Heinrich Seidel
Neues Glockenspiel
Heinrich Seidel

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Morgenstunde hat Gold im Munde

        Es war ein Prinz im Morgenland,
Der gerne noch des Schlafs sich freute,
Wenn schon der junge Tag sich neute
Und hoch die Sonn' am Himmel stand.
Sein Lehrer war des Reichs Wesir,
Dem diese Trägheit nicht behagte,
Weshalb er oft zum Prinzen sagte:
»Mein junger Fürst, nicht ziemt es dir,
Vom kärglich zugemessnen Leben
Den besten Theil dem Schlaf zu geben,
Das ist ein Raub an theurer Zeit.
Insonderheit die Morgenstunde
Hat nach dem Sprichwort Gold im Munde
Und Frühaufstehn bringt niemand Leid.«
Der junge Prinz ward nicht belehrt
Und hat des Goldes nicht begehrt,
Das Morgenstunden in sich haben.
Sich grade dann am Schlaf zu laben,
Das schien ihm mehr als Schätze werth.
Da sah der Lehrer sich gezwungen,
Den träg gesinnten Prinzenjungen
Allmorgendlich mit eignen Händen
Aus dem geliebten Bett zu senden
Und ihn zu wecken mit Gewalt.
Doch es geriet in Zorn und Kummer
Ob dem gestörten Morgenschlummer
Der junge Prinz und dachte bald
Auf Mittel, um sich zu befreien
Von diesen argen Tyranneien.

Drei Dienern gab er Auftrag nun,
Vermummt sich draussen zu verstecken,
Und käm' dann der Wesir zum Wecken,
So sollten sie nicht eher ruhn,
Bis sie ihn ausgeplündert ganz. –
Das machten diese auch mit Glanz,
Und ganz besonders schön und gründlich:
Als der Wesir drauf morgenstündlich
Sich früh zum Wecken hinbegab,
Da nahmen sie ihm alles ab.
Als dieser nun zu seinem Leide
Zum Prinzen kam im Unterkleide,
Da lachte dieser laut und rief:
»Nun kannst du es ja selber sehen!
Das hast du von dem Frühaufstehen«
Doch der Wesir:
                          »Du urteilst schief!
Denk, was die Räuber heut gewannen,
Da sie ihr Tagwerk kaum begannen:
Den Turban und den Rock von Seide,
Den Gürtel auch zu meinem Kleide –
Mit Perlen war er reich gestickt –
Die Tasche edelsteinbeschwert,
Den Diamantring hoch an Wert,
Und meine Börse goldgespickt!
Die's alles nahmen jene Leute
Als eine leichte Morgenbeute!
Da siehst du doch: Stets lohnt es sich –
Sie standen friiher auf als ich!«

 


 


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