sagt er. »Ja, ja, herzerquickend.« Und er drückt ihr Gesicht wieder an das seinige, als könne er es nicht dicht genug an sich drücken, und mit stürmisch klopfendem Herzen fühlt er den ängstlichen federleichten Druck ihrer Lippen auf seiner Wange.
Plötzlich schaut sie sich um. Die Blumen? Ja, da stehen zwei – große, weiße. Sie bückt sich und pflückt sie für ihn. »Jaso, das ist ja die Wiese, wo man Freuden pflückt,« sagt er.
»Ei freilich, kannst du nicht sehen, was es für eine Sonnenwiese ist, selbst bei Mondschein? Und es sind –«
Sie will sagen »Hochzeitsblumen«, stockt aber und sagt nichts. Er drückt ihre Hände mitsamt den Blumen an seine Brust, sie beugt ihr Gesicht darauf nieder: »Es sind Hochzeitsblumen.«
»Else, Else, sag, daß du mich liebst!«
Nein, das kann sie nicht sagen, und wenn es ihr Leben gälte. Sie drückt sich an ihn und schüttelt den Kopf.
»Ich muß auf den Hügel mit dir – nur einen Augenblick.«
Ja, ja, sie müssen hinauf, müssen mit einander hinaufklettern. Es geht leicht, wenn man einem hilft.
Sie lacht leise und glücklich, weil er wie ein Wikinger, der von einem feindlichen Schiff Besitz ergreifen will, hinaufstürmt.
Sie stehen auf dem Hügel. Ihre Arme legen sich wieder um seinen Hals – und er küßte alle beide, die sich so schmächtig und vertrauensvoll um ihn schlingen. Dann legt er seine Hand auf die Perlenreihe. »Die ganze Welt,« sagt er, »die ganze Welt.«
Da ist es ihr, als ob die ganze Welt, der Punkt draußen, wo Himmel und Erde ineinanderfließen, der Punkt, den man nie erreichen kann, jetzt zu ihr gekommen sei, daß er wirklich da sei.
Im Mondschein kann er gerade das kleine Grübchen in ihrer Wange unterscheiden, und er drückt seine Lippen darauf. Sie verbirgt wieder ihr Gesicht an ihm.
»Else, sieh mich an – Else, sag, daß du mich liebst!«
Nein, ach nein! Sie weiß, sie kann nicht. Keins von beiden. Und wenn er das weiß, wird er es auch nicht verlangen. Oder doch? Sie legt eine kleine bebende Hand auf seine Lippen –
Er führt sie behutsam zu der Bank unter den Kastanienbäumen und sinkt vor ihr nieder.
»Ich kann ja nicht gehen, ehe du es gesagt hast. Soll ich es wirklich nicht hören? Else, Else, sag es jetzt!«
Sie schlingt die Arme um seinen Kopf, um das große, bärtige, lockige Haupt. Wie sonderbar, daß sie es so nahe haben kann! Sie zieht ihn an sich, ganz dicht an die schwarzen Falten über ihrer jungen Brust.
Alles, wovon sie je geträumt und wonach sie sich gesehnt hat, seit ihr das Leben gegeben worden war, erfüllt sich jetzt. Und aus der Erfüllung wird eine neue Sehnsucht geboren – der bebende Traum von erwachendem Leben an ihrem Herzen, von kleinen warmen hilflosen Gliedern, die sich um ihre Brust schmiegen.
Aber in dieser Stunde, wo alles zu ihr kommt, wo sie alles erreicht, da muß es so sein, daß der Traum, der entsteht, auch sogleich erfüllt wird, denn ihr ist es, als halte sie es in ihren Armen, das wehrlose Leben, das sie beschützen soll … Sie liebt ihn ja nicht nur in diesem Augenblick als den Mann, als den einzigen auf der Welt, von dem sie je etwas wissen will – sie liebt ihn ja auch in umgekehrter Reihenfolge alle die Jahre hindurch, seit er erschaffen worden ist, bis zurück zu dem hilflosen Tag, wo er zur Welt kam und gleich die Mutter verlor. Sie liebt ihn mit der ganzen Zärtlichkeit, die ihm nie zu teil geworden ist, die er aber heiß und sehnsüchtig begehrt hat seine ganze Kindheit hindurch.
Und die Mutterliebe wallt in ihr auf wie eine Quelle.
»Ich liebe dich,« flüstert sie und neigt sich über das Antlitz an ihrer Brust. Mit geschlossenen Augen versteht er alles – fühlt, wie das langjährige Vermissen gestillt wird – und bedeckt mit ihrer Zärtlichkeit alle die einsamen unverstandenen Jahre seiner Kindheit.
– »Else!« – erklingt plötzlich Vaters Stimme. Der Ton dringt auf sie ein wie die Posaune des Gerichts, die sie ruft. Sie springen beide auf – Elses Arme legen sich noch einmal leicht um seinen Nacken – sie fühlt seine Lippen noch einmal auf ihrem taufeuchten Haar – – dann läuft sie durch den Haselnußgang, hastig, außer Atem.
Als sie den Mondschein vor dem Haus erreicht, sieht sie Vater an der Tür stehen; entsetzt, verwirrt hält sie an. Sie kann sich nicht in Vaters Hände ausliefern. Nein, sie sind zu sehr daran gewöhnt, Erde darauf zu werfen, noch kann sie es nicht.
Mit einem Ruck löst sie die Perlenschnur von ihrem Hals und birgt sie in ihrer einen Hand. »Sie würde mich verraten,« denkt sie. Dann tritt sie ruhig näher – es stärkt sie, daß sie etwas zu beschützen hat.
»Wo bleibst du denn so lang? Wo warst du?«
»Im Haselnußgang und ein wenig auf dem Hügel. Es war so herrlich im Mondschein. Durfte ich nicht?«
»Nein, es ist wirklich zu spät und viel zu kühl. Du hast ja gar nichts umgenommen, und hier steht die Gartentür weit offen. Komm jetzt herein!«
Vater verriegelt die Tür hinter ihr. »Geh nun spornstreichs zu Bett! Du bist ganz kalt im Gesicht« – er legt ihr die Hand auf die Wange – »ich gehe jetzt auch bald hinauf.«
»Gute Nacht, Vater!«