Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

»Wenn Gott den Wegen eines Menschen wohl will«, sagt die Heilige Schrift, »dann bereitet er ihm auch Frieden mit seinen Feinden«, und zwar überfallen und beißen nicht bloß Flöhe und Hunde den Glücklichen nicht, sondern sogar, oder besser gesagt: um so eher tun es auch die Menschen nicht. Das Sprichwort sagt: »Dem Armen sind alle Brüder feind und jeder ist des Reichen Freund«, oder: »Strömt's einem zu aus Toren und Türen, so kriecht man vor ihm auf allen Vieren«. Schloimale, dem das Glück »Tage« und »Nächte«, zum Essen und zum Schlafen bescherte, fand mit der Zeit auch Wohlgefallen in den Augen aller Jeschiwe-Schüler. Selbst die Alteingesessenen söhnten sich mit ihm aus und nahmen ihn in ihr Kollegium auf. Der »Windhund«, ein Teufelskünstler im Werfen nasser Fetzen und im Stecken von Stinkbomben, schloß sich innig an ihn an und lernte mit ihm zusammen. Der »Windhund« war, wie sich herausstellte, eine herrliche Natur, ein wunderbarer Charakter mit heißen, tiefinnerst verborgenen Gefühlen des Erbarmens und der Liebe, die oft in einer perlenzitternden Träne auf den Augen, in einem stillen, schwermütigen Seufzen aus den Lippen hervorquollen – ein gutes Bürschlein, aber arm und elend.

Von seinem Glück, vom Essen und Trinken, ließ sich Schloimale vom Wege der Thora, auf den er kommen wollte und sollte, nicht abführen. Freilich, was für ein Glück das schon war! Aber doch waren »Tage«, selbst solche in der Küche bei einer bösen Köchin, besser als Brot und Salz, eine dünne Graupensuppe besser als ein wenig Wasser, Schlaf auf einer warmen Ofenbank viel süßer als auf dem nackten Boden, und die Leiden, zu denen der satte, sündhafte Mensch getrieben wird, sind besser als das bittere Leben eines Hungrigen, Notleidenden.

Bei Schloimales Leben in Ss . . . k, das sich mit einer Unterbrechung an zwei Jahre hinzog, lohnt es sich nur an gewissen Stellen, ein wenig zu verweilen. Sonst war alles nicht viel mehr als das Wachsen einer Pflanze. Atmen, Schauen, Essen, Verdauen, ein Leben ohne Bewußtheit, das keine Spur in Raum und Zeit hinterließ, und nicht im mindesten in der Erinnerung haftete.

Einen dauernden Eindruck hinterließen die Winterabende in der Jeschiwe. Die Sonne ging nach ihrer melancholischen kurzen Reise in vielen schimmernden Wolken unter, die sich ihr unhöflich über den Weg legten. Ihre letzten Strahlen drangen durch die dick zugefrorenen Fenster in die Jeschiwe und tanzten auf der Wand mit dem ganzen Bilde der zwei vom Frost verzierten und bemalten Viertelscheiben.

Draußen brannte der Frost. Drinnen im Zimmer war es kalt und dunkel. Die Schüler begannen langsam wieder zusammenzukommen. Sie rieben sich die Hände und stießen unartikulierte Laute aus. Im Ofen brannte das Holz. Zwei Schüler, die zurückgeblieben waren, der eine ein Unglücksmensch, der gar keinen »Tag« hatte und der andere, der sich von seinem »Tag« ein paar Kartoffeln zum Abendbrot mitgebracht hatte, hockten vor der offenen Ofentür und bewachten ihre siedenden Töpfe, wo eine Graupe nach der andern mit zornigem Tjoch-tjoch auf- und niederfuhr. Das Holz krachte und beleuchtete ihre und die Gesichter der Umstehenden. Ein heftig aufflackerndes Holzscheit streckte ihnen aus dem Ofen seine lange, feurige Zunge hervor, feuerte hart an der Tür mit Macht glühende Funken ab und trompetete zum Schluß ein langes Pifff! Es wurde warm, die Schüler freuten sich; sie verbrachten die Zeit mit Geschichten, mit Plauderei, mit Witzen. Die Knaben mit den Töpfen begannen zu essen. »Erhebet euch!« wurde ausgerufen. »Die Zeit zum Gebete naht! Die Priester gehen hinein, um ihre Hebe zu verzehren – ihre Graupensuppe!« Die beiden schlürften voll Eifer und Hingabe und begleiteten jeden Löffel, den sie vom Topf zum Munde führten, mit einem Liede ihrer Lippen und riefen dadurch bei den Zuschauern einen Wolfsappetit hervor. Die kratzten sich den Kopf und leckten sich die Lippen. Am Mittwoch saß Schloimale auch hier und aß die Hebe von dem Brötlein, das Dwoire-Golde, die Marktfrau, ihm an diesem Tage gab. Er aß es voll Ernst und Andacht und hütete sich aufs peinlichste, auch nur ein Bröselchen zu verlieren.

Dieses Brötlein war von größter Kostbarkeit, es war ihm teurer als in Butter gebratener Eierkuchen, lieber als der beste »Tag«, da er bei sich bedachte, mit welcher Liebe zu Gott und seiner Thora dieses Brötlein gegeben wurde.


 << zurück weiter >>