Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Loch in der Weste

Es war sechs Uhr nachmittags, als Vinzeriche den Tea Room ABC in der York Street betrat. Er setzte sich ganz hinten in eine Ecke und wartete.

Da trat er auch schon ein. Es war ein schlecht gekleideter junger Mann, der einen fadenscheinig gewordenen Trump trug, ein ›Brettchen› mit daran fixiertem Kragen und schwarzer Krawatte. Das Gesicht, das allein Vinzeriche veranlaßt hatte, in den Tea Room einzutreten, war fast unnatürlich mager und das eines ungewöhnlichen Menschen. Daß der junge Mann ihm gefolgt war, bewies zwar noch nichts: wieviele der unwahrscheinlichsten und schillerndsten Schein-Situationen hatte Vinzeriche nicht schon erlebt; hier aber, in diesem entlegenen Lokal,würde es sich bald eindeutig zeigen, ob ...

Der junge Mann trat an den zweitnächsten Tisch. Miteins aber schien er eines andern sich zu besinnen und setzte sich an den Nebentisch, Vinzeriche schräg gegenüber.

Dieser wollte es immer noch nicht glauben, obwohl es nach diesem geradezu schulmäßigen Manöver schon schwer war.

Die Kellnerin kam. Vinzeriche bestellte. Der junge Mann genau dasselbe.

›Das zweite Manöver‹. Aber Vinzeriche wartete immer noch.

Nachdem serviert worden war, versuchte er, die Entscheidung zu beschleunigen, indem er mehrmals gähnte und mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Aber es geschah nichts. Er wunderte sich. Und vergegenwärtigte sich sofort sämtliche Beobachtungen, die er gemacht hatte, seitdem der junge Mann ihm gefolgt war. Aber es war das tausendmal gesehene Bild gewesen. Plötzlich hörte er die Stimme. Er vernahm jedoch keines der Worte. Er hörte nur diese klare, dunkel vibrierende Stimme, die, während sie seinem Ohr den erwarteten Gegenbeweis zu liefern schien, eben dadurch, daß er sie überhaupt hörte, bewies, daß trotz ihr derjenige, dem sie zugehörte, ein ...

Vinzeriche gab sich innerlich einen Ruck: der junge Mann sprach ja noch immer, sprach mit ihm. Und sprach – deutsch.

»... Ihr Schweigen mich vermuten läßt, daß Sie nichts dagegen haben.« Der junge Mann trug sein Tee-Tablett zum Tisch Vinzeriches und setzte sich neben ihm auf die Rohrbank, sofort weitersprechend: »Sie haben sogleich, als Sie mich hinter sich erblickten, gewußt, was ich bin. Ich übernahm Sie in der Shaftesbury Avenue und fuhr neben Ihnen in die Underground hinunter. Bei der Trafalgar Square Station setzte ich mich neben Sie. Und von diesem Augenblick an hatte ich die Absicht, Ihnen zu sagen, was ich Ihnen jetzt ... Denn Ihr Gesicht kann nicht ... Ein gemeiner Verbrecher sieht ganz anders aus. Ich bin freilich erst ein halbes Jahr dabei ... aber ich ...« Seine Finger verkrampften sich ineinander. Ein fast grotesk banges, halb irres Lächeln sprang um seine Lippen. Seine Augen tränten und wurden undeutlich.

Vinzeriche blickte sie fest an. Als er sie wieder deutlich sah, war es ihm, als fröre jenes Lächeln gleichsam ein: die Zähne blieben getrennt, kein Atem passierte sie. Vinzeriche blickte auf die Hände: sie waren knochig, nervig, wenn auch sehr schmutzig, und vervollständigten in ihrer schlanken Geschlossenheit den Eindruck dieses Menschen.

»Ich ...« Der junge Mann strich sich die Haare aus der Stirn, nahm mit zitternder Hand einen Schluck Tee und wischte sich mit einem Finger den Mund ab. »Es war mir eine Erleichterung, daß ich mit Ihnen würde deutsch sprechen können. Aber die Hauptsache war doch Ihr Gesicht. Ich habe mir gesagt: der – oder du findest nie wieder einen. Bitte schauen Sie mich nicht an! Ich kann sonst nicht weitersprechen. Thank you.« Er nahm abermals einen Schluck Tee. Es schien, als müßte er ihn hinunterwürgen. Dann holte er sich ein Päckchen aus der Tasche und zündete sich mit immer noch zitternder Hand eine Lucky Dream an. »Ja ... Ich habe ... Und ich will Ihnen jetzt also sagen, wie ich dazu gekommen bin. Ich werde Sie nicht mit Überflüssigkeiten langweilen. Meine Eltern sind mit mir aus Deutschland herübergekommen, als ich zwölf Jahre alt war, und starben nach zwei Monaten durch einen Unfall in der Fabrik. Nicht einen Debbish haben sie mir hinterlassen. Aber London ist groß und die Abfälle liegen auf der Straße. Und nachts schlief ich mal da, mal dort. Ich habe sogar noch mehr gefunden, als ich brauchte. Zeitungen und Broschüren. Oft sogar Deutsches. Und dann habe ich stundenlang gelesen. Ich mag Zeitungen sehr. Denn so ist die Welt. Verlogen und böse. Und man kann sie nicht besser machen. Denn das Leben ist ein Krieg. Und wenn die Zeitungen nicht wären, würde ein Krieg nicht einen Tag später kommen. Man müßte die Regierungen abschaffen und die Polizei. Aber dann kommt die Anarchie. Denn die Welt ist böse. Ich habe mich schon oft gefragt, warum. Ich weiß nur, daß es immer so sein wird. Denn ich bin auch böse. Und jeder Nächste ist mein Feind ... O, beg your pardon ... Ich bin ganz anderswohin gekommen ... Glauben Sie mir bitte, daß ich mit diesem Leben zufrieden war. Es war mir lieber als das, das ich bei meinen Eltern geführt hatte. Aber da wurde ich einmal aufgegriffen. In der Holland Road Avenue vor der Castle Bar. Das war ja nun für einen so abgerissenen Jungen wie mich eine auffallende Gegend. Der Rozzer, der mich mitnahm, hat mich schon unterwegs ausgefragt. Hätte ich gewußt, was ich heute weiß, ich hätte ihm etwas vorgelogen und er hätte mich wieder laufen lassen. Die Nacht lag ich im Clink. Am nächsten Morgen gaben sie mir einen Sixpence und ließen mich hinaus. Jede Woche griffen sie mich nun anderswo auf. Und immer am Morgen einen Sixpence. Da hat einmal einer im Clink mit mir zu reden angefangen. Er redete die halbe Nacht. Damals habe ich schon geahnt, daß sie nicht mehr locker lassen würden, und versteckte mich nun immer, so gut ich konnte. Es dauerte auch fast vier Wochen. Aber diesmal nahmen sie mein Maß, die Fingerabdrücke und photographierten mich. Und immer öfter hatten sie mich jetzt. Und immer übler wurde es im Clink. Da blieb mir nichts anderes übrig als die Arbeit. Aber ich wurde überall weggeschickt. Ich merkte jedoch bald, daß man sie beeinflußt hatte. Denn oft, wenn ich schnell hineinlief und sogleich meine Bitte herunterstotterte, sagte man freundlich ja. Und wenn ich später zum Antritt wiederkam, sagten sie nein. Die von der Station hintertrieben es immer wieder. Sie hielten mich wohl für verwendbar. Ich sprach deutsch. Und da sie alles über mich wußten ... keine Verwandten, keine Freunde, kein Vormund, nicht einmal Bekanntschaften ... ein vogelfreier Londoner Vagabund ... da ließen sie nicht mehr locker. Was hätte ich in dieser Lage tun können? Aus London fliehen? Zweimal war ich noch nicht über die Stadt hinaus, da hatten sie mich schon. Das dritte Mal kam ich in einem Holzwagon bis Harwich. Aber am Hafen klaubten sie mich auf. Da habe ich es aufgegeben. Vom Morgen bis in die Nacht gehetzt zu werden wie ein wildes Tier, das hatte ich satt. Der Mensch ist nicht geschaffen, ein böses Schicksal, das er nicht ändern kann, lange zu ertragen. Er redet sich dann ein, daß er ja, wenn er auch tut, was seine Feinde wollen, später einmal doch wieder wird tun können, was er will. Und so fällt er hinein. So bin ich hineingefallen. Und mit fünfzehn ein halb Jahren ein Rozzers-Nark geworden, ein Ghoul.« Er legte die Zigarette, die längst ausgegangen war, auf die Untertasse, strich sich nervös die Haare aus der Stirn und wandte den Kopf ab.

Vinzeriche saß unbeweglich da. Er ließ diese Stimme in sich nachklingen. Sie war die schönste, die er seit Jahren gehört hatte. Und diese Geschichte die merkwürdigste. Mit einem Blick auf die neben ihm zuckende Wange vergewisserte er sich, daß die Bereitschaft des jungen Mannes, weiterzusprechen, ungebrochen war.

Ein kurzes Klirren. Irgend jemand hatte ein Geldstück in das mechanische Klavier geworfen, das ›Destiny‹ zu spielen begann.

»Wie alt sind Sie jetzt?« Vinzeriche wünschte das Hemmende dieser Musik aufzuheben.

»Sechzehn.« Der junge Mann zündete sich die Zigarette wieder an und schien auf die Musik zu lauschen. Plötzlich zuckte er zusammen. Dann hüstelte er verlegen, während er das Tischtuch zurechtzupfte. »Sehr unangenehm diese Musik. Sie macht die Situation unklar. Ich mag überhaupt Musik nicht. Sie paßt nie dazu. Es ist eine Spielerei.« Sein Gesicht dehnte sich gequält. »Ich hatte gehofft, ich würde es ein paar Jahre aushalten und dann wohl eine Gelegenheit finden. Aber schon nach vierzehn Tagen hielt ich es nicht mehr aus und von einer Gelegenheit keine Spur. Und jetzt bin ich schon ein halbes Jahr dabei, mir ist zum Kotzen übel von allem und ... Und als ich Sie da in der Underground von der Seite her betrachtete ... Ich wußte doch, wer Sie sind: der geschickteste Kerl, der jemals die Ghouls an der Nase herumführte ... Da habe ich mir also gesagt: der – oder du findest nie wieder einen. Und was wissen sie schon von ihm? Nichts als daß er deutscher Abstammung ist und einer der gefährlichsten und waghalsigsten Verbrecher sein soll. Und wenn Sie es wirklich wären? Ich habe genug gelesen und erlebt und weiß, daß die Gesetze und die Moral von den Machthabern gemacht werden. Zum Schutz vor der Massenkonkurrenz. Und die Polizei ist ihnen so wichtig, weil sie die Vorsehung spielt. Ohne die Polizei gäbe es keine Religion, sondern Anarchie. Eine Institution, die das äußerste Gegenteil dessen ist, was sie aufrecht zu erhalten hilft, lenkt die Geschicke eines Landes. Die Anarchie im Staate! Und dieser Trottel von Bürger glaubt an den lieben Gott oder sich unabhängig oder ein Höhenmensch, der in Geist und Güte schwimmt. Was für Trottel! Man braucht doch nur die Nüstern zur Tür hinauszustecken, um zu riechen, daß alle Welt böse ist. Was war Napoleon? Ein Anarchist. Und Metternich? Ein Polizist. Und was ist Lloyd George? Ein Intrigant. Was dasselbe ist. Ich sage das alles nicht so, wie ich möchte. Aber ich bin zu nervös, und die Musik ist so unerträglich. Wenn ich innerlich vor mich hin rede, da erscheint mir alles sehr klar herausgebracht ... und jetzt plötzlich kommt mir alles so klobig vor.« Er schleuderte die Zigarette zu Boden und versuchte, sich nicht zu ärgern. Sein schmaler Mund und das spitze Kinn bewegten sich.

Vinzeriche sah, daß er bald lächeln würde. Deshalb blickte er wieder vor sich hin und verzichtete darauf, etwas Aufmunterndes zu sagen, wohl wissend, daß bei Bekenntnissen saugendes Schweigen das klügste Verhalten ist.

»Also und ...« Der junge Mann lächelte. »Also wie ich Sie da so neben mir sah in der Underground ... Sie haben ein ganz unglaubliches Gesicht ... Es ist halb ... halb ... Ich kann es nicht sagen. Ausgesprochen, wäre es schon dumm.« Seine Augen gingen zur Seite, um ein Echo seiner Worte sich zu holen. Da es nicht kam, blickte er wieder geradeaus und sprach, wiewohl er bereits lebhafter und zutraulicher geworden war, nun leise und stockend. »Sie sind ja auch bloß maßlos verdächtig. Sie haben ein vierbändiges Dossier. Einbrecher sollen Sie sein, Falschmünzer, Frauenausbeuter, Eisenbahnräuber ... Es reißt gar nicht ab. Und da habe ich mir also gesagt: er ist entweder alles, dessen sie ihn verdächtigen, und noch viel mehr, oder gar nichts von alledem, sondern etwas ganz anderes, ganz Ungewöhnliches, ganz Überragendes. Und dann kann er dir helfen. Und da habe ich es auch schon ganz sicher gewußt: der – und kein anderer! So. Jetzt ist alles heraus. Beg your pardon ...« Er hörte aber nur auf, zu sprechen, weil es ihm war, als wäre jedes weitere Wort zu viel. Als er sich jedoch schweigen hörte, merkte er, daß er bloß nicht mehr hatte weitersprechen wollen. Er drehte sich Vinzeriche zu und blickte ihn offen an.

Der wandte langsam den Kopf. Er wußte, daß ein langer Blick oft nicht vergeblich ist. Wenn er auch nichts Unumstößliches zu finden vermag, so wird er doch oft zur Warnung oder Ermutigung. Aber Vinzeriche war zu lange durch die Schule des Kampfes und der Niedertracht gegangen, um nicht zu wissen, daß das erst hinterher zu zählen vermochte; daß es gerade in diesem Fall, der ein seltenes Musterbeispiel von Doppelspiel sein konnte, lediglich als Anfang genommen werden durfte und beileibe nicht als das Ganze. ›Warten, warten und nicht schließen!‹ Er legte die Hände ineinander und so auf den Tisch. »Sie glauben zweierlei: den Mann vor sich zu haben, der alles, was Sie sagten, für aufrichtig zu halten vermöchte; und der imstande wäre, Sie vor der Polizei zu verbergen. Ists nicht so?«

Der junge Mann nickte ernst. »Ja. Und selbst wenn er von meiner Aufrichtigkeit nicht überzeugt wäre. Denn ein Mann wie Sie kann doch nur glauben, was ihm klipp und klar bewiesen wird. Aber Sie haben fünfzehn Jahre lang allen Ghouls getrotzt. Da dürfen Sie es wohl wagen, einem armen Schlucker wie mir trotzdem zu helfen.« Vinzeriche hatte die Absicht gehabt, ihn nicht mehr anzublicken, sondern lediglich noch einige Fragen zu stellen. Gleichwohl sah er wieder auf. Unterwegs aber war sein Blick von einem weißen runden Fleck, der sich bewegte, abgelenkt worden. Der runde Fleck war ein Loch in der Weste des jungen Mannes. Das Weiß war dessen Haut. Und was sich bewegte ... Vinzeriche sah genauer hin: der Fleck war dort, wo das Herz sich befinden mußte ... Was so schnell und deutlich sich bewegte, war das pochende Herz des jungen Mannes.

Das mechanische Klavier ging in ein häßliches Rasseln über und stand dann still.

Vinzeriche preßte seine Hände zwischen die Schenkel, so sehr erregte ihn, was er gesehen hatte. Die scheinbar so meisterlich beherrschte Aufregung des jungen Mannes war eine um vieles stärkere Ermutigung; sie konnte aber auch die desjenigen sein, der sein Schicksal in die gefährliche Hand eines andern gegeben hat; oder dessen, der weiß, daß er eine gute Karriere vor sich hat, wenn es ihm gelänge, das Vertrauen eines der größten Verbrecher zu gewinnen. Vinzeriche schloß die Augen: er hatte es schon in Fällen, die weitaus unsicherer waren, gewagt. »All right. Leeren Sie Ihre Taschen aus!«

Der junge Mann saß etwa fünf Sekunden verwirrt. Dann flogen seine Hände in die Taschen, deren kläglicher Inhalt im Nu auf dem Tisch lag. »Und einen Browning habe ich«, sagte er leise. »Es ist am besten, Sie nehmen ihn selbst.«

Vinzeriche, mit dem Kopf ablehnend, las die Polizeikarte unter Zelluloid. »Felix Igelski. Ist das Ihr richtiger Name?«

»Alles stimmt. Und ich bin nie widerspenstig und kann drei Tage ohne Essen bleiben und ...«

»Stecken Sie das Zeug wieder ein! Sie gehen mir bis Ecke Waterloo Road-Stamford Street nach. Ich werde es kurz machen, damit Sie mich nicht abgeben müssen. Das Weitere wird sich finden. Good bye.« Vinzeriche ging, ohne ihm die Hand zu reichen. An der Tür wandte er sich noch einmal um.

Igelski saß mit schiefem Rücken bewegungslos auf seinem Platz. Das Kinn lag auf der Brust. Das Loch in der Weste war unsichtbar.

Vinzeriche stand schon auf der Straße, als ihm einfiel, daß er es nicht mehr gesehen hatte, weil Igelskis Hand darauf gedrückt war. Er zuckte mit der Oberlippe, schritt weit aus und pfiff einen alten Rag. Nach einiger Zeit knurrte er vor sich hin: »Wenn aber das Ganze doch Theater war ... dann wehe dir, mein Igelski!«

Dem Andenken von Francis Bough


 << zurück weiter >>