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Einmal auf einer Station hatte ein Bauer von seinem Leben erzählt, in wieviel verschiedenen Städten er sich herumgetrieben hatte. Und hatte gesagt: »Bin unter einem unruhigen Planeten geboren!« Damals lachte Grischka über diesen Ausdruck. Er lachte, weil die anderen lachten, verstand ihn aber nicht. Jetzt erinnerte er sich an diese Worte und wandte sie auf sich an:
»Ich bin unter einem unruhigen Planeten geboren.«
Die Kinder im Heim bekommen jetzt ihre Brote zum Tee, er aber zieht durch die Straßen und hört auf das Knurren in seinem Bauch. Zurück ins Heim, dazu hat er keine Lust. Aber sein Bauch benimmt sich sehr unvernünftig! Ein, zwei Tage ertrug er den Hunger mit Geduld, dann war es zu quälend. Ihre Vorräte waren alle dahin! Alles war verzehrt. Sie hielten sich zu sechs auf dem Friedhof versteckt. Grischka hatte fünf Mann ausfindig gemacht, die zusammen mit dem Kutscher die Vorratskammer der Abteilung für Volksbildung ausgeräumt hatten und von der Aufnahmestelle entflohen waren. Der Friedhof diente ihnen als Unterkunft für die Nacht. Die fünf anderen hatten Geld gehabt, Grischka selbst verkaufte sein Hemd und seine Hose. Den guten Mantel aus dem Heim tauschte er gegen einen viel schlechteren um und bekam etwas Geld darauf bezahlt. Jetzt war aber das ganze Geld fürs Essen ausgegeben. Am Tage konnten sie ohne Furcht in der Stadt betteln. Wer sollte ihn auch suchen? Jeden Tag wurden neue Kinder ins Heim gebracht.
Nur wenn man zufällig auf einen bösen Menschen stößt, –… der läßt nicht locker:
»Wer bist du? Woher bist du?«
Ein guter Mensch geht seines Weges, denkt an seine eigenen Geschäfte und schaut Grischka gar nicht an …
Heute war ein schlimmer Tag. Grischka hatte lange vor der Sowjetküche gestanden, doch niemand hatte ihm eine Karte gegeben. Sonst erlaubte man ihm, wenn er keine Karte hatte, in der Kinderküche die Reste von den Tellern zu essen. Heute aber jagte man ihn davon. Man erwartete irgendeine Revision.
Grischka versuchte es in einem Hause:
»Geben Sie mir was um Christi willen! … Mein Vater ist gefallen, meine Mutter im Krankenhaus am Typhus gestorben.«
»Geh, bettle bei deinen Kommissaren! Die haben eure Brut angepflanzt. Die sollen euch auch ernähren.«
Diese Worte kamen Grischka merkwürdig vor:
Haben denn die Kommissare uns gepflanzt? Unsere Mütter und Väter haben uns in die Welt gesetzt und den Kommissaren die Sorge um uns überlassen. Aber was soll man mit Dummköpfen sprechen! –… Sein Hunger ist aber groß, und die Küchen werden bald geschlossen. So eine Lage!
Vor Ärger gab er einem Baschkirenjungen, der auch vor der Küche stand, eine Ohrfeige. Doch der war geschickt und boxte Grischka in den Bauch. Grischka stöhnte, holte Atem und ging weiter.
»Genosse … geben Sie mir 'ne Kleinigkeit, um Brot zu kaufen …«
»Mach, daß du weiterkommst! Vor dem Bettelpack kann man sich kaum mehr helfen!«
»Schau einer den feinen Herrn an mit der Mappe! Schmutziger Geizhals! Fettwanst!«
Grischka sah einen Jungen, der mit Zigaretten handelte, ging auf ihn zu:
»Mach, daß du weiterkommst! Die Zigaretten sind nicht für so einen wie du.«
Grischka kniff die Augen zusammen.
»Tu dich nicht so! Vielleicht habe ich sogar zehntausend Rubel!«
»Quatschkopf! Zeig doch die zehntausend Rubel!«
»So siehst du aus! Ich habe vielleicht schon mehr Geld gesehen als du.«
»Gesehen vielleicht! Gehabt hast du keins. Mach, daß du weiterkommst, sonst hau ich dir eine!«
»Na los doch!«
»Nimm dich in acht!«
»Na los doch endlich!«
»Nimm dich ja in acht!«
Sie standen mitten auf dem Trottoir, bereit, aufeinander loszuspringen. Da trat eine Dame dazwischen:
»Was ist? Womit handelst du, Junge?«
Der Junge hatte die Schachtel mit den Zigaretten offen in der Hand und sagte dummerweise:
»Beste Sorte. Wieviel gefällig? Zehn Stück?«
Die Dame faßte ihn am Ärmel:
»Komm mit zur Miliz! Hast du nichts von dem Verbot der Kinderspekulation gelesen? Bist du Analphabet? Komm, wir wollen deine Eltern ausfindig machen!«
Der Junge sträubte sich, doch sie zog ihn mit. Grischka gab schleunigst Fersengeld. Fast wäre er mit reingefallen! Ein Glück nur, daß die Dame nicht so gerissen war, sonst hätte sie auch ihn gefaßt! Das war ein böser Tag! …
Der Abend nahte. Der Himmel wurde düster, grau. Nur ein lustiger Rosastreifen war noch zu sehen. Doch auch der wärmte nicht mehr. Die Menschen eilten in ihre Häuser. Der Wind wurde grimmiger.
Grischka konnte vor Hunger kaum noch gehen. Doch es war nichts zu machen. Er schleppte sich zum Friedhof. Der lag zwischen Stadt und Bahnhof. Er war von einer Mauer umgeben, doch das Tor schloß nicht. Die Bäume knarrten im Winde. Der Schnee war noch nicht ganz geschmolzen, denn nachts war es noch kalt. Doch in ihrer Höhle, die sich in einer Mauerecke befand, war es nicht so kalt. Zweimal hatten sie sogar gewagt, ein Feuer anzuzünden. Doch das durfte man nicht oft machen, das hätte sie verraten können.
Traurig seufzend langte Grischka bei den Seinen an. Da erwartete ihn eine Freude. Die Kinder hatten Lebensmittel aufgetrieben und auch für Grischka was übriggelassen. Die zwei Mädchen begannen vor Sattheit sogar ein Lied zu singen. Die vier Jungen aber tauschten gegenseitig die Erlebnisse des Tages aus. Sie mußten in der Höhle dicht beieinander sitzen. Es war eng darin, dafür aber war es um so wärmer, und man brauchte sich nachts nicht so zu fürchten. Der Friedhof jagt einem Gruseln ein des Nachts. Wenn der Wind rauscht und es ganz dunkel ist, dann geht es noch. Wenn aber der Mond vom Himmel herabstarrt und alles ganz still ist, dann wird es unheimlich. Weit in der Ferne, wo die Lebenden sind, bellen Hunde. Der Friedhof aber ist still, ein richtiges Grab. Es scheint ihnen dann, als ob sich jemand in der Nähe versteckt hätte; er hat die Lippen fest zusammengepreßt, um nicht zu atmen, und starrt sie an. Wenn sie dann den Kopf aus ihrer Höhle herausstecken, sehen sie die vom Mond beschienenen Kreuze. Wie erstarrt stehen sie und die Denksteine da, wie auf der Lauer und drohend. Heute ist die Nacht dunkel und windig. Der Wind weht etwas vom lebendigen Leben der Stadt herüber. Der sommersprossige Wasjka, wenn er satt ist, erzählt immer Geschichten. So auch heute. Die Mädchen wurden still und lauschten.
Die Jungens hatten davon gesprochen, daß manchmal Lebende begraben würden. Darüber wußte Wasjka eine Geschichte:
»Ich will euch, Kameraden, eine Sache erzählen. Es geschah in einer Stadt … Da war so ein Fräulein. Die hatte das Gymnasium oder vielleicht das Realgymnasium besucht … Eines Tages kommt sie nach Hause, macht ›Oh‹ und ›Ah‹ und verdreht die Augen und so weiter … ›Ach, Papa! Ach, Mama! Ich sterbe!‹ Man sieht sich nicht um und bums, schon liegt sie auf der Erde. Mama stürzt zu ihr, Papa stürzt zu ihr, doch sie weiß nur eins zu sagen: ›Ich sterbe!‹ Natürlich schickte man sofort nach dem Doktor. ›So und so, Herr Doktor, sie stirbt‹. Der Doktor versucht sie zu retten, gibt ihr Limonade und Schokolade, doch sie hat nur eine Antwort: ›Ich sterbe!‹ Bums, sie hört auf zu atmen. Da fuhr der Doktor natürlich weg. Die Mutter heulte, heulte und legte sie dann in den Sarg. Und sie wurde begraben. Natürlich auf dem Friedhof. Sie lag dann, lag dann –… und begann sich zu bewegen. Der Friedhofswärter hört, im Grab bewegt sich was. Er lauschte, lauschte und lief dann zu den Eltern des Fräuleins. Die riefen Leute zusammen, gruben das Grab wieder auf, doch das Fräulein war schon zum zweitenmal tot. Aber man sah, sie hatte sich im Grab bewegt. Ein Bein hatte sie unter das andere geschoben. Der Doktor sagte da, sie wäre im lethargischen Zustand gewesen. Man hat darüber sogar in der Zeitung geschrieben. Ich hab damals meine Mutter und meinen Vater gebeten: Laßt mich nicht begraben, eh ich nicht durch und durch verwest und verfault bin. Soo –….«
Die Kinder lauschten mit verhaltenem Atem. Als er fertig war, heulte die dämliche Polka los:
»Angst!«
Grischka suchte sie zu beruhigen:
»Dumme Gans, was heulst du? Wasjka hat ja nur geschwindelt.«
Wasjka aber beteuerte:
»Mein Wort drauf! Stand alles in der Zeitung geschrieben! Sie hat das Gymnasium oder das Realgymnasium besucht.«
Petjka, ebenso alt wie Grischka, doch herrschsüchtig und streng, schrie sie an:
»Heul nur so, dumme Ziege. Wenn der Wächter dich hört und herkommt, wirst du noch ganz anders heulen. Und du, Wasjka, hör auf mit deinem blöden Geschwätz!«
Wasjka wurde wütend:
»Geschwätz? Stand alles in der Zeitung. Ich hau dir eine runter, dann glaubst du mir schon!«
In diesem Augenblick knallte es im Walde: Bum! Bum! Gleich hinter dem Friedhof begann der Wald.
Die Kinder wurden still.
»Es wird geschossen«, flüsterte Anjutka.
Sie sagte das leise, doch ohne Angst in der Stimme. Alle hatten sie schon mehr als einmal schießen hören.
Grischka zog im Dunkeln wichtig die Augenbrauen zusammen.
»Das sind Erschießungen von Konterrevolutionären.«
»Weshalb?« piepste Polka mit dünner, ängstlicher Stimme.
Petjka antwortete:
»So'ne dumme Gans! Wieviel mal hat man dir gesagt: Weil sie gegen die Sowjetregierung sind!«
Der schweigsame Antropka bewegte sich auf seinem Platz:
»Ich fürchte mich, wenn man auf Menschen schießt. Das tut weh.«
Wieder scholl es aus dem Walde: Bum! Sie wurden ganz still, lauschten gespannt. Sie fürchteten die Toten, doch den Tod selbst kannten sie noch nicht. Die Qualen der Menschen, auf die geschossen wurde, schreckten sie nicht. Nur Antropka zitterte. Er hatte den Krieg in seinem Heimatdorf erlebt. Sein Herz zog sich zusammen. Mit den Tränen kämpfend, sagte er leise und traurig:
»Hätte man sie doch nur mit Gefängnis bestraft!«
Petjka spuckte verächtlich aus:
»Und wenn es ein gemeiner Schuft ist, der selber viele getötet hat? Was soll man mit ihm machen?«
»Ins Gefängnis …«
»Aus dem Gefängnis wird er aber entlaufen und wieder welche töten.«
»Man kann ihn von Soldaten bewachen lassen, dann wird er nicht entlaufen …«
»Er wird aber auch die Soldaten töten.«
»Er hat doch keinen Revolver. Er kann nicht töten.«
Petjka dachte nach und sagte:
»Du bist dumm, Antropka!«
Grischka sagte nichts, dachte:
»Wenn man auf einen schießt, kneift er dann die Augen zusammen?«
Dann sah er deutlich: Ja, er kneift die Augen zusammen! Da verkrampfte sich sein Herz.
Die Schüsse verstummten. Die Kinder warteten lange, ob nicht neue kämen. Doch sie hörten nichts mehr. Der Schlaf kam, schloß ihre Augen, vertrieb die Gedanken. Nur Antropka wimmerte leise im Schlaf.
Am nächsten Morgen schien die warme Sonne. Die Kinder wurden wieder lebendig und froh. Zusammen mit dem Dunkel der Nacht war auch die drückende Angst verschwunden. Sie spielten hinter der Friedhofsmauer Gouvernementstscheka und Erschießungen. Petjka war Vorsitzender der Tscheka. Er tat, als halte er in einer Hand einen Revolver und schieße mit der anderen aus einem Maschinengewehr. Poljka und Anjutka wurden zur Erschießung geführt. Antropka und Grischka spielten die schießenden Soldaten. Grischka kommandierte lustig:
»Kneift die Augen zu! Kneift die Augen zu!«
In den lauten Kinderstimmen klang weder Hohn noch Angst noch Zorn. Die Kinder reproduzierten in ihrer Einfalt das Leben der Erwachsenen. Die Sonne wurde immer wärmer. In dieser Wärme schien eine Verheißung zu liegen: Einmal werden die Kinder ein neues Spiel ausdenken, dieses vergessen.
Das war ein guter Tag. Man feierte die Pariser Kommune. In der Kinderküche gab es zu essen ohne Karten. Die Friedhofsbewohner brauchten nicht lange anzustehen und bekamen satt zu essen. Dann gingen sie zusammen mit der Menge, die rote Fahnen trug, durch die Straßen. Auf den Plätzen waren hohe, mit rotem Stoff bezogene Kisten aufgestellt. Auf den Kisten standen kommunistische Redner, die mit den Händen fuchtelten und laut etwas von der Pariser Kommune schrien. Einer davon gefiel Grischka am besten. Es war ein großer Mann mit langem Haar und lauter, weittragender Stimme. Er lief auf seiner Kiste auf und ab, schüttelte die Haare, schlug plötzlich mit der Faust auf den Rand der Kiste und brüllte:
»Mützen ab! Ich werde von den Märtyrern der Kommune sprechen!«
Er hatte diese Worte so deutlich und wuchtig herausgeschrien, daß Grischka sie behalten konnte. Er schrie dann selber in der Menge:
»Mützen ab! Ich werde von den Märtyrern der Kommune sprechen!«
Eine Frau, durch sein Brüllen belästigt, gab ihm eine Ohrfeige:
»So'n Ferkel! Brüllt wie besessen! Hat keine Ahnung, was das für eine Kommune ist, und macht so ein Geschrei!«
Grischka streichelte seinen Kopf an der Stelle, wo die Ohrfeige ihn getroffen hatte, und rannte lustig weiter. Er soll keine Ahnung von der Kommune haben? Er weiß schon Bescheid! Eine Kommune, das ist bei den Kommunisten, und die Pariser Kommune … Es gibt so 'ne Stadt. Die liegt irgendwo hinter Moskau. Er hatte schon im Kinderheim gehört: »Paris ist eine große Stadt. Siehst du sie, bist du einfach platt!« Nein, Grischka weiß Bescheid! Und wieder rief er in wirbelnder Begeisterung: »Mützen ab!«
Die Menge blieb wieder stehen. Eine Rednerin, –… war es eine einfache Frau oder eine hochwohlgeborene Dame? –… schrie mit dünner Stimme von einer Kiste herab. Man konnte ihre Worte nicht verstehen, doch sah sie komisch aus. Sie sprach mit so viel Eifer. Grischka ahmte auch sie nach. Mit dünner, piepsender Stimme machte er: »Tii-tii«. Und ging weiter. Ein Betrunkener sprang aus der Menge. Er hatte einen guten Mantel an. Seine Mütze mit Ohrenklappen saß schief. An der Brust flatterte eine große, rote Schleife. Er war mager, klein und schielte. Er schrie und fuchtelte mit den Händen:
»Genossen, ich ersuche euch, das Kapital zu stürzen!«
Eine Frau, die anscheinend zu ihm gehörte, faßte ihn am Mantel, doch er wehrte sich, wollte immer wieder zur Rednertribüne:
»Ich bitte euch inständigst, stürzt das Kapital!«
Zwei berittene Soldaten kamen auf ihn zu, faßten ihn an den Armen. Die Menge lachte:
»Da hast du den Sturz des Kapitals.«
»Womit hat er sich nur so vollgesoffen?« fragte voller Neid eine heisere Baßstimme.
Diese Szene gab Grischka neuen Anlaß zur Freude. Er rannte zum Friedhof mit dem lauten Ruf:
»Genossen, ich ersuche euch, das Kapital zu stürzen!«
Eines Nachts wurde der Friedhof umringt. Man fahndete nach irgendeinem großen Verbrecher, fand aber bloß Grischkas Kommune. In der gespenstigen Morgendämmerung schritten die minderjährigen Rechtsverletzer stolpernd, halb schlafend, auf dem bekannten Wege dahin. Die müden Rotarmisten schimpften, schlugen sie aber nicht.