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Lieber Paul Steegemann, obwohl ich die Bücher Ihres Autors Walter Serner sehr schätze, war ich, als Sie mir schrieben, ihn gelegentlich meines kurzen Aufenthaltes in Genf interviewen zu wollen, sofort entschlossen, dies nicht zu tun. Ich habe ihn vor acht Jahren kennen gelernt und so unsympathisch gefunden, daß ich Überzeugt war, ich würde ihn auch jetzt nicht sympatischer finden können. Der Zufall aber wollte es, daß ich ihm auf der Straße begegnete. Sein Anblick machte mich nun doch neugierig und ihre Bitte half nach: ich sprach ihn an und hier mögen Sie als Monolog lesen, was er mir auf meine Fragen hin und oft auch spontan, manchmal sogar wörtlich sagte:
»Sie wollen wissen, ob ich meine Bücher für Dichtung halte? Keineswegs. Dichtung ist und bleibt ein, wenn auch höherer, Schwindel. Ich lege Wert darauf, das zum ersten Mal ausgesprochen zu haben. Menschen gestalten, heißt: sie fälschen. Es gibt so wenig geschlossene oder intelligible Charaktere, wie es Wahrheit gibt. Alles ist stets im Fluß. Gestalten aber schafft Umrisse, in die es hineinerklärt und Positives festzulegen meint. Das ist Tüchtigkeit, Kunst, Mumpitz. Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß die Menschen meiner Bücher, wie lebendig und echt sie auch auf sie gewirkt haben mögen, hinterher Ihnen doch gleichsam zwischen den Fingern zerrinnen? Sie bekamen kein festes Bild von ihnen, nur scharfe Deteilaufnahmen, die dem Zeitraum einer Stunde oder weniger Wochen angehören und diese prägnant illustrieren. Darüber hinaus vermögen Sie sich von diesen Menschen schon keine Vorstellung mehr zu machen. Darauf kommt es mir an. Darauf allein sollte es überhaupt ankommen. Und deshalb lehne ich für meine Bücher das Rubrum »Naturalismus« ab, der, mag er noch so getreu das Leben abschreiben, ja doch nur Gestaltung von allen Seiten her ist. Die Plastik, die er schafft, ist denn auch so langweilig und belanglos wie die Plastik überhaupt. Wenn ich gezwungen wäre, ein Rubrum anzunehmen, so würde ich »Verismus« wählen, besser noch: Sincerismus. Denn alle meine Bücher setzen sich lediglich aus Detailaufnahmen zusammen, durch die ein aufrichtiger Zustand erhellt wurde. Nebenbei: ein aufrichtiger Zustand ist noch lange kein wahrer. Er zeigt lediglich das Chaos oder den Menschen im Angriff dagegen und ist immer furchtbar und tragisch, auch wenn er grausam, zynisch oder witzig ist. Dieses Erhellen gelingt leider nicht allzu oft, meist nur in Etappen. Daher meine Vorliebe für kurze Geschichten und Episoden. Daher das Fehlen der üblichen »durchgehenden Tendenz« in meinem Gaunerstück »Posada«, das viele zu meiner großen Überraschung für parodistisch gehalten haben. Dort, wo dieser Irrtum nicht auf flüchtigem Lesen beruhte, war es wohl Mangel an Erfahrung: in den Verbrecherkreisen der ganzen Welt ist nämlich der herrschende Umgangston fast nur auf Spott, Selbstironie, Witz und Zote gestimmt. Auch lehrt die Gerrichtssalrubrik jeder Zeitung, wie oft irgenwo Leichen herumliegen. Freilich werden dazu keine Eintrittskarten ausgegeben. Ob ich da überall persönlich vorgesprochen habe? Ihr Hohn ist ebenso berechtigt wie der leidenschaftliche Wunsch vieler meiner Leser nach Gewißheit darüber, ob ich meine Bücher erlebt habe oder erfunden. Beide Reagenzen sind für mich leider der Beweis, daß es nicht genügt, aufrichtig zu sein. Man muss sich auch dokumentieren. Die Wahrheit ist heutzutage schon so oft erfunden worden (ich kenne keine blödere ästhetische Formel), daß auch die Aufrichtigkeit nicht mehr geglaubt wird. Es gibt kein treffenderes Beispiel als Casanovas Memoiren, die jahrzehntelang nach ihrem Erscheinen von aller Welt für eine geschickte Aufschneiderei gehalten wurden. Bis deutsche Germanisten auf die Reise gingen und sie dokumentierten. Nun, ich kann Ihnen versichern, daß der Inhalt meiner Bücher zu dokumentieren ist. Sie sind Memoiren, denen der begreifliche Zwang, Namen und akute Dinge zu ändern, Reihenfolgen, Zusammenhänge und Konsequenzen zu verbergen, keinen andern Abbruch zu tun vermag als den, die Dokumentierung zu erschweren. Dieser Zwang hat allerdings auch einen nicht unbeträchtlichen Nachteil: er bietet eine solide Basis für die wildesten Legendenbildungen, die eigenartiger Weise gerade dort einhackten, wo ich nicht Akteur war, sondern Zuhörer. Sie finden, daß jene Änderungen den viel größeren Fehler haben, unwahrscheinlich zu wirken? Sie wollen damit sagen, daß meine Geschichten zu pointiert, zu spannend sind, um letzthin aufrichtig sein zu können. Nun, ist es da nicht geradezu grotesk, daß am häufigsten jene Spannungen und Pointen angezweifelt wurden, die ich völlig unverändert gelassen hatte, und just jene, die ich, aus parallelen Fällen übernehmend, in die meinen eingesetzt hatte, als ganz besonders lebenswahr bezeichnet wurden? Das beweist zwar alles für die saubere Hand des Einsetzers, aber sehr wenig für das unbeirrbare Lebensgefühl des Lesers. Hinzukommt, daß die wunderbarsten Pointen des Lebens, seine unwahrscheinlichsten Spannungen in dermaßen weiten Abständen, mit solch unglaublicher Plötzlichkeit sich ereignen, daß ihre Wiedergabe, soll sie wirklich kongruent bleiben, große Verkürzungen und Konzentrierungen fordert. Das sei also doch Kunst? Nein. Das ist eine Frage der Geschicklichkeit und des Geschmacks für die Wirklichkeit. Und cum grano salis: der Horror davor, langweilig zu sein, belanglos. Es genügt, nicht auf Kosten der Aufrichtigkeit – unlangweilig zu sein. Zu literarisch, zu spitzfindig, was ich Ihnen da sage? Ich bin mir wohl bewußt, nichts Endgültiges, nichts Alles-Überragendes geschrieben zu haben. Denn ich sträube mich nicht nur dagegen, Kunst zu machen, sondern auch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Was ich für mich beanspruche, ist: daß kein lebender deutscher Autor so aufrichtig ist wie ich. Deshalb bin ich ja doch auch so verhaßt. Niemand läßt sich gerne die Maske, die seine Eitelkeit ihm fabriziert hat, vom Gesicht reißen. Man behauptet dann, die Hand, die riß, sei schmutzig gewesen, hätte durch einen taschenspielerischen Griff die Maske beigebracht und überhaupt wäre ich noch gar nicht in Barcelona gewesen. Sie lachen. Aber ist es nicht wirklich so? Welche Stadt ich am meisten liebe? Berlin. Das mir sogar, im allgemeinen, besser gefällt als Paris. Im übrigen halte ich Genf für die schönste Stadt der Welt. Wenn sie noch ein wenig belebter wäre, wäre sie fehlerlos.«
Sie sehen, lieber Paul Steegemann, ich bin ein anständiger Mensch. Ich hasse die Interviewer, die Ihr Opfer als eine Gelegenheit betrachten, ihre Gesprächstriumphe, die meist gar nicht stattfanden, auszuposaunen. Ich habe mich redlich bemüht, Ihrem Autor das Wort zu lassen und so, wie er es gesagt hatte; und vor allem, ohne seine Absichten wegzuretouchieren. Deshalb habe ich nun auch das Recht, Ihnen zu sagen, daß Walter Serner mir die Kunst nicht zerschlagen hat. Und daß er, wiewohl er mir als Sprechender nicht weniger schätzenswert erschien als als Schreibender, im allgemeinen mir nicht sympathischer wurde als ehemals. Woran das liegt? Zum Teil an seinem Äußern. Er ist mir immer noch in einer zu südländischen Weise elegant. Das dürfte einer der Gründe sein, warum er in Deutschland unbeliebt ist. Viel mehr Glück dürfte er in Italien und Spanien haben. Das Unsympathischste aber an ihm ist die konstante Aggressivität seiner Stimme und sein kaum verhaltener Hochmut. Auch hierin hat er sich nicht geändert. Das beweist mir, daß nicht das Leben, das er als Mann führte, ihn in diese Haltung drängte, sondern seine Anlage. Schade. Denn er hätte das Zeug dazu, mehr zu sein als ein brillierender Outsider. Und noch etwas, um der Wahrheit die Ehre zu geben, oder à la Serner, um seinen Sincèrismus zu huldigen: er wirkte zwar auf mich durchaus nicht dämonisch oder so, aber er ist immerhin so sehr seine eigene Dokumentierung, daß er, wenn er im Romanischen Café säße, von jedem unbefangenen Auge als derjenige erkannt werden würde, der am wenigsten mit Literatur zu tun hat. Seien Sie bestens gegrüßt, lieber Paul Steegemann, und bedanken Sie sich schön, wenn ich zurückkomme.
Ihr
A. D.