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Immer gieriger trank der Frühling den Schnee. Die Türe der Kirche stand offen. Die sonndurchtränkte Luft brachte Frische in das düstere Kirchengewölbe. Wenn sie aus der Kirche wieder herauskam, brachte sie die klagenden Gebete der Menschen mit, denn es waren die großen Fasten. Die Menschen weinten vor den himmlischen Toren, in die man keinen Einlaß fand. Immer öfter huschten die Nonnen wie Schatten zur Kirche. Immer längere Stunden schrien sie zu Gott im Taumel der Buße. Und diese geräuschlosen, schwarzen Schatten auf dem lichten Antlitz des Frühlings, die feierlichen Betgesänge, der aufwühlende Lärm des Frühlings auf der Straße, das alles brachte Grischka aus dem Gleichgewicht. Zwar waren die Erzieher mit ihm zufrieden, denn er ließ gehorsam alle Lernstunden über sich ergehen und verhielt sich ruhig. In solchen Stunden waren seine Augen ganz leer. Grischka zog sich immer mehr auf sich selbst zurück. Nachts wachte er auf und dachte an die Freiheit. Fliehen war schwer. Sechs der älteren Jungen hatten die Äbtissin bestohlen und waren geflohen. Doch sie wurden gefaßt. Bei der Festnahme leisteten sie Widerstand. Es waren große Bengel, denen schon der Schnurrbart wuchs. Man steckte sie in ein Konzentrationslager, wo sie arbeiten mußten. Man begann das Kinderheim strenger zu bewachen. Man verstärkte die Wachen durch einen Agenten der Tscheka und vermehrte die Zahl der Erzieher. Doch ein Zufall kam Grischka zu Hilfe.
Der Krieg zwischen den Kindern und Nonnen wurde immer erbitterter. Die Zusammenstöße brachten Leben in den traurigen Lauf der Tage. Damit füllten die Kinder ihr Leben in diesem Gefängnis aus, in dem man zu viel Muße hatte und sehr gutes Essen bekam. Eines Tages wurden fünfzig neue Kinder aus dem Gefängnis ins Heim gebracht. Die Nonnen mußten ausquartiert werden. Man machte für sie ein großes, zweistöckiges Haus frei, jenseits des Flusses, an der Peripherie der Stadt. Man forderte sie auf, umzusiedeln. Die Nonnen nahmen den behördlichen Beschluß gehorsam entgegen. Doch im geheimen beklagten sie sich bitter.
Jeden Morgen hielt irgendein Bauernwagen in einiger Entfernung von der Klostermauer an. Manchmal waren es zwei, drei Wagen. Mit schuldbewußter Miene schritten Bauern oder ihre Frauen zum Klostertor, verhandelten demütig bittend mit der Wache, schlüpften dann in den Hof. Dort vernahmen sie das Echo eines neuen, ihnen unbekannten Lebens. In der Luft schwirrten die Worte ›Genosse‹, ›Rechtsverletzer‹, ›Kinderheim‹. Das altbekannte Klosterleben hielt sich in der Tiefe des Hofes versteckt. Um zu den kleinen Nonnenhäuschen zu gelangen, die dort standen, mußte man an lärmenden und auch an schweigsamen Kindern vorbei, in deren Augen eine Frage stand. Bei den Nonnen wurde man von Heiligenbildern und von dünnen, gerührten Stimmen empfangen. Vor diesen Besuchern, die ihre heimlichen Gaben mitbrachten, schütteten die Nonnen ihr Herz aus. Seit der Revolution bezeichnete sich die Äbtissin in allen offiziellen Schriftstücken als »Vorsteherin der klösterlichen Arbeitsgemeinschaft, die demütige Eulalia«. In der Kirche vor der versammelten Gemeinde der Gläubigen predigte sie politische Demut, da »jede Regierung von Gott eingesetzt sei«. Doch jetzt riß auch ihr die Geduld. Sie klagte ihrem weltlichen Bekannten, Herrn Astafjew, dem früheren Besitzer zweier Kinos, der dem Kloster große Schenkungen zu machen pflegte und auch jetzt, obwohl im Gouvernementsverband angestellt, das Kloster nicht vergaß:
»Man jagt uns aus dem Hause Gottes.«
Durch alle Familien, in denen man Gott noch nicht vergessen hatte, eilten Gerüchte:
»Die Nonnen werden ausquartiert!«
»Das Kloster soll ein Theater werden.«
»Man nimmt die kostbaren Rahmen von den Heiligenbildern ab.«
»Man hat die Gefäße aus dem Tabernakel in die Gouvernementstscheka gebracht …«
»Die Äbtissin hat man in der Tscheka gefoltert.«
Aus den Häusern gelangten diese Gerüchte auf den Markt. Der Markt fand auf dem Platz neben dem Kloster statt. Am Tage der Übersiedlung hörten die Markthändlerinnen nicht auf, sich zu bekreuzigen. Eine war von dem bevorstehenden Ereignis so in Anspruch genommen, daß ein Käufer sie um dreitausend Rubel betrog. Sie bejammerte die Nonnen, wehklagte, und weibische, kreischende, sinnlose Schimpfereien mischten sich in ihre frommen Betrachtungen.
»Himmlische Mutter Gottes! Heilige Jungfrau Maria! … Der Teufel soll ihn holen! … Wirft mir das Geld zu und macht sich aus dem Staube! Verfluchter Kommunist! … Judenbrut! … Heiliger Nikolaus … Die christlichen Gebete passen ihnen nicht! … Wie Teufel fürchten sie den Weihrauch! … Die Bräute Christi … Unsere lieben Mütter … wohin sollen sie jetzt! Diese Räuber, dieses Antichristenpack … Was sagt man da? … Ich seh mich um, der Mensch ist verschwunden … Noch eben war er da … Na, warte! Ich hab mir deine Fratze genau gemerkt … Wenn ich dich kriege …«
Die Bauern hielten ihre Zungen mehr im Zaum, doch auch sie verließen den Platz nicht, obwohl der Markt zu Ende war. Sie rückten mit ihren Pferden und Wagen näher an die Klostermauer heran.
Die Wagen für die Nonnen waren vorgefahren. Das große Tor wurde geöffnet. Die Wache stellte sich davor. Eine bunte, wogende Menge strömte herbei. Mutter Eulalia schritt aus dem Tor, unter ihrer Nonnenhaube hervor scharf um sich blickend, groß und stolz. Vor dem Tor blieb sie stehen, wandte sich ohne Hast dem Heiligenbilde zu, das über dem Tore hing, und verneigte sich davor tief bis zur Erde. Die Frauen in der Menge begannen zu schluchzen. Bevor die Äbtissin in den Wagen stieg, verneigte sie sich wieder nach allen vier Himmelsrichtungen. Ihr Gesicht blieb streng, als wäre sie von einem Heiligenbild herabgestiegen. Wie schwarze Schatten folgten ihr die Nonnen und machten ihr alles genau nach. Die in der blauen Frühlingsluft scharf umrissenen Gestalten weckten Trauer ringsum. Eine Frau stürzte zu den Nonnen hin, laut schreiend:
»Ihr, unsere lieben Mütter! Unsere Fürbitterinnen! Vergebt uns um Christi willen!«
Eine andere Frau folgte ihrem Beispiel, schrie noch lauter:
»Wohin jagt man euch aus dem Gotteshaus?«
Eine dritte warf sich zu Boden, direkt vor die Füße der Pferde am Wagen der Äbtissin. Der Hahn, den sie in der Hand hielt, benutzte die Gelegenheit und lief davon.
»Seid uns nicht böse! Verklagt uns nicht beim Herrgott!«
Die drei Frauen heulten herzzerreißend. Ihnen gesellten sich andere zu. Das Geheul lockte Passanten an. Ein berittener Soldat mit einem Bündel in der Hand hielt sein Pferd im vollen Galopp an und erstarrte in Neugier. Die Händlerin Filatowa überließ ihren Kuchenstand seinem Schicksal und stürzte zu dem Soldaten:
»Warum beschimpft ihr den christlichen Glauben? Ihr werdet eure Strafe bekommen! Wartet nur, die Strafe wird kommen!«
Das Geheul der Weiber brachte Unruhe in die Menge. Die Männer brummen:
»Wir lassen das Kloster nicht zerstören!«
»Wem haben die Nonnen geschadet? Wem haben sie was getan?«
Der bewegliche, grauhaarige Lehrer der früheren Kirchenschule, der auch Kirchenvorstand war, tauchte neben den Bauernwagen auf. Seine zitternde, alte Stimme schrie:
»Wo bleibt denn die Gewissensfreiheit? Wo bleibt die von der Regierung proklamierte Gewissensfreiheit?«
Mitgerissen, schrie die Menge:
»Das Recht wird mit Füßen getreten!«
»Man muß eine Klage an Lenin schicken!«
»Das ist ja nur die Willkür der hiesigen Behörden!«
»Diese Gotteslästerer: In der jüdischen Synagoge haben sie niemand einquartiert! Aber im rechtgläubigen Kloster haben sie Strolche untergebracht! Sonst nirgends! Nur im rechtgläubigen!«
Unterdessen schaute schon eine lärmende Schar dieser »Strolche« aus dem Hof heraus. Mit geweiteten Augen starrten sie auf die Menge, genossen lustig die Skandalszenen, liefen vor den Füßen der Erwachsenen wie kleine Hunde hin und her. Grischka vergaß seine Traurigkeit und die Gedanken an Flucht. Seine grauen Augen leuchteten, sein Kopf wackelte vor Begeisterung.
»Komisch, das! … Die Weiber heulen … Die Bauern haben rote Gesichter … Und die Nonnen … Wie aufgezogene Puppen! Verneigen sich rechts, verneigen sich links. Und haben die Lippen zusammengepreßt. Sind böse!«
Tief zog er Luft in die Lungen und rief lustig und frech hinter der Äbtissin her:
»Du dreckige Hexe mit deinem schwarzen Schwanz!«
Die Weiber antworteten mit wildem Geschrei:
»Dieser kleine Strolch beschimpft unsere Mutter!«
»Beleidigt unsere Fürbitterin!«
Man hätte Grischka zertreten. Doch der Soldat faßte ihn am Kragen und schmiß ihn zurück an die Klostermauer. Er selbst kam erst jetzt zur klaren Besinnung. Bis dahin war er vom Anblick der tobenden Menge so gefesselt, daß er alles vergaß. Auch der andere Soldat griff ein. Er rief in den Hof:
»Telephoniert in die Stadt! Man soll Polizei herschicken!«
Doch in der Stadt hatte man von dem Vorfall schon gehört. Aus allen Richtungen kamen Berittene dahergesprengt.
»Auseinandergehn! … Auseinandergehn! …«
»Bürger! Wer nicht zum Kloster gehört, zurücktreten! … Zurück!«
Eine Nonne schrie durchdringend auf und fiel zu Boden. Ein Berittener stürzte ihr zu Hilfe.
»Helft der Mutter in den Wagen! … Faßt sie unter! So! Legt sie hin! Vorsicht! … Bürgerin Äbtissin, steigen Sie bitte ein! Helft der Bürgerin einsteigen!! So, so!«
Ein Glaser, der eingeklemmt in der Menge stand und die Sache komisch fand, lachte laut auf:
»Siehste wohl? Der Soldat macht der Nonne den Hof!«
Das Lachen steckte auch andere an:
»Hahaha! Auch die Nonnen lassen sich gerne den Hof machen …«
»Möchten auch tänzeln und scharwenzeln! Hahaha!«
»Verdammte Biester! Mit euren losen Zungen! Unsere Mütterchen! Unsere Fürbitterinnen!«
»Hihihi! Tantchen, heul' mir noch was vor für'n Groschen! Kriegst einen Zehnrubelsowjetschein!«
»Lästerer! Verfluchte!«
»Wollen Sie sich nicht etwas anständiger ausdrücken? Gehn wir, Manja!«
»Hiiii! Gehn wir, Manja! Hat 'nen Glockenrock angezogen und will das gnädige Fräulein spielen! … Die feine Dame!«
»Schau, die Nonnen verladen jetzt ihr Eigentum.«
»Was die für ein Gepäck haben! Und nennen sich arm!«
»Schau nur die Riesenkisten an!«
»Man hat bei der Äbtissin im Keller einen Topf voll Gold gefunden!«
»Hundert Meter Stoff!«
»Das wollen Märtyrerinnen sein? Man setzt sie doch nicht auf die Straße! Beten und fasten können sie auch im neuen Hause! Nicht wahr, Wassja?«
»Ich bin Kommunist. Ich finde die Anordnungen des Exekutivkomitees ganz richtig!«
»Ich bin nicht Kommunist, aber ich begreife wohl! Man muß die Kinder irgendwo unterbringen. Das versteht sich von selbst!«
»Natürlich! Soll man die Kinder zugrunde gehn lassen? Die Nonnen wollen Dienerinnen und jegliche Bequemlichkeit haben. Sollen deswegen die Kinder auf der Straße bleiben?«
»Und die Waisen? Soll man die etwa ins Wasser werfen?«
»Auseinandergehn! … Zurück, Bürger! Zurück!«
Die Nonnen schürzten ihre Röcke und luden geschäftig ihr Gepäck auf die Wagen. Ihre Ähnlichkeit mit Heiligenbildern war dahin. Ein Brummen ging noch durch die Menge, doch in ihren Gesprächen war nichts mehr von einem Mitgefühl mit den Nonnen zu merken. Grischka löste sich leise von der Mauer und verschwand in der Menge.