Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Achtes Kapitel

Hier auf dieser Erde war Schloimale ein Tor, der nichts vom Leben wußte; aber dort in jener Welt, in die er beim Lernen flog, war er ungewöhnlich weise, da kannte er alles wie ein großer Gelehrter, selbst Dinge, die heute für andere ein Geheimnis bilden. Er war nicht von dieser Welt, sondern gehörte mit allen Eigentümlichkeiten hinüber, mit der Art zu sprechen, mit dem Schaukeln, ganz und gar, mit Leib und Seele. Dort gab es für ihn eine unendliche Fülle von Angelegenheiten: Dort gab es einen Streit über ein Ei, das eine Henne am Jontew gelegt hatte; Leviten nahmen den Zehnten, Priester nahmen die Hebe und brachten Opfer dar, und das Volk – gab Nachlese, Erstlinge, Hebe und Zehnten und bekam die Geißelung. Schloimales Welt war bloß die Vergangenheit, in ihr lebte sein Geist, hier bloß sein Leib. Er war sehr beschäftigt. Zeit? Wo hatte er Zeit?! Zeit gab es nicht! Der Kopf war ihm wirr.

Einmal, als Schloimale gerade nach einer schweren Plage wie ein Gast aus dem Jenseits in sein Elternhaus hinunterfiel, um schnell etwas zu essen, hörte er gleich beim Hineinkommen ins Zimmer ein Klagen und Jammern, als ob man um einen Toten weinte. Die Mutter rang die Hände, jammerte und weinte mit klingender Stimme. Duwwedel und Ejdale, die beiden Würmlein, standen von ferne in einem Winkel, und da sie die Mutter weinen sahen, brüllten sie mit offenen Mäulchen los. Leje, die ältere Schwester, saß auf der Milchbank und ließ traurig den Kopf hängen. Schloimale gab es einen Stich im Herzen, seine Augen füllten sich mit Tränen und er begann auch gleich zu weinen.

»Ach, ein Verhängnis, ein schweres Unglück, weh, hat uns getroffen!« behauptete die Mutter und löste sich in Tränen auf.

»Mu-u-tter, M-u-tter!« brüllten die Kleinen und kratzten sich mit beiden Händchen den Kopf.

»I-ik-hik!« schluchzte Schloimale, der »drüben« ein Weiser war, und schneuzte sich.

»Wein', Schloimale, weine!« sagte die Mutter im Gebetstil, als sie ihn bemerkte und legte ihm beide Hände auf den Kopf. »Allmächtiger Vater, sammle die Tränen der reinen unschuldigen Kinder in Dein Gefäß! Ach, unglückliches Kind, wind und weh ist uns! Die entsetzlichen Schulen! Jüdische Kinder werden in die Schulen genommen!«

»O wehe, wehe!« zeterte Schloimale, die Hände seiner Mutter lagen noch auf seinem Kopf, und er weinte bitterlich.

Schloimale von »drüben« hatte gehört, daß auf dieser Erde »hier« die anderen Völker Schulen hätten. Was man in ihnen trieb, wußte er nicht. Bloß das hatte er gehört, daß man dort schrecklich prügelte. Als er jetzt erfuhr, was das Weinen der Mutter bedeutete – ein Gesetz nämlich, jüdische Kinder in die fremden Schulen zu bringen, war er außer sich. Es schien ihm, daß die Soldaten schon dastünden, die ihn nahmen, wegführten und prügelten. Darum schrie der Arme Zeter und Mordio.

Die Mutter wieder weinte nicht so sehr darum, daß man prügelte – was Prügel betraf, so gab es die ja auch im Chejder – als einfach darum, weil Schulen eine schlimme Sache waren. Schon der bloße Name klang furchtbar häßlich. Die Welt mußte ja untergehen, aus war's mit dem Judentum, was sollte aus den Juden werden?!

Die Leute in der Stadt gingen wie vernichtet umher, seufzten, stöhnten und sprachen von den Schulen. Sie munkelten dabei von einem gewissen »Daatsch«, einem Lilienthal, von dem, sowie andern »Berlinern« seinesgleichen, das ganze Spiel stamme. Man veranstaltete Versammlungen und überlegte, was zu tun sei. Schließlich wurde beschlossen, einen Fasttag anzusetzen, Psalmen zu sagen, am Friedhof zu beten und das Äußerste zu versuchen. Die armen Melamdim waren wie vernichtet, sie bangten um ihren Unterricht. Die Schulen würden ihnen ja das Leben sauer, nein, zur Hölle machen. Wenn sich nicht Gott selbst einmengen und ein Wunder tun würde, müßte es ihnen schlecht gehen. Es war darum selbstverständlich, daß die Armen lauten Lärm schlugen und die Leute aufhetzten. Jeden Morgen und Abend waren die Synagogen gefüllt. Die Melamdim führten die Kinder aus dem Chejder hin. Man sagte Psalmen, weinte und fastete. Das war der erste Fasttag Schloimales, wegen der Schulen. Die Frauen gingen auf die Gräber der Eltern beten, »maßen Feld« und vergossen Ströme von Tränen. Das war ein verweinter Sommer! Sogar die paar Christen in der Stadt waren erschüttert. Christen und Juden der Stadt lebten in sehr gutem Verhältnis, sie hatten ihr bißchen Lebensunterhalt voneinander, wußten einer vom andern, was bei ihm vorging, und nahmen in Leid und Freud aneinander Anteil. Gab es bei einem Juden Hochzeit, dann schickten ihm bekannte Christen Hochzeitsgeschenke: Der eine ein Huhn, der andere ein paar Mandeln, Eier, der ein Brot und jener ein Striezel – jeder nach seinem Stand, und umgekehrt war es ebenso. Darum stimmte der Jammer und Lärm, der damals bei den Juden herrschte, die Christen traurig und sie wunderten sich, was das zu bedeuten hätte.

»Ach, Rizko, sage, warum weinen unsere Jüdlein so und schreien Zeter, als ob man sie abschlachtete?«

»Vor dem Chapun haben sie Angst, daß er sie erwischt.«

»Aber nein! Bis zur Chapunzeit ist's noch weit. Vielleicht zwei oder drei Monate bis zu ihrem Gerichtstag. Man muß fragen, was da los ist. Schau, da kommt Chaje!«

»Stopp, Chaje! Sag doch, warum jagst du so und weinst so bitterlich, wie?«

»Ach, Mikita, ein Unglück! Ich habe keine Zeit! Da kommt Beer! Frag Beer, Beer mag's erzählen, o weh«, antwortete Chaje-Griene und lief atemlos bergab zum Friedhof.

»Ach, Beer! Hör mal, warum jammern die Juden so? Wie?«

»Oh, gute Leute, ach was für ein Unglück. Sie werden unsre Buben in die Schulen nehmen«, blieb Beer stehen und machte den Christen, so gut er konnte, die ganze Schulsache klar. Und den armen Schulen ging's jämmerlich, als sie in den Mund Beers kamen. Was für ein Aussehen sie annahmen! Aber die Christen verstanden ihn, bekreuzten sich und spuckten dreimal aus, gleichsam um zu bestätigen, daß es wirklich ein Unglück sei.

Aber vorläufig, bevor ihnen das Verdienst der Väter helfen, vor Gottes Thron Fürsprache einlegen und er ein Wunder tun würde, griffen die Juden zu dem alten Mittel: Sie verheirateten die kleinen Kinder. Das war eine Panik! Die Heiratsvermittler, die guten, die feinen Leute, scheuten keine Mühe und arbeiteten aus Liebe zum Volke Israel mit allen Kräften: Man stellte kleine Buben und junge Mädel eiligst unter die Chippe. Das hieß: Wenn behüte Schulen kämen, dann hätte man's ihnen, hehe, nett eingebrockt: Kinder? Ja freilich was denn! Lauter Erwachsene, lauter kleine Bürgerlein! Und damit die Väter der kleinen Mädel nicht eigensinnig würden und mit ihrer Ware nicht zu groß täten, kam ein Gerücht, daß man die Mädel irgendwo zur Arbeit in die Kolonien nehmen würde. Wenn Schloimale damals davonkam, ohne in der Panik verheiratet zu werden, war das sicherlich Bestimmung – die ihm von Gott Bescherte war wohl nicht in der Stadt; und gegen Gott kann man nicht angehn, da helfen keine Klügeleien. Wie hätte es sich denn anders erklären lassen? Die Mutter hatte Lust, aber der Vater verzog die Nase, als ob er sagte: »Pfui, Unsinn!« Aber in solchen Dingen ist der Wille der Frauen schrecklich stark und bricht selbst Eisen. Und von Seiten Schloimales wäre nicht bloß kein Hindernis gekommen, es hätte ihm vielmehr gar sehr gefreut. Erstens einmal, warum sollte er schlechter dran sein als die andern Buben, warum sollten die andern Buben eine Braut haben und er nicht? – Ach, wie er solch einen Bräutigam beneidete! So einer hatte ja ein Ansehen! Er hatte allerdings noch keinen Bart und in der Schule legte man ihn ja auch noch über, aber er war trotzdem schon ein Stück Großer: Er »wurde Mensch« und blickte hochmütig auf seine Mitschüler hinab: Jeden Augenblick – wie lange dauerte es noch – würde er selbst Vater sein. Und zweitens hatte Schloimale ganz einfach auch ohne das alles Lust, eine Braut zu haben. Das war ja was – »ich, Jüngling, habe eine Braut, ich sitze und denke bei mir – Braut – die gehört mir!« Man vergesse nicht, daß Schloimale »drüben« weilte und ein vollständiger »Jerusalemer« war: Kleine Brautpaare waren ja drüben ganz gewöhnlich. Nun, und dann hatte er doch im Talmud von den Ehedingen gelernt, außerdem besaß er eine glühende Phantasie und den Funken Poesie, der manchmal plötzlich und unerwarteter Dinge aufflackert.

Aber wie dem auch sein mochte, so heiratete Schloimale doch nicht in der Panik und blieb wie früher ein Kind. »Auch das war zum Guten«, denn wie sich hernach herausstellte, war die Panik umsonst gewesen. Die Buben wurden nicht gewaltsam in die fremden Schulen und die Mädchen auch nicht in die Kolonien geschleppt. Das Chejder blieb Chejder, der Melammed auch weiter Melammed und alles war wie vorher. In manchen großen Städten wurden zwar jüdische Schulen errichtet, aber die Sache war nicht so schlimm. Es waren nicht viel Kinder in ihnen und noch gar was für Kinder? Von Hungerleidern, vom gewöhnlichen Volk – na, grad' der Rede wert!

Auch Lilienthal war wie verschwunden. Von seinen Leuten blieb in Armleuten ebenso wenig eine Spur wie von den Schulen. Sie gerieten vollständig in Vergessenheit. Schloimale hätte keine blasse Ahnung gehabt, daß es überhaupt so was gab, wenn sich nicht später folgendes zugetragen hätte.

Eines schönen Sommertages kam ein grauhaariger, kleiner Mann, mit einem Bäuchlein und einem freundlichen Gesicht in die Stadt. Es hieß bei jedermann: »Ein Gast ist da – Reb Nuchem Roisewer ist gekommen, um Abschied zu nehmen!« Und alle verstanden sehr gut, was das »Abschiednehmen« bedeutete.

Als Reb Nuchem aus dem Städtlein Roisew seine jüngste Tochter verheiratet hatte und im Alter als Witwer zurückblieb, beschäftigte er sich damit, zum Sterben nach dem Lande Israels zu fahren. Aber da der Mensch bis zum Sterben zu leben haben und als Jude auch noch heiraten muß, so heißt das ja wohl, daß er Geld braucht! Was war also zu tun? So tat Reb Nuchem nun das, was andere in gleichen Fällen tun – er reiste einige Jahre von Stadt zu Stadt umher, um sich zu verabschieden, das heißt ansehnliche milde Gaben zu sammeln und wenn es nur ging, auch für weiterhin Bestellung zu machen. Ein Beruf wie das »Abschiednehmen« zählt bei den Juden zu den ziemlich guten; wer zum Sterben nach Palästina fährt, ist angesehener als alle andern Arten von »Empfängern«, Luftmenschen und sogar auch als Abbrändler, er ist schon ein Jerusalemskandidat! Reb Nuchem reiste auf diese Weise einige Jahre umher und setzte bei den Leuten kein Geld zu. Er wurde vom einen zum Abendbrot, vom andern zum Mittag geladen und bekam auch was in die Hand. Reb Nuchem seinerseits versprach ihnen dafür sehr viel. Dem einen dies, dem andern das, dem einen Erde aus dem Lande Israels, dem andern, daß er für ihn auf dem Grab des Mejer Bal-Neß beten werde. Reb Nuchem wollte der Stadt Armleuten, in der er Bekannte und mehrere entfernte Verwandte besaß, keine Beschämung antun und kam eines schönen Sommertages zum Abschied hin.

Gewöhnlich aß man im Sommer im Städtlein das Abendbrot beim Schein des Mondes, wenn er da war, sonst bei Unschlittkerzen für einen Pfennig. Man tat es rasch ab, sagte Gutnacht und ins Bett ging's, entweder sofort oder nachdem man sich draußen ein wenig gelüftet hatte. In einer Sommernacht aber – es war so hell, daß man hätte Perlen lesen können – gab es im Hause Reb Chajems eine Änderung: Der Tisch wurde schön gedeckt und in Messingleuchtern brannten Kerzen, als wäre es Festtag. Reb Chajem hatte nämlich Reb Nuchem Roisewer zum Abendbrot eingeladen. Bei Tische gab es eine lange und weitläufige Unterhaltung über die Tempelwand und die Doppelhöhle, über den Ölberg und das Grab der Mutter Rahel, über Ruinen und Gräber, und mittendurch tat man sich an einem Gespräch über Feigen, Datteln, Granaten und Johannisbrot gütlich. Alles leckte sich die Lippen, und die Augen glühten und glänzten vor großem Vergnügen. Reb Nuchem war sehr beredt und sprach unaufhörlich, so, als ob er schon dort gewesen wäre und alles mit eigenen Augen gesehen hätte, und alle hingen an seinem Munde, sahen ihn liebevoll und sehr ehrerbietig an und beneideten ihn im Herzen, daß es ihm beschert war, dort zu sein. Man sagte es ja so leichthin: »Land Israels«, »Jerusalem«! Auf den ersten Blick schien es ein Land wie jedes Land und eine Stadt wie jede Stadt zu sein: Häuser, Boden, Staub, Mist, Morast. Aber nein, es war doch irgendwas anderes. Was und wie anders? Das ließ sich gar nicht sagen. Es war nicht so derb materiell, sondern etwas Geistiges. Man mußte es fühlen. Und nun gar die Namen: In der heiligen Sprache, Städte und Orte, die in der Thora stehen!

Das Gespräch kam später auf andere, gewöhnliche Dinge. Reb Nuchem war ja überall in der Welt herumgewesen, hatte von unberufen so viel Leuten Abschied genommen und dabei eine unendliche Menge von Dingen gesehen und gehört! Wilna spielte in diesem Gespräch die Hauptrolle, und für diese Stadt interessierte man sich mehr als für andere. Reb Nuchem erzählte Wunder von ihren ungewöhnlich berühmten Rabbinen, von ihren ungeheuer reichen Männern und schrecklich reichen und mächtigen Leuten, von Klousen, Jeschiwes und armen Schülern – »oh, oh!« – und endete mit Halbweltdamen in einem gefährlichen Gäßlein irgendwo, in dem man sich nachts zu gehen scheut, mit leiser und trauriger Stimme: »Ach, Ach!« Und ganz zum Schluß ging er sehr aufgeregt auf irgendwelche »Berliner« los. »Die Leute von den Schulen, von Lilienthals Bande«, sagte er, verzog die Nase und begann Geschichten zu erzählen und sie zu verhöhnen: Das wäre ganz wildes Volk, sie säßen bei sich, wenn es niemand sehe, ohne Hut und äßen ohne Waschung! Ihre Thora bestünde in Gerede, in kurzen Zeilen mit schönen Ausdrücken und immer: »Oh, oh, ach!« Einer, ihr Führer, äße, sage man, die abgebrannten Dochtspitzen auf Brot! Man sage, daß er eine Unschlittkerze in den Grützbrei stecke und das äße. »Schöne Kerle, ein Jammer, wahrhaftig – oh – ho – ho!« schloß Reb Nuchem ächzend.

Halbweltdamen – nun meinetwegen! Das ging Schloimale noch in den Kopf. Halbweltdamen, das waren vermutlich Teufelinnen, so die gewissen Weiber, wie Lilith etwa oder die Hexen, über die er genug schreckliche Geschichten gehört hatte, wie sie die Menschen mit ihren Bewegungen verführten und hundertmal schlimmer als der Satan, als Asmodai selber seien. Darum war es richtig, daß sich die Leute in Wilna scheuten, nachts in diese öden Gassen zu gehen.

Aber die »Berliner«, kein Spuk, sondern Juden mit Kopf und Händen und Füßen! Juden ohne Hut, die ohne Waschung aßen! Das war gar nicht zu begreifen! Was sollte das heißen, wie gehörte sich das – ein Jude – und ohne Hut! Was sollte das heißen, um Himmels willen – ein Jude – und aß ohne Handguß!! Waren sie verrückt oder von Sinnen? Wußten sie denn nicht, was für ein Urteil es drüben dafür gab – Pech, Schwefel und eiserne Geißeln?! Und ganz ohne das alles, wie das aussah: Ein Jude ganz einfach ohne Hut! Aber diese Dinge hatte doch Reb Nuchem erzählt, einer, der Abschied nahm und nach dem Lande Israels reiste! Einem solchen Manne mußte man glauben. Schloimale blieb nichts übrig, selbst solche Dinge mußten in seinen Kopf und der Name »Berliner« bedeutete seit damals für ihn einen Juden ohne Hut, der ohne Handguß Brot mit Kerzen aß.


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