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Der Buckelbär aber war beständig auf der Hut und immer bereit, davonzulaufen; er wechselte häufig seinen Aufenthaltsort und machte alle möglichen Winkelzüge, um ein Zusammentreffen zu vermeiden, das für ihn augenblicklichen Tod bedeuten mußte. So manches Mal beobachtete er von einem Versteck aus den großen Bären und zitterte bei dem Gedanken, daß der Wind ihn verraten könnte. Verschiedene Male rettete ihn nur seine Unverfrorenheit, und mehr als einmal war er in einem Sackcañon gefangen, wo er einmal nur dadurch entwischte, daß er sich mühsam durch eine enge Spalte zwängte, die Wahbs mächtigen Körper nicht mehr durchließ. Aber immer fuhr er mit wahnsinniger Hartnäckigkeit fort, die Bäume noch weiterhin im Revier in seiner Weise zu zeichnen.
Schließlich witterte er auch das Schwefelbad und suchte es auf. Die Sache war ihm unverständlich, denn für ihn persönlich hatte das Wasser keinerlei Reiz, aber da waren viele Spuren vom Eigentümer. Von Übermut und Zerstörungssucht getrieben, kratzte der Buckelbär schlammige Erde in die Quelle, und als er dann den Reibebaum sah, stellte er sich auf die nahe Felsleiste und vermochte nun, von der Seite her seine Marke ganze fünf Fuß über Wahbs Höhenzeichen anzubringen. Hierauf sprang er aufgeregt von der Leiste herab, rannte hin und her, besudelte das Bad und spähte dabei immer ängstlich das Tal hinab. Jetzt hörte er im Walde unten ein Geräusch. Der Lärm kam näher, und der Wind bestätigte ihm seinen Verdacht, daß der Alte im Anzuge sei; da wandte er sich erschreckt und floh in den Wald.
Es war Wahb. In letzter Zeit war es mit seiner Gesundheit bergab gegangen, seine alten Schmerzen peinigten ihn wieder und hatten nicht nur sein Hinterbein, sondern auch seine rechte Schulter ergriffen, in der noch zwei Flintenkugeln steckten. Er fühlte sich sehr krank, und die Schmerzen krümmten ihm die Glieder. Zuckend und hinkend kroch er die wohlbekannte Böschung empor, dann bekam er Witterung von seinem Feinde. Er sah auch die Spur im Schlamm, seine Augen sagten ihm, das sei die Spur eines kleinen Bären, aber seine Augen waren jetzt schwach, und seine Nase, seine unfehlbare Nase sagte ihm: »Das ist die Fährte des riesenhaften Eindringlings.« Nun bemerkte er auch den Baum mit seinem Zeichen daran, und da war außer jedem Zweifel die Marke des Fremden weit über seiner eigenen. Darüber waren seine Augen und Nase einig; und mehr noch, sie sagten ihm, sein Feind sei ganz in der Nähe und könne jeden Augenblick kommen.
Wahb fühlte sich krank und schwach vor Schmerzen; er war nicht in der Stimmung, sich jetzt in einen verzweifelten Kampf einzulassen. Es wäre Tollheit gewesen, unter diesen Umständen es mit einem solchen Feind aufzunehmen. So wandte er sich, ohne von der Schwefelquelle Gebrauch zu machen, und trottete an der Felsenbank entlang davon in einer Richtung, die der vom Fremden eingeschlagenen entgegengesetzt war. Es war das erstemal seit seiner Jugend, daß er einem Kampfe auswich.
Das war ein Wendepunkt in Wahbs Leben. Wäre er dem Fremden gefolgt, so hätte er die erbärmliche kleine Memme zitternd niedergedrückt und vor Angst halbtot in einer natürlichen Falle gefunden, d. h. in einer nur fünfzig Meter entfernten, rings von hohen Felswänden umschlossenen Klinge, und er würde ihn sicher vernichtet haben. Hätte er nur wenigstens sein Bad genossen, so wären ihm sicher Kraft und Mut wiedergekommen, und wenn nicht, so wäre er im Laufe der Zeit doch einmal auf seinen Feind gestoßen, und sein weiteres Leben hätte einen anderen Verlauf genommen. Hier war er am Scheidewege seines Lebens, aber wie sollte Wahb das wissen?
Er hinkte fort bei den Ausläufern des Shoshonegebirges vorüber und gelangte bald zu dem schauerlichen Geruch, den er seit Jahren gekannt hatte, dem er aber niemals nachgegangen und dessen Bedeutung ihm unbekannt war. Sein Weg führte gerade dort vorüber, und er folgte ihm bis zu einer kleinen öden Schlucht, die mit Skeletten und dunklen Gegenständen bedeckt war. Als Wahb vorüberging, kam ihm die Witterung von einer großen Anzahl verschiedener Tiere, und seine Geruchsnerven sagten ihm, daß sie in dieser baum- und strauch- und graslosen Höhle tot dalagen. Denn am oberen Ende befand sich ein Spalt in den Felsen, von dem ein tödliches Gas ausströmte; unsichtbar, aber schwer floß es in die kleine Bergschlucht wie in einen bis zum Rand gefüllten Giftbecher, und am unteren Ende quoll es beständig über. Aber Wahb wußte nur, daß ihn die herausfließende Luft, als er vorüberging, schwindlig und schläfrig machte und ihn abstieß, so daß er sich schnell davonmachte und froh war, als ihm der Wind wieder belebende Bergluft um die Nase wehte.
Nachdem Wahb einmal gekniffen hatte, war es nur allzu leicht, es das nächstemal ebenso zu machen, und die Folgen waren doppelt verhängnisvoll. Denn seit er dem großen Fremdling den Besitz der Schwefelquelle nicht streitig gemacht hatte, fühlte sich Wahb nicht mehr geneigt, dorthin zu gehen. Manchmal beseelte ihn noch etwas von seinem früheren Mute, wenn er auf die verhaßten Spuren seines Feindes stieß. Dann erhob er grollend das alte Donnergebrüll und folgte schwerfällig und schmerzgeplagt der Fährte, um die Sache auf der Stelle ein für allemal abzumachen. Aber niemals konnte er den geheimnisvollen Riesen einholen, und sein Gliederreißen, das jetzt schlimmer wurde, weil ihm die Heilwirkung des Schwefelbades versagt blieb, machte ihn jeden Tag unfähiger zum Laufen wie zum Kämpfen.
Manchmal spürte Wahb die Annäherung seines Feindes, wenn er gerade eine für den Kampf ungünstige Stelle einnahm, und ohne gerade davonzulaufen, gab er doch dem Wunsche nach, eine günstigere Lage abzuwarten, wo die Waffen gleich verteilt wären. Diese günstigere Lage brachte ihn nie dem Feinde näher, denn, wie man weiß, hat der den Vorteil, der abwartet.
An manchen Tagen fühlte sich Wahb so übel, daß es Wahnsinn gewesen wäre, in einem Kampfe alles aufs Spiel zu setzen, und wenn er sich dann wieder wohl oder doch ein bißchen besser befand, schien sich der Fremde fernzuhalten.
Bald fand Wahb heraus, daß die Fährte des Fremden am häufigsten am Warhouse und am westlichen Abhang des Fichtenflusses, den besten Futterplätzen, anzutreffen war. Daß er diese Plätze vermied, wenn ihm nicht kampflustig zumute war, ist nicht zu verwundern, und da er jetzt fast immer Schmerzen litt, bald mehr, bald weniger, so bedeutete das nichts anderes, als daß er von nun an dem Fremden den besten Teil seines Reviers fast völlig überließ.
Wochen vergingen. Wahb gedachte wohl ein paarmal, zu seinem Bad zurückzukehren, aber er tat es nie wieder. Seine Schmerzen verschlimmerten sich, die rechte Schulter wie das linke Hinterbein versagten in gleicher Weise.
Die lange Spannung des Wartens und der Bereitschaft auf den Kampf führte zu Ängstlichkeit, und diese wuchs sich zur Furcht aus, die ihm mit dem gleichzeitigen Sinken der Kraft den Mut brach, wie es gar nicht anders sein kann, wenn der Mut auf der Muskelstärke beruht. Jetzt war es nicht seine tägliche Sorge, wie er den Eindringling treffen und bekämpfen könnte, sondern wie er ihm ausweichen sollte, bis er sich wohler fühlte.
Aber aus diesem zeitweiligen Rückzug wurde ein langwährender. Wahb mußte den Fichtenfluß immer tiefer hinabsteigen, um ein Zusammentreffen zu vermeiden. Sein Ernährungszustand wurde täglich schlechter, und nach Verlauf von einigen Wochen schwand auch von Tag zu Tag für ihn die Aussicht mehr, aus einem Kampfe siegreich hervorgehen zu können.
Er lebte schließlich möglichst versteckt und verborgen am Ufer des unteren Fichtenflusses, an demselben Platz, wo seine Mutter ihn einst samt seinen kleinen Geschwistern zur Welt gebracht hatte. Und das Leben, das er jetzt führte, war dem sehr ähnlich, das ihm nach jenem Tage des Unheils beschieden war. Vielleicht aus demselben Grunde. Wenn er eine eigene Familie gehabt hätte, so wäre die Sache wohl ganz anders gewesen. Als er eines Morgens daherhinkte und unter den unfruchtbaren Espenständen nach ein paar Wurzeln suchte oder nach ein paar wurmigen Rebhuhnbeeren, die in ihrer Dürftigkeit vom Eichhorn und der Wildgans verschmäht worden waren, hörte er am westlichen Abhang einen Stein in den Wald hinabpoltern, und kurz darauf kam mit dem Wind die gefürchtete Witterung. Er watete durch den eiskalten Fichtenfluß – wie wäre er einst hindurchgesprungen! – und das eisige Wasser jagte ihm in und durch jedes haarige Glied Schauer und Schmerzen, die ihm an das Herz zu greifen schienen. Er war wieder auf dem Rückzug – aber wohin? Nur ein Weg schien ihm jetzt offen zu stehen: zur Viehfarm hin.
Aber schon lange, ehe er nahe genug war, von dem Hause gesehen zu werden, kamen von dort beunruhigende Meldungen. Seine Nase, sein treuester Freund, sagte: »Kehr' um, kehr' um und flüchte in die Berge!« Und er kehrte um, selbst auf die Gefahr, dort seinen schrecklichen Feind zu treffen. Unter Schmerzen humpelte er an der nördlichen Böschung des Fichtenflusses dahin, möglichst von überhängendem Erdreich gedeckt oder unter Bäumen. Er wollte einen steilen Felsen erklettern, den er sonst oft in eiligen Sätzen hinaufgesprungen war, aber in halber Höhe gab sein stemmender Fuß nach, und er rollte hinab auf den Grund. Nun blieb ihm nur ein langer Umweg übrig, denn vorwärts mußte er – weiter – weiter. Aber wohin? Es schien jetzt nichts übrig zu bleiben, als das ganze Revier dem furchtbaren Fremden zu überlassen.
Und in dem Gefühl, soweit ein Bär fühlen kann, daß er gefallen, geschlagen, entthront, daß er von einem ihm überlegenen Bären aus seinem alten Gebiet vertrieben sei, wandte er sich der westlichen Kette zu, und damit war der Würfel gefallen. Stärke und Schnelligkeit waren von seinen einst so machtvollen Gliedern gewichen; er brauchte dreimal so viel Zeit wie sonst, um jeden wohlbekannten Bergrücken zu überschreiten, und beim Gehen blickte er von Zeit zu Zeit um, ob er verfolgt werde. Dort oben in der Ferne winkten die Shoshonenberge, bleich, unnahbar; dort gab's keine Feinde, und dahinter lag der Park – vorwärts muß er, vorwärts. Aber wie er da mit schwankenden Gliedern und unsichern kurzen Schritten emporklimmt, bringt ihm der Westwind den Geruch von der Todeskluft, dem entsetzlichen kleinen Tal, wo alles tot ist, wo sogar die Luft den Tod bringt.
Sonst schreckte es ihn ab und trieb ihn weg, aber nun war es Wahb, wie ehemals beim Schwefelbad, als sei das eine Botschaft für ihn, und er fühlte sich davon angezogen. Es lag auch in der Richtung seiner Flucht, und langsam humpelte er dem Platze zu. Er kam näher und näher, bis er auf der Felsleiste am Eingang stand. Ein Geier, der hinabgestiegen war, um an einem der Opfer zu schmausen, war eben auf dem unberührten Körper im Einschlafen. Wahb schwang seine große graue Schnauze und seine lange weiße Mähne im Winde. Der Geruch, den er einst verabscheut hatte, erschien ihm jetzt anziehend. Es war etwas sonderbar Beißendes in der Luft. Sein Körper lechzte danach. Denn es schien ihm den Schmerz zu nehmen und verhieß ihm Schlaf, wie an dem Tage, da er zum erstenmal hierher gekommen war.
Fern unter ihm, zur Rechten wie zur Linken und immer weiter hinaus, soweit das Auge reichen konnte, lag das große Königreich, das einst sein gewesen war, wo er viele Jahre im Glanze seiner Stärke gelebt, wo keiner gewagt hatte, ihm Auge in Auge gegenüberzutreten. Auf der ganzen Erde hätte man keinen schöneren Blick finden können. Aber Wahb hatte keinen Gedanken für die Schönheit; er wußte nur, daß es ein Land war, in dem man gut leben konnte, daß es sein gewesen war, daß es jetzt aber dahin war, denn seine Kraft war geschwunden, und er war auf der Flucht und suchte eine Stelle, wo er ruhen und in Frieden sein konnte.
Fernhin hinter den Shoshonen ja, da führte der Weg in den Park, aber es war weit, weit weg, und zweifelhaft war das Ende des langen zweifelhaften Marsches. Doch warum in die Ferne? Hier in dieser kleinen Schlucht war alles, was er suchte; hier war Frieden und schmerzloser Schlaf. Er wußte es, denn seine Nase, seine niemals fehlgehende Nase, sagte: »Hier, hier jetzt!«
Einen Augenblick machte er am Eingang halt, und als er dastand, begannen die vom Wind getragenen Dünste leise zu wirken. Fünf treue Hüter hatte er im Leben gehabt, und nun ließ der beste und treueste von ihnen allen ihn im Stich. Noch einen Augenblick stand Wahb im Zweifel. Der ihn sein Leben lang geführt hatte, der schwieg nun und hatte seinen Posten im Stich gelassen. Aber einen andern Sinn fühlte er inwendig. Der Tod stand winkend da in dem kleinen Tale. Wahb verstand nicht. Er hatte keine Augen für die Träne in dem Antlitz des Todes, noch sah er das mitleidsvolle Lächeln, das sicher auf seinen Lippen schwebte. Er konnte auch nicht den Tod sehen. Aber er fühlte, wie er winkte, immer winkte.
Ein Ansturm seines alten Mutes erhob sich in des Grislys zottiger Brust. Er wandte sich seitwärts in die kleine Schlucht hinein. Die tödlichen Dämpfe drangen ihm in die gewaltige Lunge, füllten sie ganz und prickelten ihm in den riesigen herkulischen Gliedern, als er sich ruhig auf den pflanzenleeren Felsenboden legte und so sanft einschlummerte wie vor langen Jahren in den Armen seiner Mutter am Graybull.