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Als sie die Nacht abgesessen hatten, wurden sie wieder in die Abteilung für Volksbildung geführt. Im ganzen waren es fünfzehn Kinder. Drei Milizsoldaten begleiteten sie. Der älteste hustete den ganzen Weg, spuckte und machte den Kindern Vorhaltungen:
»Was sollen aus euch für Menschen werden, wenn ihr von Kind auf mit der Polizei zu tun habt! Ihr seid ja wie Spreu, mit einem Wort. Wozu haben euch bloß eure Mütter geboren? Pfui Teufel! Und du, Baschkirenjunge, winsle nicht so! Ruhe!«
Der schlitzäugige Baschkirenjunge verstand nicht Russisch. Er winselte und wollte davonlaufen. Der pockennarbige Milizsoldat drohte ihm mit dem Gewehr, faßte ihn dann an seinem langen Hemd und zog ihn so mit sich. Die Mütze des Jungen war in den Schmutz gefallen. Der älteste der Soldaten hob sie auf und setzte sie ihm auf den Kopf. Der Junge suchte sich zu befreien und schrie. Das gelbe Gesichtchen mit den starken Backenknochen blieb unbeweglich, der Schrei war monoton winselnd.
»Iga kajtyrga tyleem!« (Ich will nach Haus!)
Der Milizsoldat antwortete ihm:
»Kajtyrga, kajtyrga! Meinst wohl Katorga! Na, ja. Euer Leben und unser Leben, das ist ja Katorga! Hat dir das Geschick ein Katorgaleben bestimmt, kannst du nichts dagegen machen, ob du winselst oder nicht. Ihr seid ja wie Spreu! Ruhe mit deinem Gewinsel!«
Doch der Baschkirenjunge hörte nicht auf und winselte weiter, wie ein junges Hündchen, das von Menschen getreten wird. Die Passanten sahen sich nach den Kindern um. Ein grauhaariger Herr, dessen Mantelkragen trotz des warmen Tages hochgeschlagen war, blieb stehen. Er schüttelte den Kopf und sagte laut:
»Eine Schande das! Kleine Kinder mit Gewehren bewachen! Den kleinen Baschkiren hat man wohl verprügelt!«
Der Soldat fuhr ihn an:
»Wenn du so 'n gutes Herz hast, dann nimm doch den Jungen zu dir ins Haus. Jeden Tag holen wir Kinder von der Straße. Ihr wollt ein gutes Herz haben, zu essen aber gebt ihr ihnen nichts!«
Der Herr beruhigte sich nicht. Die Kinder schleppten sich weiter.
In der Volksbildungsabteilung angelangt, wurden sie in das Zimmer für Angelegenheiten Minderjähriger geführt. Dort hockten schon welche auf dem Fußboden. Der alte Kanzleivorsteher saß ganz in seine Papiere vergraben. Er blätterte fieberhaft in allerlei Schriftstücken und ließ fortwährend bald das eine bald das andere zu Boden fallen. Ein Fräulein mit einer gebrannten Locke an der Stirn kramte im Schrank. Ein anderes Fräulein, etwas älter, mit einem Zwicker auf der Nase, sah ärgerlich aus und zupfte ungeduldig an der Zwickerschnur.
»Ich überweise sie alle der Gouvernementstscheka. Sollen die sehen, wo sie sie unter bringen! Was ist das?«
In der Türe erschien eine Anzahl neuer Kinder in verschiedenstem Aufzug: In vom Staat gelieferten Kleidern, in bloßer Unterwäsche oder in Lumpen.
Man überwies Grischka und seine Kameraden der Aufnahmestelle für verirrte Kinder. Dort aber antwortete man:
»Wir haben keinen Platz mehr. Können sie nicht aufnehmen.«
Man brachte sie zurück. Der ältere Begleitsoldat spuckte aus und ging weg. Die zwei anderen drehten sich Zigaretten und hockten sich auf die Erde hin, um auszuruhen. Grischka wurde es schlecht vor Hunger, von der schweren Luft in der Stube, besonders aber vor drückender Langeweile. Er setzte sich auch zu Boden, starrte mit trüben Augen die Decke an, preßte die Lippen fest zusammen. Sein Gesicht bekam einen traurigen, alten Ausdruck. Da trat ein Mann ins Zimmer, mit langer Nase und dünnen Lippen. Den nach oben spitz zulaufenden Kopf bedeckte eine flache Mütze bis fast an die Augen. Er trat fest auf, als ob er mit jedem Schritt den Boden einstampfen wolle. Davon waren seine Schuhe so ausgetreten, daß sie Tierpfoten ähnlich sahen. Gleich beim Eintreten ließ er sich auf einen Stuhl fallen, und der Stuhl schien unter seiner Last in den Boden zu sinken.
»Na, was treibt ihr da? Immer noch Schriftstücke über Schriftstücke? All die Papierchen gehören in den Ofen! Warum heulst du, du Baschkurdistan? Möchtest Autonomie haben?«
Er kniff die Augen fast ganz zusammen, verzog die dünnen Lippen und schien sich über alles lustig zu machen. Wenn er sprach, rieb er die Handflächen aneinander, zog den Körper ein, streichelte seine Knie. Keinen Augenblick blieb er ruhig sitzen, als ob jedes seiner Gelenke Bewegung und Arbeit verlange.
»Warten Sie, Genosse Martynow«, sagte das ältere Fräulein mit jammernder Stimme. »Sie machen immer so viel Lärm! Ich weiß sowieso nicht, wo mir der Kopf steht! Wo soll ich nur die Kinder unterbringen?«
»Sollen Abtritte reinigen, Erde graben … Es wird sich immer was finden. He du, Baschkire! Willst du noch lange winseln?«
Er ahmte den Jungen geschickt nach:
»I–…hi–…hi–…hi!«
Der Baschkirenjunge trocknete die Tränen. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er hörte auf zu weinen.
»Also wie steht's, Fräulein? Immer Schriftstücke, Instruktionen, Enqueten …!«
Wieder rieb er seine Handflächen aneinander.
»Zehn von den Lumpenkerlchen hier nehme ich mit. Zehn kann ich unterbringen.«
»Das ist schön, Genosse Martynow!« erwiderte das Fräulein voller Freude. »Wir suchen gleich welche für Sie aus. Die Personalien von einzelnen sind schon genau festgestellt …«
»Ich such mir selber meine Kinder aus. Hab mein eigenes System.«
Er drehte sich mitsamt dem Stuhl zu den Kindern um, sah mit durchdringendem Blick auf den großen, weißhaarigen Jungen:
»He du, Weißhaariger! Kannst du gut stehlen?
Der Junge wurde rot, verlegen;
»Ich habe nichts verbrochen. Das war Fedjka Pjatakow. Der hat gestohlen. Ich aber …«
»Schwindeln kannst du gut. Prügelst du dich gerne? Machst du's mit dem Messer oder nur mit den Fäusten?«
»Nein, ich prügle mich nicht.«
»Prügelst dich nicht? Dann bist du dumm. Und du! Warum siehst du so grün aus?«
Das galt Grischka.
Grischka sah den Mann, wie er so mit dem Stuhle hin- und herrutschte und die Hände schnell aneinander rieb. Er lachte und sagte sich:
›So einen lebhaften Affen hab ich einmal in einer Menagerie gesehen. Der sah ganz ähnlich aus. Hatte auch so lange Arme und so 'n bewegliches Kinn.‹
»Was kommt dir denn so komisch vor? Warum bist du so grün im Gesicht?«
Grischka schnaufte durch die Nase und sagte:
»Da soll man nicht grün werden. Seit dem Morgen nichts gegessen, nichts getrunken.«
»Bist du denn nicht gewöhnt, ohne Essen auszukommen?«
»Man gewöhnt sich schon dran, aber der Bauch tut einem weh.«
»Bist du aus dem Gefängnis entlaufen?«
»Nein. Ich bin minderjährig. Ich bin aus dem Kloster entlaufen.«
»Die wollten aus dir wohl einen Mönch machen? Freundchen, das ist kein Kloster, das nennt sich me-di-ko-pä-da-go-gi-sche Kolonie! Was die Teufel alles ausdenken! Warum bist du weggelaufen?«
»So. Hatte keine Lust mehr!«
Das ältere Fräulein schnitt ein gelehrtes Gesicht:
»Ein erblich Belasteter … Wandertrieb … offenbar!«
»Siehste wohl, du gehörst zu einer Kategorie! Die sind klug! Wie heißt du?«
»Grigorij Peskow.«
»So! Nun also, Grigorij Peskow! Im Gefängnis, sagst du, hast du noch nicht gesessen?«
»Doch. Ich saß schon. Schon oft. Doch jetzt ist es verboten. Jetzt hat man ›minderjährige Rechtsverletzer‹ ausgedacht!«
Der Mann lachte leise in sich hinein und hatte kein Affengesicht mehr, sondern ein Menschengesicht.
»Hören Sie, Genossin Schidlowskaja! Jetzt hat man ›minderjährige Rechtsverletzer‹ ausgedacht! Hahaha! Willst du Abtritte reinigen?«
»Das stinkt! Aber wenn es sein soll …«
»Nun also. Ich nehm dich mit.«
»Wohin?«
»Wirst schon sehen!«
»Wenn es aber langweilig ist, lauf ich weg. Auch wenn eine Wache da ist, lauf ich weg«, rief Grischka erbittert und frech.
»Wir haben keine Wache. Lauf nur weg. Wenn du nichts taugst, werfen wir dich von selber raus, geben dir einen Tritt in den Hintern. Taugenichtse können wir nicht brauchen! –… Den also nehm ich mit.«
Dann fragte er die anderen Kinder aus. Die zahmen und freundlichen waren nicht sein Fall. Er wählte drei Mädchen, und sieben Jungen, darunter den kleinen Baschkiren, aus.
»In drei Tagen kommt ihr alle zur Bahn. Morgen wartet ihr hier auf mich. Wollen irgendwas zum Anziehen für euch ausfindig machen.«
»Aber für die drei Tage muß doch irgendwie gesorgt werden, Genosse Martynow. Die Kinder müssen doch irgendeine Aufsicht haben!«
»Natürlich! Wir stellen eben eine französische Gouvernante für sie an. Parlez-vous français, Grigorij Peskow?«
Fast alle Kinder, sogar der Baschkirenjunge, lachten laut auf, denn Martynow hatte dabei ein gar zu komisches Gesicht geschnitten.
»Sie machen immer Scherze, Genosse Martynow. Das geht einem allmählich auf die Nerven. Verstehen Sie denn nicht, daß das alles belastete Kinder …«
»Ich verstehe sehr gut! Das Volkskommissariat für Aufklärung hat es in seinen Instruktionen ganz genau auseinandergesetzt! Aber, Fräulein, die Kinder müssen zu essen und zu arbeiten kriegen, müssen tüchtig an die Arbeit ran! Für die, die ich mir ausgesucht habe, heißt es nun, Lebensmittel bekommen.«
»Aber das geht doch nicht so! Man muß sie doch wenigstens alle eintragen! Man muß eine Unterkunft für die drei Tage finden! Eine Wache anfordern, die sie hinbegleitet!«
»Tragen Sie meinetwegen die Kinder in Ihre Papiere ein, wenn Sie so gerne schreiben wollen. Eine Wache ist nicht nötig. Ich nehme die Kinder zu mir. Also los! Wir wollen Lebensmittel holen!«
»Sie werden ihnen weglaufen!«
»Um so schlimmer für sie! Dann kommen sie wieder in das medikopädagogische Kloster! Machen Sie also die Liste fertig. Kinder, ich komme euch gleich holen. Ich seh mich inzwischen nach Lebensmitteln um.«
Er fuhr mit der Hand über Grischkas Kopf und ging weg. Dem wurde ganz froh zumute. Die große Hand hatte seinen Kopf so zärtlich berührt. Und Grischka dachte:
»Tüchtiger Kerl das!«
Keines der zehn Kinder lief weg. Nicht drei Tage, sondern eine volle Woche brachten sie mit Martynow in seinem Zimmerchen zu, zum großen Schmerz der Zimmerwirtin. Deren Seufzer bekamen sie nur am ersten Tag zu hören, als sie abends ankamen. An den folgenden Tagen kehrten sie erst sehr spät zurück und gingen gleich zu Bett. Den ganzen Tag jagten sie auf Martynows Geheiß von einem Ende der Stadt zum andern, um dies und jenes zu bekommen. An einer Stelle schaffte er Geschirr heran, an einer zweiten Stoff, an einer dritten Graupen. Dann wurden Kisten mit Glas in den Güterwagen verladen. Sie fuhren auch mit dem Kutscher Nikolai in ein Dorf, um Kühe zu holen. Wie ein fürsorglicher Wirt sammelte Martynow alles Mögliche für die Kolonie. Er fand Zugang zu Quellen, die anderen verschlossen waren. Im Interesse der Kinder führte er dem Vorsitzenden der Tscheka die Uhr aus, die in seinem Arbeitszimmer an der Wand hing. Das alles vollbrachte er, die Hände reibend und vor sich hin lächelnd. In einem fort rief er den Kindern zu:
»Schlaft nicht, ihr Kerle! Macht, daß ihr vorwärts kommt! Du, Baschkurdistan hol jetzt Wasser mit Nikolai! Das Vieh muß zu trinken bekommen!«
Und der kleine Baschkire verstand den Sinn der russischen Worte, weil sie von so lebhaften Gesten begleitet waren. Wie der Wind flog er über den Hof, seine lustigen Kehllaute ausstoßend.
Grischka lebte auf. Hauptsache, es war unterhaltend. Was bekam er nicht alles an einem Tage zu sehen.
Die Erde war schon fast trocken. Die Bäume dufteten süß, berauschend.
Die Sonne wärmte fast den ganzen Tag. Wenn es regnete, war es ein fröhlicher Regen, der alles sauber wusch, und dessen Spuren die Sonne sofort auftrocknete.
Wie leicht fühlte man sich! Martynow führte sie gleich am ersten Tage, nachdem sie die Abteilung für Volksbildung verlassen hatten, zum Friseur. Man rasierte ihnen allen, sogar den Mädchen, die Köpfe bis auf die nackte Haut. Dann wuschen sie sich in der Badeanstalt und bekamen ganz kurze Höschen. Auch die Mädchen bekamen solche Höschen. Anfangs war es ein wenig komisch. Doch man gewöhnte sich schnell daran. In dieser leichten Kleidung mußte man flink sein, ob man wollte oder nicht. Die Hosen reichten nur bis zu den Knien, die Hemden hatten keine Kragen, keine Ärmel.
Die ganze Fahrt bis zur Kolonie war für Grischka der erste wunderbare Traum, den er erlebte.
Man reiste in zwei Güterwagen, hatte magere Kühe und Pferde mit im Wagen. Auf den Stationen besorgte man das Vieh, brachte Wasser heran. Die Beine breit gespreizt, pumpte Martynow Wasser, schrie dann und wann die Kinder an. Während der Fahrt ließ er sie von ihrem Leben erzählen. Er fragte sie nicht aus, doch die Kinder stritten sich förmlich darum, von sich sprechen zu dürfen. Zu Grischka sagte er:
»Hast keine Eltern, gut so, mein Freund. Die Eltern sind eine überflüssige Sache! Die Mutter nimmt ihr Söhnchen unter die Schürze, zittert darum, und so wird aus ihm ein Taugenichts. Sie haben dich geboren, das genügt. Lebe selbst!«
»So? Der Milizsoldat sagte aber, wir seien Dung!«
»Dung ist was Gutes! Ohne Dung gibt es kein gutes Brot. Also, meine guten Freunde, auf der nächsten Station werden die Kühe gemolken. Dann trinken wir Milch. Milch ist doch was Feines!«
Er aß kein Fleisch und verspottete die Kinder:
»Na, schmeckt der Nero gut? Wohl bekomm's, das Hundefleisch!«
Grischka kreischte vor Vergnügen:
»Das ist Rindfleisch, kein Hundefleisch!«
»Ganz egal! Das ist alles Nero! Milch, das ist was Feines! Das schmeckt, Freunde!«
In dem einen Güterwagen hatte Martynow die Aufsicht, im anderen der Kutscher Nikolai. Darin bestand die ganze Bewachung. Die Kinder lösten sich ab. Einmal fuhr der eine Teil mit Martynow, dann der andere. Die Kinder setzten selber die Ordnung fest, nach der sie abwechselten, lagen in den Wagen auf duftendem Heu und sangen Lieder. Jeder sang, was er konnte und wozu er Lust hatte. Am schönsten sang der Baschkirenjunge. Die Worte seiner Lieder waren unverständlich. Man konnte sie nicht behalten. Es klang wie
»Ei din bindi dindi bindi
Ei din bindi dindi bindi.«
Komisch! Fünfmal mußte er dasselbe singen. Die Kinder baten darum. Er schloß die Augen, saß mit gekreuzten Beinen da, wiegte sich und sang. Das klang so schön! Grischka hätte jedes dieser Lieder noch fünfmal hören mögen.
Durch die weitgeöffneten Türen des Wagens stürmte der freie, duftende Steppenwind herein und brachte überschwängliche Freude mit. Grischka sandte seine Begeisterung in die Steppe hinaus, schrie, lärmte, sprang wie besessen herum. Seinetwegen allein raste dieser Zug! Seinetwegen pfiff betäubend die Lokomotive! Zum erstenmal in seinem Leben spürte Grischka: Alles ist mein, mir, Grischka! Durch die geöffnete Türe schrie er aus vollen Lungen:
»Uhuhuhuhu!«
Abends, wenn es kühl wurde, bekam man Lust, leise zu sein. Man trank Milch. Warme, dampfende Milch, die sie selbst gemolken hatten! Wie die schmeckte! Das ist nicht zu schildern! Kann man denn den ersten wunderbaren Traum des Lebens schildern? Kann man denn schildern, wie sie abends die Pferde aus dem Güterwagen herausführten, wie sie sie selber vor die Wagen spannten? Wie sie nachts durch den unbekannten Wald fuhren? Und wie der Wald sie mit seinem unheimlichen Zauber umfing? Das war ein Märchen!