Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Aber das war noch nicht alles. Da gab es noch das Zimmer der Nachbarin, einer schönen Frau in mittleren Jahren, die auch allein stand. Es war keine Frau, deren Mann sich über den Ozean aufgemacht und sie verlassen hatte; auch keine Frau, deren Mann irgendwo in Wolhynien Unterricht gab. Nein, sie hatte einen Mann, er lebte sogar in der Stadt, er liebte sie sogar sehr und war Gott sei Dank kein Lehrer – wie war denn aber die Sache? Er war ein Angestellter, das heißt, ein Diener des ersten Mannes von Ss . . . k. Nun, das war keine große Schande. Viele Leute, die Häuser besaßen, hätten sich eine solche Dienerstelle wünschen dürfen. Das war ja keine Kleinigkeit, ein so reicher, vornehmer Mann, dessen Name weit und breit bekannt war!

Im Speisekorb dieser Nachbarin war das Versteck des bösen Triebes, der beste Platz, wo er Schloimale auflauerte, um ihn ins Garn zu locken. Das muß aus viel wichtigen Gründen ein wenig näher besprochen werden.

Wenn man heute sagte: Der angesehenste, vornehmste Mann der Stadt, dessen Namen überall in der Welt herumgeht, dann könnte man nichts anderes als einen großen Bankier meinen, oder einen weltbekannten Fabrikanten, einen Millionär, der so und so viel unzählbare Millionen hat. Sein Haus ist ein Palast mit einem Heer von Dienern, ein »Schweizer« mit goldenen Knöpfen und Tressen steht an der Tür, ein Bettler hat nicht nur nicht das Glück, die Schwelle zu überschreiten, es fällt ihm nicht einmal ein, die Nase hinüberzustecken, er wendet vielmehr auf ihn und seinesgleichen den Vers der Heiligen Schrift an: »Bauet nicht auf die Freigebigen!« Des Geizes kann man diese Männer trotzdem keineswegs beschuldigen. Wer streut denn noch so wie sie das Geld in ganzen Haufen aus, selbst da, wo es nicht zu sein hätte? Wohltäter sind sie große, hauptsächlich bei öffentlichen Dingen – zum Beispiel bei einem Spital, für ein paar Betten darin, bei einem Zaun um den Friedhof, bei einer Klous, bei einem Bad und ähnlichen Dingen, die Aufsehen und einen bekannt machen. Spenden für öffentliche Dinge haben einen großen Vorzug: Ein Name schaut dabei heraus, oder ein Titel, man kommt in der Leute Mund, sei es auch solcher, die einen ganz gleichgültig und kalt lassen. Einzelnen aber Wohltaten erweisen – einen Gestürzten stützen, einem Bedürftigen, einem Manne mit vielen Kindern helfen, ist eine hinausgeworfene Sache.

»Kann man denn jeden einzelnen Schnorrer versorgen«, vertreten sie ihren Grundsatz, »kann man sich eines jeden Luftmenschen erbarmen? Mit dem Mitleid wird man ihn vielmehr noch stärker verderben. Mag er kein Taugenichts sein, und nicht so groß in seinen eigenen Augen! Mag er nicht auf fremden Schultern Kinder kriegen!« Selbst bei Leuten, die ihre Kraft und Gesundheit in ihrem eigenen Geschäft eingebüßt haben, haben sie den gleichen Grundsatz: »Solche Schnorrer, solche Menschlein haben nicht frech zu sein!«

Was sie Gott und ihrem Volke sind, davon braucht man gar nicht zu sprechen! Gott hätte ja für die Ehre zu danken, die ihm von so großen Herren erwiesen wird, indem sie manchmal, um eine Pflicht los zu werden, seinen Namen erwähnen. Das Volk darf stolz sein, sich rühmen, in den Blättern posaunen, daß so hohe Herren, solche Asse und Trümpfe, zu gewissen Zeiten bei ihm sind.

Wäre ein Mann, der vielleicht hundertundfünfzig- oder zweihunderttausend Dukaten, der gar keinen Titel, ja nicht einmal eine silberne Medaille hat, der kein Bankier, kein Hochflieger, Plänemacher, Weltenstürzer ist, dessen Handel etwa Unschlitt oder ähnliche Artikel betrifft und der nicht weiter als bis nach Krementschuk gekommen ist, dessen Angestellte einfache Leute mit Bärten und Pejes in langen Röcken sind und »Diener«, »Abgesandte« und »Vertraute« heißen – wäre ein solcher Mann heutzutage überhaupt wert, daß man von ihm spreche? Gewiß nicht! Diese Antwort würde man nach jenen Forschern hören, die behaupten, daß alles bei uns, von vorzeiten bis jetzt, nichts und wieder nichts ist, und wenn man nicht heute noch schnell daraufgekommen wäre und rechtzeitig mit dem Alphabet angefangen und klar, vernünftig und genau mit den Juden gesprochen hätte: »Schaut nicht hinter Euch, Gevatter, trollt Euch bitte immer nur voran, Euer Heil und Wohl liegt bloß da vorne!« so wären sie nicht wert, daß sie überhaupt auf der Welt lebten!

Hier aber haben wir kein modisches Magazin mit modernen philosophischen Werken für hochstehendes Publikum, sondern einen Antiquitätenladen für das altväterliche jüdische Publikum, eine Art Museum von alten Gegenständen des einstigen Lebens – wie unsere Eltern lebten, Handel trieben und sich im Hause aufführten, ihr Blick auf Menschen und Menschlichkeit, ihre Gottesfurcht und ihre Weise in der Wohltätigkeit. Und unter all diesen seltenen alten Dingen nimmt Reb Joine, der erste Mann in Ss . . . k, mit Recht einen besonderen Platz ein.

Betrachtet ihn genau, sein Haus und sein Leben! Beobachtet ihn und schildert ihn!

Ein hölzernes, einstöckiges Haus mit einem Balkongang bei der Tür, zu dem einige Stufen hinaufführten, zu ihren beiden Seiten eine Reihe mittelhoher Fenster, Glasaugen, mit denen es in einen großen eingezäunten Hof blickte. Und so hieß auch seine Wohnung in der Stadt: Reb Joines Hof. Auf der einen Seite des Hofes stand ein hohes, schönes Beßmeddresch. Dort beteten viele Leute – die Familienangehörigen und auch andere. Dort saß jung und alt und lernte Tag und Nacht. So war es zu seinen Lebzeiten und später zur Zeit seines Sohnes – ein Minjen gelehrter Männer, Greise und Junge saßen hier dauernd für Honorar und lernten. Honorar bekam auch ein Jeschiwe-Leiter dafür, daß er jeden Morgen nach dem Beten vor den Gelehrten einen Talmudvortrag hielt.

Am Freitagabend erhielt der Hof ein ganz neues Aussehen, ein festliches Gesicht. Eine mächtige Lichtsäule von den vielen brennenden Kerzen der Schiehl und des Hauses strahlte aus den Fenstern heraus, erfüllte den ganzen Hof und beleuchtete jeden Winkel. Es war, als ob die lieben Engel, die Diener des Höchsten, die Boten des Hochheiligen im Himmel, dort umherschwebten und Reb Joine und seine Kinder erwarteten, um sie beim Verlassen der Schiehl heimzugeleiten. Dort in einem hellen großen Saale standen sabbatlich gedeckte Tische für die Familie und für Dutzende von Gästen, arme Leute und angesehene Männer – da waren Sabbatkerzen in drei- und siebenarmigen silbernen Leuchtern und kostbares Geschirr, der Wein funkelte perlend in geschliffenen, bauchigen, langhalsigen Flaschen und widerstrahlte regenbogenfarbig in kristallenen Kiddesch-Gläsern. Vor jedem einzelnen der Speisenden lag auf schneeweißem Tischtuch das Doppelbrot für Schabbes, ein Paar frischduftender Striezel, voll und gelb wie junge Küchlein, die eben erst aus dem Ei gekrochen sind. Wenn man das alles sah, schien man eine neue Seele, die Überseele, zu bekommen – man fühlte: Das war der Sabbat, da kam die liebe Braut, man ging ihr entgegen, um sie in der Schiehl mit dem Friedensgruß zu empfangen und laut und begeistert das Lied zu ihrem Preis zu singen.

So erfüllte Reb Joine seine Pflicht gegen Gott und seine Lehre. Er erfüllte aber als Bürger und Jude, als Sohn seines Volkes, auch seine Pflicht gegen die Stadt und die jüdische Gemeinschaft, er war daran sicherlich mit einem großen Anteil beteiligt. Aber durch seine Wohltaten für die Gemeinschaft speiste er nicht die Einzelnen ab, so wie man etwa bei uns jemanden in die Benedeiung über Wein einbeziehen kann. Das heißt, seine Spenden für die Gesamtheit kauften ihn nicht von denen für die Individuen los, sondern jeder Einzelne bekam seine Münze; alle Arten von Schnorrern und Habenichtsen, mit und ohne Sack, Abbrändler, verlassene Frauen, fahrendes Volk mit Dokumenten und Rabbinen ohne Dokumente – jeder erhielt seinen ordentlichen Pfennig. Ganz zu schweigen von den eigenen Armen in der Stadt, die in der Stille, geheim, gastfreundlich, in der Weise unseres Vaters Abraham, Essen und Trinken bekamen.

Da habt ihr ein Bild, liebe Leser, ein altertümliches Bild! Heute ist das wohl selten. Bitte, betrachtet es!

Im Hofe, dem Hause gegenüber, stand ein langgestrecktes, fensterloses Bauwerk mit zwei großen, offenen, aufgeschlagenen Torflügeln, wo ein Mann mit geschürzten Schößen, aufgekrempelten Ärmeln, mit ausgestreckten Händen stand, Beutel von innen empfing und sie einer sich draußen drängenden Menge von Männern und Frauen zureichte, die mit Paketen, Kerzen und Flaschen beladen waren. Das war ein Speicher voll Nahrungsmitteln und anderen notwendigen Dingen, aus dem ein Aufseher jeden Donnerstag an bestimmte arme Leute verteilte. Und manchen gestürzten armen Teufeln, die sich schämten, die Hand auszustrecken, wurde es im geheimen ehrenvoll ins Haus geschickt.

Die Seite des Hofes nahm ein großer Flügel ein, aus dessen Schornsteinen Rauchsäulen aufstiegen. Diener, Frauen, Mädchen in weißen Schürzen und mit weißen, reinen Tüchlein auf dem Kopf schossen geschäftig mit Tischzeug und Geräten hin und her, ein hochgewachsener, handfester Mann stand an der Tür, kommandierte und ließ die Leute ein und aus. Was ein reicher Mann vorzeiten imstande war: Er hatte eine Küche eingerichtet und kochte und buk und speiste täglich hungrige, elende, arme Teufel von Beßmeddresch-Leuten!

Ja, das war die offene Küche Reb Joines für Arme und Hungrige! Und er wollte dafür keine Ehre und keinerlei Belohnung haben, er dachte nicht einmal daran, daß man ihn abschildern werde – hier in diesem Bilde.

Der da kommandierte, war der Mann jener Nachbarin, die im zweiten Zimmer des »Minjen«-Hauses wohnte. Ihr Mann konnte sich von der Küche nicht freimachen, so viel Arbeit oblag ihm fortwährend, er kam nur einmal in der Woche auf ein paar Stunden nach Hause und brachte dann die besten Dinge, die es nur gab. Sein Korb war voll von guten, schmackhaften Sachen. Dieser Korb zog das Herz und die Augen Schloimales an, und zwar um so heftiger, je mehr er davon kostete. Der böse Trieb, der Hetzer, saß in diesem Korb unter dem Naschwerk verborgen und setzte ihm die Lust ins Herz, dort, wo er betete, dauernd zu verweilen, und hielt ihn auf diese Weise vom Lernen ab.


 << zurück weiter >>