Johann Gottfried Seume
Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802
Johann Gottfried Seume

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Die Spießbürger von Syrakus lassen sich aber den hübschen Roman nicht so leicht nehmen; und gestern Abend räsonierte einer von ihnen gegen mich bei einer Flasche Syrakuser verfänglich genug darüber ungefähr so: »Wozu soll das Kämmerchen oben gewesen sein? Zum Anfange einer neuen Steingrube, wozu man es gewöhnlich machen will, ist es an einem sehr unschicklichen Orte, und rundumher sind weit bessere Stellen. Die Treppe, welche Landolina selbst entdeckt hat, führt gerade dahin; kann nach der Lage nirgends anders hinführen. Wenn man jetzt oben nichts deutlich mehr hört, so ist das kein Beweis, daß man ehedem nichts deutlich hörte. Die Erdbeben haben an dem Eingange vieles vertrümmert und eingestürzt, also auch sehr leicht die Akustik verändern können. Man sagt, Dionysius habe hier in dieser Gegend der Stadt keinen Palast gehabt. Zugegeben daß dieses wahr sei, so war dieses desto besser für ihn, allen Argwohn seiner nahen Gegenwart zu entfernen. Er konnte deswegen bei wichtigen Vorfällen sich immer die Mühe geben von Epipolä hierher zu kommen und zu hören; ein Tyrann ist durch seine Spione und Kreaturen überall. Dionysius war keiner von den bequemen sybaritischen Volksquälern. Damit leugne ich nicht, daß er draußen in Epipolä noch mehrere Gefängnisse mag gehabt haben: man hatte in Paris weit mehrere, als wir hier in Syrakus.« Ich überlasse es den Gelehrten, die Gründe des ehrlichen Mannes zu widerlegen; ich habe nichts von dem Meinigen hinzugetan. Mir deucht, für einen Bürger von Syrakus schließt er nicht ganz übel.

In dem Vorhofe des sogenannten Ohres treiben jetzt die Seiler ihr Wesen, und vor demselben sind die Intervallen der Felsenklüfte mit kleinen Gärten, vorzüglich von Feigenbäumen, romantisch durchpflanzt. Weiter hin ist ein anderer Steinbruch, der einer wahren Feerei gleicht. Er ist von einer ziemlichen Tiefe, durchaus nicht zugänglich, als nur durch einen einzigen Eingang nach der Stadtseite, den der Besitzer hat verschließen lassen. Von oben kann man das ganze kleine magische Etablissement übersehen, das aus den niedlichsten Partien von inländischen und ausländischen Bäumen und Blumen bestehet. Die Pflaumen standen eben jetzt in der schönsten Blüte, und ich war überrascht hier den vaterländischen Baum zu finden, den ich fast in ganz Sizilien nicht weiter gesehen habe. Er braucht hier in dem heißeren Himmelsstrich den Schatten der Tiefe. Das vorzüglichste, was ich mit Landolina auf diesem Gange noch sah, war ein tief verschüttetes altes Haus, dessen Dach vielleicht ursprünglich sich schon unter der Erde befand. Das Eigene dieses Hauses sind die mit Kalk gefüllten irdenen Röhren in der Bekleidung und Dachung, über deren Zweck die Gelehrten durchaus keine sehr wahrscheinliche Konjektur machen können. Vielleicht war es ein Bad, und der Eigentümer hielt dieses für ein Mittel es trocken zu halten; da diese Röhren vermutlich Luft von außen empfingen und die Feuchtigkeit der Wände mit abzogen. Der enge Raum und die innere Einrichtung sind für diese Vermutung des Landolina. Nicht weit davon ist eine alte Presse für Wein oder Öl in Felsen gehauen, die noch so gut erhalten ist, daß, wenn man wollte, sie mit wenig Mühe in Gang gesetzt werden könnte.

Bei den Kapuzinern am Meere, in der Gegend des kleinen Marmorhafens, sind die großen Latomien, die vermutlich die furchtbaren Gefängnisse für die Athenienser im peloponnesischen Kriege waren. Ich bin einige Mal ziemlich lange darin herum gewandelt. Die Mönche haben jetzt ihre Gärten darin angelegt, aus denen noch eben so wenig Erlösung sein würde. Man könnte sie noch heut zu Tage zu eben dem Behuf gebrauchen, und zehn Mann könnten ohne Gefahr zehntausend ganz sicher bewachen. Der Gebrauch zu Gefängnissen im Kriege mag sich auch nicht auf das damalige Beispiel eingeschränkt haben; dieses war nun das größte, fürchterlichste und gräßlichste. Die Mönche bewirteten mich mit schönen Orangen, und bedauerten, daß die Engländer schon die besten alle aufgegessen und mitgenommen hätten, sagten aber nicht dabei, wie viel das Kloster Geschenke dafür erhalten haben mag; denn man bezahlt gewöhnlich dergleichen Höflichkeiten ziemlich teuer. Hier hat man einen ähnlichen Gang, wie das Ohr des Dionysius; er ist aber nicht ausgeführt worden, weil man vermutlich den Stein zu dem Behufe nicht tauglich fand. Man kann stundenlang hier herumspazieren, und findet immer wieder irgend etwas groteskes und abenteuerliches, das man noch nicht gesehen hat. Wenn man nun die alte Geschichte zurückruft, so erhält das Ganze ein sonderbares Interesse, das man vielleicht an keinem Platze des Erdbodens in diesem Grade wieder findet. Besonders rührend war mir hier an Ort und Stelle die bekannte Anekdote, daß viele Gefangene sich aus der schrecklichen Lage bloß durch einige Verse des Euripides erlös'ten: und mir deucht, ein schöneres Opfer ist nie einem Dichter gebracht worden.

In dem heutigen Syrakus oder dem alten Inselchen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als der alte Minerventempel und die Arethuse. Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Silbe an die alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht gibt. Wenn sie auch nicht vom Alpheus kommt, so kommt sie doch gewiß von dem festen Boden der Insel; und schon dieser Gang ist wundersam genug. Wo einmal etwas da ist, kommt es den Dichtern auf einige Grade Erhöhung nicht an, zumal den Griechen. Ich habe bei Landolina eine ganze ziemlich lange Abhandlung über die Arethuse gesehen, die er mit vieler Gelehrsamkeit und vielem Scharfsinn aus der ganzen Peripherie der griechischen und lateinischen Literatur von den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag zusammengetragen hat. In Sizilien und Italien dankt ihm jetzt Niemand für diese Arbeit: es wäre aber für die übrigen Länder von Europa zu wünschen, daß sie bekannter würde. Vielleicht läßt er sie noch in Florenz drucken. Mehreres davon ist durch seine Freunde schon im Auslande bekannt. Er hat eine Menge sonderbarer Erscheinungen an der Quelle bemerkt, die mit dem Wasser des Alpheus Analogie haben, und die vielleicht zu der Fabel Veranlassung geben konnten. Sie quillt zuweilen rot, nimmt zuweilen ab und bleibt zuweilen ganz weg, daß man trocken tief in die Höhle hineingehen kann; und dieses zu einer Zeit, wo sie nach den gewöhnlichen physischen Wetterberechnungen stärker quellen sollte: sie vertreibt Sommersprossen, welches selbst Landolina zu glauben schien. Durch diese Gabe muß die Nymphe notwendig schon die Göttin der Damen werden. Ähnliche Erscheinungen will man an dem Alpheus bemerkt haben. Nun kamen die Griechen von dort herüber, und brachten ihre Mythen und ihre Liebe zu denselben mit sich auf die Insel; so war die Fabel gemacht: das Andenken des vaterländischen Flusses war ihnen willkommen. Die neueste Veränderung mit der Quelle findet man, deucht mir, noch in Barthels zum Nachtrage in einem Briefe, der höchst wahrscheinlich auch von Landolina ist. Seitdem ist das Wasser süß geblieben, heißt es. Ich fand eine Menge Wäscherinnen an der reichen, schönen Quelle. Das Wasser ist gewöhnlich rein und hell, aber nicht mehr, wie ehemals, ungewöhnlich schön. Ich stieg so tief als möglich hinunter und schöpfte mit der hohlen Hand: man kann zwar das Wasser trinken, aber süß kann man es wohl kaum nennen, es schmeckt noch immer etwas brackisch, wie das meiste Wasser der Brunnen in Holland. Die Vermischung mit dem Meere muß also durch die neueste Veränderung noch nicht gänzlich wieder gehoben sein. Alles Wasser auf der kleinen Insel hat die nämliche Beschaffenheit, und gehört wahrscheinlich durchaus zu der nämlichen Quelle. In der Kirche Sankt Philippi ist eine alte tiefe, tiefe Gruft mit einer ziemlich bequemen Wendeltreppe hinab, wo unten Wasser von der nämlichen Beschaffenheit ist; nur fand ich es noch etwas salziger: das mag vielleicht von der großen Tiefe und dem beständig verschlossenen Raum herkommen. Landolina hält es für das alte Lustralwasser, welches man oft in griechischen Tempeln fand. Sehr möglich; es läßt sich gegen die Vermutung nichts sagen. Aber kann es nicht ebensowohl ein gewöhnlicher Brunnen zum öffentlichen Gebrauch gewesen sein? Er hatte unstreitig das nämliche Schicksal mit der Arethuse in den verschiedenen Erderschütterungen. Man weiß, die Insel machte bei den alten Tyrannen von Syrakus die Hauptfestung der Stadt aus. Man hatte außer der Arethuse wenig Wasser in den Werken. Diese schöne Quelle liegt dicht am Meere und war sehr bekannt. Der Feind konnte Mittel finden sie zu nehmen oder zu verderben. War der Gedanke, sich noch einen Wasserplatz auf diesen Fall zu verschaffen und ihn vielleicht geheim zu halten, nicht sehr natürlich? Ich will die Vermutung nicht weiter verfolgen und ebensowenig hartnäckig behaupten. Das Wasser als Lustralwasser konnte nebenher auch diese politische Reservebestimmung haben.

Als ich hier in der Kirche saß, die eben ausgebessert wird, und den Schlüssel zur erwähnten Gruft erwartete, gesellte sich ein neapolitanischer Offizier zu mir, der ein Franzose von Geburt und schon über zwanzig Jahre in hiesigen Diensten war. Er sprach recht gut deutsch und hatte ehemals mehrere Reisen durch verschiedene Länder von Europa gemacht. Wenn man diesen Mann von der Regierung und der Kirchendisziplin sprechen hörte; man hätte Feuer vom Himmel zur Vertilgung der Schande flehen mögen. Alles bestätigte seine Erzählung, und bösartige Unzufriedenheit und Murrsinn schien nicht in dem Charakter des Mannes zu liegen. Vorzüglich war die Unzucht der römischen Kirche, nach seiner Aussage, ein Greuel, wie man ihn in dem weggeworfensten Heidentum nicht schlimmer finden konnte. Blutschande aller Art ist in der Gegend gar nichts ungewöhnliches und wird mit einem kleinen Ablaßgelde nicht allein abgebüßt, sondern auch ungestraft fortgesetzt. Der Beichtstuhl ist ein Kuppelplatz, wo sich der Klerus für eine gemessene, oft kleine Belohnung sehr leicht zum Unterhändler hergibt, wenn er nicht selbst Teilnehmer ist. Wer profane Schwierigkeiten in seiner Liebschaft findet, wendet sich an einen Mönch oder sonstigen Geistlichen, und die ehrsamste, sprödeste Person wird bald gefällig gemacht. Der Mann sprach davon dem Altar gegenüber wie von gewöhnlichen Dingen, die jedermann wisse, und nannte mir mit großer Freimütigkeit zu seinen Behauptungen Namen und Beispiele, die ich gern wieder vergessen habe. Ich erzähle die Tatsache, und überlasse Dir die Glossen.

Minerva hat in ihrem Tempel der heiligen Lucilie Platz machen müssen. Man hat das Gebäude nach der gewöhnlichen Weise behandelt, und aus einem sehr schönen Tempel eine ziemlich schlechte Kirche gemacht. Das Ganze ist verbaut, so daß nur noch von innen und außen der griechische Säulengang sichtbar ist. Das Frontespice ist nach dem neuen Stil schön und groß, sticht aber gegen die alte griechische Einfachheit nicht sehr vorteilhaft ab.

Bald wäre ich heute unschuldiger Weise Veranlassung eines Unglücks geworden. Ein Kastrat, der in der Kathedralkirche singt und nicht mehr als sechszig Piaster jährlich hat, war mein Gast in dem Wirtshause, weil er sehr freundlich war und ein sehr gutmütiger Kerl zu sein schien. Ein Geiger, sein Nebenbuhler, neckte ihn lange mit allerhand Sarkasmen über seine Zutulichkeit, und kam endlich auch auf einen eigenen eigentlichen topischen Fehler seiner Natur, an dem der arme Teufel wohl ganz unschuldig war, da ihn andere vermutlich ohne seine Beistimmung an ihm gemacht hatten. Darüber geriet das entmannte Bild plötzlich so in Wut, daß er mit dem Messer auf den Geiger zuschoß und ihn erstochen haben würde, wäre dieser durch die Anwesenden nicht sogleich fortgeschafft worden. Auch der Sänger konnte die Ärgernis durchaus nicht verdauen und entfernte sich.


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