Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Eben sitze ich hier bei einem Gericht Aale aus dem Anapus, die hier für eine Delikatesse der Domherren gelten, und die ich also wohl ebenso verdienstlos verzehren kann. Ich habe sie selbst auf dem Flusse gekauft und halb mit gefischt. Ich fuhr nämlich heute nach Mittage mit meinem Franzosen über den Hafen den Anapus hinauf, um das Papier zu suchen. Das Papier fand ich auf der Cyane links bald in einer solchen Menge, daß wir das Boot kaum durcharbeiten konnten: aber die schöne Quelle der Cyane konnte ich nicht erreichen. Es war zu spät; wir mußten fürchten verschlossen zu werden und kehrten zurück. Das ärgerte mich etwas; ich hätte früher fahren müssen. Das Wasser ging hoch und wir kamen noch eben wieder zum Schlusse an. Hier am Hafen wollten einige Köche der hiesigen Schmecker mir durchaus meine Beute abhandeln und boten gewaltig viel für meine Aale, machten auch Anstalt sich derselben provisorisch zu bemächtigen, als ob das so Regel wäre: ich hielt aber den Fang fest und sagte bestimmt, ich wollte hier in Syrakus meine Aale aus dem Anapus selbst essen, und würde sie weder dem Bischof, noch dem Statthalter, noch dem König selbst geben, wenn er sie nicht durch Grenadiere nehmen ließe. Die Leute beguckten mich und ließen mich abziehen. Über das Papier selbst und des Landolina Art es zuzubereiten, habe ich nichts hinzuzufügen; ob ich gleich glaube in den bisherigen Beschreibungen der Pflanze, zwar keine Unrichtigkeiten, aber doch einige Unvollständigkeit entdeckt zu haben. Die Sache ist indessen zu unwichtig. Unser schlechtestes Lumpenpapier ist immer noch besser, als das beste Papier, das ich von der Pflanze vom Nil und aus Sizilien gesehen habe. Wir können nun das Sumpfgewächs und den Kommentar des Plinius darüber entbehren; es hat nur noch das Interesse des Altertums.

Eine drollige Anekdote darf ich Dir noch mitteilen, welche die gelehrten Späher und Seher betrifft, und die mir der besten einer unter ihnen, Landolina selbst, mit vieler Jovialität erzählte, als wir nach einem Spaziergange in dem alten griechischen Theater saßen und ausruhten. Landolina machte mit einer fremden Gesellschaft, von welcher er einen unserer Landsleute, ich glaube den Baron von Hildesheim, nannte, eine ähnliche Wanderung. Hier entstand nun ein Zwist über eine Vertiefung in dem Felsen, die ein jeder nach seiner Weise interpretierte. Einige hielten sie für das Grab eines Kindes irgendeiner alten vornehmen Familie, und brachten Beweise, die vielleicht ebenso problematisch waren, wie die Sache, welche sie beweisen sollten. Man sprach und stritt her und hin. Das bemerkte ein alter Bauer nicht weit davon, daß man über dieses Loch sprach. Er kam näher und erkundigte sich und hörte, wovon die Rede war. Das kann ich Ihnen leicht erklären, hob er an; vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich es selbst gehauen, um meine Schweine daraus zu füttern: da ich nun seit mehrern Jahren keine Schweine mehr habe, füttere ich keine mehr daraus. Die Archäologen lachten über die bündige Erklärung, ohne welche sie unstreitig noch lange sehr gelehrt darüber gesprochen und vielleicht sogar geschrieben hätten. So geht es uns wohl noch manchmal, setzte Landolina sehr launig hinzu.

Die hiesigen Katakomben unterscheiden sich wesentlich von denen zu Neapel. Was beide ursprünglich gewesen sein mögen, ist wohl schwerlich zu bestimmen; aber daß beide in der Folge zu Begräbnisplätzen gedient haben, ist ausgemacht. Von den syrakusischen ließe sich vielleicht aus dem Bau mehr behaupten, daß sie ursprünglich dazu gehauen wurden. Der große Unterschied der neapolitanischen und syrakusischen besteht darin, daß in den neapolitanischen die Leichenbehälter von dem Boden aufwärts, und hier in die Tiefe der Wand hineingearbeitet sind. Dort sind unten die größern und dann an der Wand herauf die kleinern Behälter; hier sind vorn die größern und dann weiter hin in die Felsenwand hinein die kleinern: so daß in Neapel das Dreieck der Lage an der Seite aufwärts, in Syrakus mit der Spitze einwärts niedergelegt zu denken ist. Beschreibung ist schwer und Zeichnung macht noch mehr Umstände; ich weiß nicht, ob ich Dir deutlich geworden bin. Ein autoptischer Anblick gibt es in einem Moment. In Neapel lagen die Kadaver in kleineren Nischen an der Wand hinauf, unten die größeren und aufwärts immer kleinere; in Syrakus in den Felsen hinein, vorn größere und hinterwärts immer kleinere. Hier habe ich den einzigen vernünftigen Mönch als Mönch in meinem Leben gesehen. Wo man sonst auch noch zuweilen gute und vernünftige trifft, sind sie es wenigstens nicht als Mönche. Der Eingang in die Grüfte ist hier eine alte Kirche des heiligen Johannes, wo nur noch selten Gottesdienst gehalten wird. Dieser Mönch ist der einzige Bewohner der Kirche und der Katakomben; Glöckner und Sakristan, und Abt und Kellner und Laienbruder zugleich. Das erste Mal, als wir kamen war er nicht zu Hause, sondern in der Stadt nach Lebensmitteln. Als wir umkehrten, begegneten wir ihm in den Feigengärten, und gingen wieder mit ihm zurück nach Sankt Johannis. Er machte für einen Religiosen einen etwas sonderbaren genialischen Aufzug. Seine Eselin hatte gesetzt, und doch hatte er sie nötig, um seine Viktualien aus der Stadt zu holen; er nahm sie also, da sie allein nicht gehen wollte, mit dem jungen Esel von dreiundzwanzig Stunden zusammen. Der kleine Novize des Lebens konnte natürlich die große Tour nicht aushalten. Der Mönch mit dem langen Talar nahm also seinen Zögling auf die Schultern und ging voran, und die Mutter folgte in angeborner Sanftmut und Geduld mit den Körben. So fanden wir den Gottesmann. Er ist übrigens ein ehrlicher Schuster aus Syrakus, der drei Söhne erzogen und zur Armee und auf die See geschickt hat. Nach dem Tode seiner Frau, da seine abnehmenden Augen dem Ort und dem Draht nicht recht mehr gebieten wollten, hat ihn der Bischof hierher gesetzt; vielleicht das gescheiteste, was seit langer Zeit ein Bischof von Syrakus getan hat. Die Krypte der Kirche, wo noch Gottesdienst gehalten wird, ist auch schon tief und schauerlich genug. Von den Gemälden in den verschiedenen Abteilungen der Katakomben läßt sich wohl nicht viel sagen; denn sie sind wahrscheinlich meistens neu. Aus einer griechischen Inschrift habe ich auch nichts machen können: das ist indessen kein Beweis, daß es andere nicht besser verstehen. Die Leute fabeln hier, daß diese Katakomben bis nach Katanien gehen; vermutlich weil man ehemals dort auch Katakomben gefunden haben mag. Das ist eben so, als wenn zuweilen der Führer der Baumannshöhle versichert, daß sie sich bis nach Goslar erstrecke.

Der Sommer muß hier zuweilen schon fürchterlich sein; denn Landolina erzählte mir von einem gewissen Südwestwinde, den man il ponente nennt, welcher zuweilen in einem Nachmittage durch seinen Hauch alle Pflanzen im eigentlichen Sinne verbrenne, die Bäume entlaube und den Wein verderbe. Der Sirocko soll ein kühlendes Lüftchen gegen diesen sein: man finde nachher in einem solchen Grade alles verdorret, daß man es sogleich zu Asche reiben könne. Zum Glück sei er nur sehr selten. Auch der Hagel, der hier zuweilen falle, sei so groß und scharf, daß er die Stengel der Pflanzen und die Äste der Bäume nicht zerknicke, sondern zerschneide. Dieses seien die zwei gefährlichsten Landplagen in dem südlichen Sizilien. Die Winter sind gewöhnlich von keiner Bedeutung, nur der vergangene ist etwas hart gewesen, und man hat seit zehn Jahren wieder den ersten Schnee aber auch nur auf einige Stunden in Syrakus gesehen. Ein solcher Tag ist dann ein Fest, besonders für die Jugend, denen so etwas eine sehr große Erscheinung ist. Sonst sieht man den Schnee nur auf den Gipfeln ferner Berge.

Syrakus kommt immer mehr und mehr in Verfall; die Regierung scheint sich durchaus um nichts zu bekümmern. Nur zuweilen schickt sie ihre Steuerrevisoren, um die Abgaben mit Strenge einzutreiben. Es war mir eine sehr melancholische Viertelstunde, als ich mit Landolina oben auf der Felsenspitze von Euryalus saß, der würdige patriotisch eifernde Mann über das große traurige Feld seiner Vaterstadt hinblickte, das kaum noch Trümmer war, und sagte: Das waren wir! und mit einem Blick hinunter auf das kleine Häufchen Häuser: Das sind wir! Ich habe während der vier Tage Umgang mit ihm in ihm einen der reinsten und liebenswürdigsten Charakter gefunden, und er sprach mit schönem Enthusiasmus von seinen nordischen Freunden Münter und Barthels und einigen andern, die ihn besucht hatten, und von Heyne, den er noch nicht gesehen hatte. Syrakus allein hatte ehemals mehr Einwohner, als jetzt die ganze Insel. Nur der dritte Teil der Insel ist bebaut, und dieser ziemlich schlecht. Das habe ich auf meinen Zügen gefunden, und Eingeborne, die zugleich Kenner sind, bestätigen es durchaus. Ehemals schickte man bei der großen Bevölkerung Korn nach Rom, und die Insel wurde für ein Magazin der Hauptstadt der Welt gehalten. Neulich ist man genötiget gewesen, Getreide aus der Levante kommen zu lassen, damit die wenigen ärmlichen südlichen Küstenbewohner nicht Hunger litten. Kann man eine bessere Philippika auf die Regierung und den Minister in Neapel schreiben? Man gibt der physischen Verschlimmerung des Landes durch die Erdrevolutionen vieles Schuld: aber die Berge sind noch alle fruchtbar bis fast an die Spitzen. Wenn man die Gipfel der Riesen, des Aetna, des Eryx, des Taurus und einige Felsenpartien ausnimmt, könnte von allen gewonnen werden, wenn man Arbeit daran wagen wollte. Die Jumarren, diese verschrienen Gegenden, geben reichlich, wenn man fleißig ist. Sizilien ist ein Land des Fleißes, der Arbeit und der Ausdauer. Man will jetzt aber nur da bauen, wo man fast nicht nötig hat zu arbeiten. Es sind freilich wenig große Striche hier, die so schwelgerisch fruchtbar wären wie das Kampanertal: aber es könnte viel schönes Paradies geschaffen werden.

Der Hafen ist fast leer, und ist vielleicht einer der schönsten auf dem Erdboden. Wenn man ein Fort auf Plemnyrium und eines auf Ortygia hat, so kann keine Felucke heraus und hinein. Jetzt kreuzen die Korsaren bis vor die Kanonen. Als im vorigen Kriege die Franzosen Miene machten sich der Insel zu bemächtigen, war hier schon alles entschlossen sich recht tapfer zu ergeben. Man erzählte mir eine Anekdote, die mir unglaublich vorkam; aber sie wurde verschieden im Publikum hier und da wiederholt. Der Gouverneur, um ja durchaus außer Stande zu sein schnell zu handeln, läßt alle Kaliber der Kugeln durcheinanderwerfen und die Munition in Unordnung bringen. Die Franzosen nahmen ihren Weg nach Ägypten und es war weder Gefecht noch Ergeben nötig; die Exzellenz zog sich durch ein sanftes seliges Ende aus allem Verdruß. Hätten die Franzosen ihren Vorteil besser verstanden, anstatt an den Nil zu gehen vorher die Insel anzugreifen; mit zehntausend Mann hätten sie dieselbe mit ihrer gewöhnlichen Energie genommen und mit gehöriger Klugheit auch behauptet. Freilich wären dazu andere Maßregeln nötig gewesen, als ihre Generale und Kommissäre zur Schande der Nation und ihrer Sache hier und da ergriffen haben. Sizilien wäre auch in einem östlichen Kriege ein ganz anderer Zwischenpunkt als Malta: das zeigt die ganze Geschichte und schon ein einziger Blick auf die Insel. – Es kommen jetzt selten Schiffe nach Syrakus. Bloß im vorigen Kriege war es ein Zufluchtsort gegen die Stürme: und dabei hat die Stadt wenigstens etwas gewonnen. Jetzt nach dem Frieden vermindert sich die Anzahl der Ankommenden beständig wieder.

Noch etwas literarisches muß ich Dir doch aus dem südlichen Sizilien melden, damit Du nicht glaubest, ich sei ganz und gar unter die Analphabeten getreten. Landolina läßt jetzt in Florenz eine Abhandlung drucken, in welcher er beweis't, daß der heutige berühmte Syrakuser Muskatenwein der οινος πολλιος oder πολιος der Alten sei. Die klassischen Hauptstellen darüber sind, glaube ich, die Gärten des Alcinous im Homer, und Hesiodus in seinen Tagewerken im sechshundert und zehnten Vers. Im Homer heißt es, daß an den Weinstöcken reife Trauben und grünende und Blüten zugleich gewesen seien, worüber sich unsere Ausleger zuweilen quälen, sagte Landolina. Sie dürften nur die Sache wörtlich nehmen und zu uns nach Syrakus kommen, so könnten sie sich bei der ersten Ernte des Muskatenweins zu Anfang des Juli leicht überzeugen. Aber nur die Muskatentraube hat diese Eigenschaft des Orangenbaums, daß sie reife und unreife Früchte und Blüten zu gleicher Zeit zeigt. Landolina behauptet, diese Traube sei zunächst aus Tarent nach Syrakus gekommen; das mag er beweisen. Dieses alles wird Dir, als einem weingelehrten Manne, weit wichtiger sein, als mir Abaccheuten. Er hat mir noch manche nicht unangenehme philologische Bemerkung über manche griechische Stelle gemacht, für die ihm sein Freund Heyne in Göttingen Dank wissen wird, dem er sie wahrscheinlich auch alle mitgeteilt hat. An der Arethuse kann man freilich manches etwas besser sehen, als an der Leine. Übrigens sagte er noch, daß Homer, der, nach der Genauigkeit seiner Beschreibung zu urteilen, durchaus in Sizilien gewesen sein müsse, vielleicht nicht sonderlich hier aufgenommen worden sei, weil er bei jeder Gelegenheit einen etwas bösartigen Tik gegen die Insel äußere.


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