Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Dreizehntes Kapitel

So war es also der böse Trieb, der Schloimale vom richtigen Wege, von seinem Ziele abbrachte und ihn zum Schlechten zuredete – er sollte aus Freundschaft die Zeit mit nichts zubringen, mit Freunden und Freundinnen, und die guten Dinge und Näschereien aus dem Korbe begehren und essen. Zu allem noch schlug er ihm die Heimat aus dem Kopf, das Paradies seiner Kindheit, seine Mutter, die elende Witwe mit den armen kleinen Kindern. Das war wohl eine häßliche Sache.

So hätten ihm sicherlich vertraute, treue Angehörige gesagt und gepredigt. Vertraute – um Salz auf die Wunden schütten zu dürfen; treue – um zu sticheln und Moral zu predigen. Aber nicht immer treffen es die Moralprediger, nicht immer trifft es auch der böse Trieb. Manchmal täuschen sie sich und es kommt alles ganz anders, das Gegenteil dessen, was sie gemeint hatten.

Die Verführung Schloimales durch den bösen Trieb war ein Glück für ihn, wie es sich zeigte, sie erhielt ihn am Leben!

Schloimales Leben nach dem Tode des Vaters begann grau zu werden, so wie nach Sonnenuntergang der helle Tag erstirbt. Immer grauer und düsterer wird es bis zu der schwarzen, die Welt verschlingenden Finsternis. Vor ihm erstreckte sich eine große, trübselige Wüste mit allen ihren Schrecken – Leid und Qual und Schreck, Mangel an den notwendigsten Bedürfnissen, eingebildete Nebelbilder, falsche Hilfe, Öde, Fremdheit weit und breit. Sturm wütete und tobte und kein Weg war da. Die Not stieß Schloimale, er hatte keine Wahl, so wanderte und ging er. Seine Lage – verlassen, einsam, verschlagen, ohne Hilfe, ohne Trost, ohne ein gutes Wort; die Lage daheim bei Mutter und Kindern, seinen Brüdern und Schwestern; ihrer aller jetzige Lage im Vergleich zum Einst – das alles raubte ihm die letzte Kraft, er wollte vergehen. Wäre nicht der böse Trieb als Erlöser dazwischen gekommen, um ihn mit seinen scharfen Reizmitteln zu ermuntern und aufzupeitschen, den fast erloschenen Funken seiner feurigen, gefühlvollen Seele anzufachen, das Gefühl festhaftender Freundschaft zu entflammen und ihm Lebenslust einzuflößen, wäre er also und seine Mittel nicht gewesen, so hätte es schon längst keinen Schloimale mehr auf der Welt gegeben und folglich auch nicht diese Lebensbeschreibung. Wieviel Menschen wie Schloimale gibt es doch bei uns, junge, begabte Kräfte, die wie verlaufene Schafe umherirren! Ihre Mühe ist umsonst. Ihr Ruf und Hilfeflehn ist eine Stimme in der Wüste. Sie fallen und niemand weiß, wo ihre Gebeine ruhen. Der böse Trieb bezweckte Schlimmes, als er Schloimales ermattende, von Natur aus feurige Seele aufreizte, er wollte ihn in die tiefste Hölle stürzen – aber Ende gut, alles gut!

Schloimale ließ sich als feuriges, lebhaftes Kind voll Herz und Gefühl vom Zuge des Herzens und der Augen verführen. Machte ihm irgend etwas Freude, so war es ihm schwer, sich davon loszureißen. Er genoß voller Lust und dachte nicht lange nach, ob er dabei vielleicht einen Biß abbekommen und der Genuß ihm teuer zu stehen kommen könnte. So geht es gewöhnlich bei einem feurigen Kind, zum Beispiel, wenn man ihm ein neues Gewand anmißt; wenn das gleich zieht und drückt, so tut es zunächst aus Freude, als wüßte es nichts und nimmt das Drücken gerne in Kauf. Die Gegenwart nimmt bei ihm eine große Ausdehnung in Raum und Zeit ein und erstreckt sich in weite Fernen, so daß es kein Ende, kein Später sieht. Ein Tropfen Vergnügen erscheint als ein Meer, eine Stunde Diesseitsgenuß als ein Jahr, ein Festtag als eine Ewigkeit.

Aber alles in der Welt hat seine Weile. Gut und Schlecht, Freude und Trauer, Vergnügen und Jammer treten eins in die Fußspuren des andern. Nach dem Feiertag mit seinem wunderbaren Auserwählungsgebet und seinen fröhlichen Unterhaltungen kommt die graue, sorgenvolle Werkeltäglichkeit, mit ihrem schwermütigen Barmherzigkeitsruf vor dem Abendgebet, mit dem sündenbekennenden Schlag ans Herz, mit dem erbarmenheischenden Beugen des Kopfes!

Auch Schloimales Stimmung änderte sich. Seine gute Laune und sein Frohsinn schwanden – und er wurde mit sich, mit seiner Lage und mit der ganzen Welt unzufrieden.

Die erste üble Stunde kam über Schloimale beim »Tage« bei einem wohlhabenden Mann, in der Küche, in die er eintrat, um nach Schülerbrauch sein Abendbrot zu essen.

In der Küche, in einem Winkel, flackerte eine Unschlittkerze. Die Köchin, eine Frau mit roter, verbogener Nase, mit fetten Lippen, einem breiten Mund, dem zwei Vorderzähne fehlten, schaffte beim Ofen herum, brummte und murrte ärgerlich in die Welt hinein, ohne nach Schloimales Winkel zu schauen, als sei er gar nicht da. Schloimale saß wie auf Nadeln, die Seele wollte ihm vor Warten vergehen. Jeden Moment ging knarrend die Küchentür. Jetzt, jetzt ist die Erlösung da, das Abendbrot kommt – meinte er, aber es war nichts, die Hausleute kamen und gingen. Er saß und platzte schier vor Ungeduld. Es war schon ziemlich spät, es war schon Zeit, an seine Schlafstelle zu gehen. Dort erwarteten sie ihn schon mit den von gestern nicht beendeten und mit neuen und frischen Geschichten. Er machte sich auf Schülerweise bemerkbar – bald stand er auf, bald kratzte er sich, bald seufzte, hustete, schnaufte er – aber sie rührte sich nicht! Sie brummte unaufhörlich weiter, als ob sie sich mit jemandem auseinandersetzte und ihm alle ägyptischen Plagen an den Hals wünschte.

Da stieg mit einem Male wie aus der Erde das Bild seines Lebens vor Schloimale auf, in klaren Farben, das Einst und das Jetzt. Und gleichzeitig ertönte eine Stimme vom Himmel – die Köchin rief und sagte: »Geh, tu den Handguß, Bub!« Tränen vergießend übergoß Schloimale seine Hände, erhob sie böse und ärgerlich, nicht etwa gegen Gott, sondern gegen sein dunkles Los und die Köchin mit der roten Nase. Er vollführte alles der Reihe nach, wie es Brauch ist. Er setzte sich, sprach die Benedeiung, biß ins Brot, schlürfte Graupensuppe, sprach das Tischgebet, machte es kurz ab, sagte den vier Wänden gute Nacht und ging schnell und aufgeregt hinaus, ohne die Mesise zu küssen, zornig, traurig, unzufrieden mit sich und allen. Ach und wehe, dachte er aufbrausend, was für ein Schicksal hatte er! Ein »Freiherr« war er geworden, ein Jeschiwe-Schüler, aß »Tage«, o Gott! Du Jammer, sein hoher Rang unter der Bande, bei armen Burschen. Ach und wehe, das Glück, das er hatte, daß er mit dem Lehrer herumgehen und Spenden in den Beutel zusammenschnorren durfte! Ach und wehe, welch Glück er hatte, daß er sich auf dem warmen Bankofen herumwälzen und dort schlafen durfte. Das hieß Glück. Ziele! Schön hochgekommen war er . . .

Seit damals war Schloimale außer sich. Die bösen Stunden befielen ihn oft. Seine Kameraden erkannten den früheren Schloimale nicht mehr.


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