Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf dem Rummelplatz

Sikora, der die Lange Pannekoekstraat dahergeschlendert kam, blieb auf dem Nieuwe Markt beim Anblick der bunten Zelte erstaunt und erfreut zugleich stehen. Und als nun gar ein echter Jazz-Band loshämmerte, legte er die Hände langsam auf die Hüften, hob seinen Unterleib unternehmungslustig aus der Hose und setzte sich, den schmetternden Klängen zu, in Bewegung. Und bald gerieten seine Beine in verheißungsvolles Wiegen, fühlte er doch nichts Geringerem sich entgegengetragen als dem Ziel der heißen Wünsche von zwanzig einsamen Nächten, zu denen, von anderen Miseren ganz zu schweigen, der Mangel an Gelegenheiten ihn verurteilt hatte.

Sikora sog an sämtlichen Fingern, so sicher war er bereits, daß ihm binnen kurzem nicht nur ein blondes Liebchen sich präsentieren würde, sondern auch eine Möglichkeit, seine Finanzen durch einen kühnen Griff in eine fremde Tasche aufzubessern. Das grelle Azetylen-Licht und das biedere Tanzvolk ließen ihn jedoch seine Wünsche als unrealisierbar erkennen: hier tanzten fast nur anständige Mädchen mit Ladenangestellten oder Gesellen und die paar unscheinbaren Huren, die er agnoszierte, waren mehr Konkurrenz als Opfer. Sikora mußte seinen kühnen Griff als unlukrativ unterlassen und, solange er in seiner schäbigen Joppe steckte, jede amouröse Annäherung als aussichtslos. Schon wollte er voll Galgenhumors im Schwung kehrtmachen, als eine mollige Blondine an ihm vorübertanzte, die ihrem Partner, dem die Kräfte zu versagen begannen, mit der Faust spottend auf den Rücken schlug: »Du bist a Held! Wie kann aner nur so schwitzen!«

»Seit zwa Stunden tanz i«, entschuldigte sich ihr Tänzer, »und seit aner mit Ihnen.«

Sikora, dem eine Gelegenheit zu winken schien, reckte sich auf den Fußspitzen höher, ließ sich aber wieder auf die Fersen nieder, als ihm einfiel, wie sehr unwahrscheinlich es war, daß der junge Mann eine Tänzerin, mit der er seit einer Stunde walkte, so ohne weiteres abgeben würde. Da tanzte das Paar neuerdings an ihm vorbei, der konstatierte, daß, wenn man in der Mitte der Tanzenden sich hielt, es gar nicht so leicht wäre, die Qualität eines Anzuges zu bestimmen. Dann starrte er auf das rot durchflochtene Blond der Partnerin, ihre vollen glühenden Lippen, die glatt gespannten pfirsichfarbenen Wangen und die großen dunkelblauen Augen und rollte, wie von tausend Insekten gestochen, die Schultern: »Kruzitürkenüberanander, das is a Weiberl!« Doch da war es seinen Blicken schon wieder entschwunden.

Sich auf die Zunge beißend, marschierte Sikora längere Zeit auf demselben Fleck. Diese kaum hoffnungsvolle Meditation wurde einige Male von dem an ihm vorübertanzenden Paar angenehm unterbrochen. Beim vierten Mal glaubte er deutlich wahrzunehmen, daß der Held die nächsten Takte schwerlich würde durchhalten können. Und da sah er ihn auch schon innehalten, den Schweiß sich von der Stirn wischend und gänzlich außer Atem; sie, ihm mit höhnischem Lächeln und zweifellos ebensolchen Worten Rippenstöße verabreichend.

Sikora sah blond. Nur blond. Magnetisch zog es ihn hin. Und er wußte wirklich nicht recht, wie es zugegangen war, daß er bereits an das Hinterteil seines allerdings noch fiktiven Nebenbuhlers stieß. Aber als er nun wieder die großen dunkelblauen Augen erblickte, die ihm zuzulächeln schienen, als er die vollen roten Lippen schimpfen hörte: »Ach, das is aber blöd, daß Sie net mehr könner, Sie Krischbindl, jetzt find i kan Tänzer mehr«, da ergriff er die Bicepse des vor ihm Stehenden, stellte jubelnd fest, daß sie den seinen ganz enorm unterlegen waren ... und schon stieß er den jungen Mann mit aller Kraft zur Seite und versetzte ihm eine knallende Ohrfeige, Stolz schwellten sich seine Lungen, als er die zwischen Entsetzen und Wohlgefallen einherfliegenden Augen seiner Auserkorenen sah und die völlige, sichtlich dem Irrsinn sich nähernde Verstörtheit des so verblüffend Gezüchtigten.

Die drei bildeten in dem um sie her brandenden Gewoge eine seltsam starre Insel des Schweigens. Sikora wurde es jedoch schnell klar, daß, wenn er noch länger schwieg, die Situation leicht zu seinen Ungunsten sich verändern könnte. Er mußte unter allen Umständen etwas sagen: erklären, schimpfen, verleumden. Schon öffnete sich sein Mund: die Lügen kamen ihm ganz von selber, wenn er in wartende neugierige Augen blickte; und nun gar in solche, groß und dunkelblau. »Patton, gnä Fräuln, i hab net anders könner. Aber Sie wissen sicher net, was für a saubers Bürscherl der Haderlump da is.« Er streifte den also Beschimpften kurz mit einem Blick, um die Wirkung zu überprüfen. Gekränkte Unschuld vermochte ja ungeahnte Kräfte zu verleihen, selbst einem im allgemeinen bereits Erschöpften. Dieser aber empfand, was wohl der Mehrzahl der jungen Männer in diesem Fall widerfahren wäre, ein dumpfes Schuldgefühl, das durch das energische Auftreten seines Beleidigers nur noch wuchs. Sein Blick wich zur Seite. Das genügte Sikora: »So a Platterer, so a lumpiger! So a Fallott, so a ölendiger!« Er hob, enthusiasmiert von der dunklen Fülle seiner eigenen Stimme, die Hand hoch, ließ sie aber wieder sinken, als der derart neuerlich Bedrohte einen Schritt zurückwich, einer Tänzerin auf den Fuß trat und von deren Partner sich im Rücken bedrängt sah.

»Segns es, das schlechte Gwissen? Ausreißen tuat er, das Quisiquasi-Gsichterl! Halt die Pappen!« brüllte Sikora plötzlich, obwohl der mit der Beschwichtigung seines zweiten Angreifers Beschäftigte rein technisch ihm gar nicht hätte widersprechen können. »Und mit so an Latsch ham Sie a ganze Stund lang umanandatanzt?«

»Sie wem glei ane fangen. Könnt mir passen! Seit zehn Minuten plag i mi mit eahm.«

Da sein Opfer bereits vom Strudel der Tanzenden etliche Meter weggeschwemmt worden war und fast schon außer Sichtweite, stieß Sikora hervor: »Lassens ihn laufen, den Safaladi-Kavalier!« Er packte den Arm seiner Erkämpften und drängte sie, die, unter dieser Eigenmächtigkeit plötzlich erbosend, mit Händen und Füßen wild um sich schlug, aus dem Gewühl vor einen Lebkuchenstand, wo er einen halben Gulden, den Rest seiner Barschaft, auf den Zahlteller legte und, ohne hinzublicken, seine offene Hand daneben. »So a Rauferei macht an Hunger.« Er blickte, dem es auf eine Ungenauigkeit mehr nicht ankam, lächelnd und selbstsicher auf den Bauch seiner Holden. »Bitt schön, bedienens sich. Wie heißens denn?«

»Sophie Peereboom. Aber das geht Ihnen an Knaatsch an.«

»Ja, was war denn jetzt das?«

Sophie schlug ihre Zähne in das Lebkuchenherz und riß es sich vom Mund. »Mei Vatter war halt a Wiener Holländer.«

»Und nachher sans daherkommer nach Rotterdam, um Herzen z'fressen.«

»I freß kane als solchene da. Hab niemanden hergrufen, Sie Drischl.« Den Mund halb voll, ließ Sophie sich herbei, Wohlgefallen zu äußern: »Aber neinpfeffert hams ihm a ganz feste. Für gwöhnlich war er gar net so a Pupperl.«

Sikora litt unter dieser Einschränkung einigermaßen, erkannte aber, daß es nun galt, das bloß lädierte Bild seines Nebenbuhlers gänzlich entzweizuschlagen. »Das glaub i, daß der tepperte Krowot net aso war.«

»Wie war er denn? Warum hams es ihm denn so gebn?«

Sikora wand sich wie einer, der es vermeiden möchte, einen schwer verletzten Gegner weiter zu bekämpfen. »Liegt Ihnen denn gar aso viel an dem Saumagen?«

»Wenn der wüßt, wie er mir Wurscht war!« Sophie bohrte ihm die Faust auf den Nabel. »No also, was is?«

Sikora, jenes mit Recht bezweifelnd, hielt es nun für unvermeidlich, ihn endgültig niederzuschlagen. »Von mir aus! I hab ganz zufällich sa Bekanntschaft gmacht. Wenn ma das überhaupt aso heißen kann. I bin halt grad dazukommer, wie ers gmacht hat. Im Café Het Westen am Binnenweg.«

»Gehns da öfter hin?« Sophie, schon an sich denkend, lächelte.

»A Zeitlang war i Jeden Tag dort.« Sikora hatte jenes Lokal allerdings nur renomméehalber genannt. »Also, i hab mi grad hingsetzt ghabt und bstellt. Da seh i, wie aner am Tisch vor mir ... die ane Hand hat auf der Hüften von an Weibsbild ghabt ...«

»Wars hübsch?«

»Die – und hübsch! A alter Landauer wars, a ganz an ausgfahrener. Aber scho a sehr a hohe Vierzicherin. Und hergricht, daß aner Sau hätt grausen könner.« Sikora belächelte ihr Erstaunen. »Kommt no viel besser. Also mit der andern Hand fischt der Halunk so unten rum um die Rock. Erst hab i gmeint, er will sich bloß amüsiern und hab scho fast glacht. Da hab i aber gmerkt, daß er was suchen muß. Und grad wie i besser hinschau, verschwind die Hand. Da hat ers gfunden ghabt, das Geldtascherl. Laßt es ihn erst ziehen, hab i mir gsagt. Aber da hat ers aa scho in der Hand ghabt und eingsteckt. I steh auf und setz mi breitspurich vor ihn hin. Die Situation könnerns sich gar net vorstellen. Da muß ma a Phantasie ham. Alstern er hat a Gsicht gmacht wie a verbogene Wagendeichsel. Was soll i Ihnen da noch viel derzähln ...« Er hielt absichtlich inne und schielte auf die Tanzenden.

Sophie stieß ihn ungeduldig mit dem Knie. »Da schauns her! No und was war dann weiter?«

Sikora schluckte sich den Mund frei. »Da hab i halt mein Coup gmacht, mein Mali. I hab mi für an Kriminaler ausgebn und die Herrschaften ausm Lokäul auf die Straßen nausbeten. Draußen hab i nur die Hand hinghalten, da hat er mir scho 's Geldtascherl gebn. Nachher hab i aso tan, als wenn i den Kriacher aus Mitleid laufen lassen tat. Aber i hab dann noch a harte Arbeit ghabt, damit i die alte Schabraken loswer. Absolut hats mir ihren Dank ausdrücken wollen. Kenn i scho, die Ausdrückerei. Das könnerns sich leicht vorstellen, was gwollt hat, die gfährliche Alte.« Wie in der Erinnerung noch angeödet, warf er seinen Lebkuchen fort. »Aber wolln ma jetzt net ans tanzen? I hab scho gnug von derer ganzen Gschicht.«

Von ihr geradezu unterjocht, drängte Sophie ihren Busen gegen ihn und hob gehorsam die Elbogen.

Sikora schrotete diese Hingabe augenblicks mit gierigem Druck aus, weshalb Sophie keuchend mit den Füßen gegen seine Beine trat.

Sikora versuchte, sie durch Schmeicheleien abzulenken, erhielt jedoch einen so heftigen Stoß in den Rücken, daß er locker ließ. »Ui! Aber die Jazz-Musi, da laß i nix drauf kommer.«

»I a. I hab 'n zum Fressen gern, den Jazz.« Sophie sprach dieses Wort nicht wie er buchstabengetreu aus, sondern wie ›Schatz‹.

Sikora glaubte, sie mache ein Wortspiel, und preßte hervor: »Fressens mi halt, siaße Sopherl!«

»Das könnt mir passen!«

Aufprustend überließ Sikora seine hemmungslosen Beine den tyrannischen Takten des Foxtrott.

Der Tanz gestaltete sich für ihn nicht nur zu einem Genuß von auserlesener Fülle, hielten doch Sophies Formen nur zu sehr, was die Linien versprochen hatten, sondern auch zu einem Triumph von ungeahntem Ausmaß. Denn Sophie, ohnedies der Kraft und dem Mut ihres Tänzers bereits zugetan, hatte es sich durch den Kopf gehen lassen, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte: vielleicht hatte Karl, der Geohrfeigte, nur deshalb noch nicht an ihren Ersparnissen sich vergriffen, weil er etwas viel Schlimmeres geplant hatte; vielleicht war sie durch das kühne Eingreifen dieses Unbekannten vor ganz Entsetzlichem bewahrt worden. Ein von Dankbarkeit, wohligem Schauder und Innigkeit durchquollener Blick entstrahlte ihrem Auge.

Sikora sah ihn. Halb vor Erstaunen, halb vor Seligkeit geriet er aus dem Takt. Sofort aber riß er den schwül vor ihm schwankenden Busen mit kraftvollem Schwung wieder an sich, so daß er die Rippen spürte und Sophie einen stechenden Schmerz.

»Au!« Sophie verzerrte übertrieben ihre Züge. »Werns net aufhörn? Sie tun mir ja weh.«

»Die wahre Lieb tut immer weh«, zischte Sikora ihr betörend in die Haare. »Ach, du Siaße, du Siaße, i hab di damisch gern. Sag, hast du mi aa, Sopherl?«

Wie zur Abwehr, aber gänzlich erfolglos, wand Sophie, verlegen lachend, den Oberkörper. »Aber wissen möcht i jetzt endlich, wiest eigentlich heißt, du Strick.«

»Franzl.«

»Das gfällt mir. So hat mei Bruder gheißen, der an die Masern gestorben is. Und wie noch?«

»Sikora.«

»Jessas, bist du vielleicht gar a Böhm?«

»A halber.« Hierauf versetzte Sikora ihr auch schon anderweitig vorgebrachte und ihm darum sehr parate Teile seiner Biographie. Und als er eine Stunde später, die Büste Sophies im Arm, in die Lange Pannekoekstraat einschwenkte, war es ihm darum ein Leichtes, durch Veranstaltung etlicher Kuß- und Kampfstationen die letzten Verheerungen im Widerstand seiner sehnlichst Begehrten anzubringen.

Erst gegen ein Uhr nachts langten die beiden auf dem Goodschen Singel an und vor dem Haus, in dem Sophie eine Mansarde des Geflügelhändlers Pet Comans bewohnte, dessen Ladenangestellte sie war. In ihren Zügen leuchtete zwar ein einziges Ja, in ihren Beinen aber war immer noch Kampfeslust. So daß Sikora ihr schweigend den Hausschlüssel aus der Hand riß und, vorsichtig seines schäbigen Anzuges wegen das helle Licht einer Laterne meidend, das Tor aufschloß, in das er Sophie mit einem so unerwarteten Stoß hineinbeförderte, daß sie einige Meter weiterstolperte und fast zu Fall gekommen wäre ...

Als Sikora das Haus verließ, polterte es von einem nahen Kirchturm sechs. Er reckte sich ein bißchen und atmete tief den Dunst der morgendlich trüben Straße. Dabei las er auf dem Schild über dem Laden neben dem Haustor die Worte: ›Wild en Gevlogelte‹. Er lachte wiehernd auf.

Ein altes Weib, das einen Korb mit Fischen vorbeischleppte, schüttelte mißbilligend den Kopf Über ihn.

Sikora rief ihr, sich die Hände reibend, nach: »Naa, naa, du alte Kietzen, da steh i als a Ganzer da.« Denn er war überzeugt, daß er bald noch ganz anders dastehen würde. In seiner Rocktasche befand sich nämlich ein englischer Matrosen-Paß, dessen Photo der Stempel kaum erreicht hatte und der für ihn deshalb einen weitaus größeren Wert darstellte als Sophies Ersparnisse, die er nach gestillter Leidenschaft zwar gesucht, nach reiflichem Erwägen aber unberührt gelassen hatte.


 << zurück weiter >>