Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kaum hatte Warden das Zimmer verlassen, so überließ sich die Dame von Avenel ganz der Liebe und Zärtlichkeit, die der Anblick des Kindes, die plötzliche Gefahr und die so unvermutete Rettung in ihr wach gerufen hatten, und überhäufte den Knaben, seit sie frei war von priesterlicher Strenge, wie sie das Verhalten des Geistlichen auffaßte, mit Liebkosungen.
Er hatte sich von den Folgen des Unglücks, das ihn betroffen hatte, halb und halb erholt und ließ sich die freundliche Behandlung der schönen Dame, wenn er auch seine Verwunderung darüber nicht verbarg, recht wohl gefallen. Das Gesicht der Dame war ihm völlig fremd und die Kleidung, die sie trug, so schön und kostbar, wie er sie in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Aber der Knabe war von unerschrocknem Temperament und besaß jene den Kindern eigentümliche Gabe, rasch zu merken, wer es gut mit ihnen meint, in hervorragendem Grade. Das freundliche Wesen, das er infolgedessen zeigte, eroberte das Herz der Dame im Nu, und so fiel es ihr in der Tat schwer, sich von seinem Lager zu entfernen und ihm die Zeit zur Ruhe zu lassen, die ihm nach den schweren Minuten, die er nahe dem Ertrinken verlebt hatte, so not tat.
»Wem gehört denn der kleine Knabe, den wir. dem Tode entrissen, haben?« so lautete die erste Frage, die die Dame von Avenel an ihre Kammerzofe Lilias richtete, als sie sich nach ihrem Zimmer zurückgezogen hatte.
»Einer Greisin im Dorfe,« lautete die Antwort, »die grade beim Torwart unten ist, um sich nach ihm zu erkundigen. Ist es Euch genehm, meine Gnädige, daß sie eingelassen werde?«
»Ob es mir genehm sei?« wiederholte mit scharfem Nachdruck die Dame. »Wie kannst Du daran zweifeln, Mädchen? Welche Frau könnte kein Mitleid haben mit der Todesangst, die eine Mutter fühlen muß, der der Verlust eines Kindes auf solche schreckliche Weise drohte?«
»O, gnädige Frau sind in einem Irrtum,« erwiderte die Zofe, »die Frau ist viel zu alt, daß sie die Mutter dieses Knaben sein könnte. Eher vermute ich, daß sie die Großmutter ist oder sonst eine nahe Verwandte.«
»Mag sie sein, wer sie wolle,« versetzte die Dame, »sie muß wohl tiefbekümmert sein, ist doch so lange Zeit schon verstrichen seit dem Unglück, und niemand hat ihr Nachricht über den Verlauf geben können! Geh gleich und bring sie her! Ich möchte gar zu gern wissen, wie es um den Knaben steht, wessen Kind er ist u. s. w.«
Lilias verließ das Zimmer und kam bald wieder mit einem Weibe von ziemlich großer Figur, das zwar ärmlich gekleidet, aber weit sauberer aussah, als man sonst zu finden pflegt bei Leuten, die auf, grobe Kleidung angewiesen sind.
Die Dame von Avenel erkannte die Gestalt auf den ersten Blick wieder. Sie hatte sie hin und wieder Sonntags in der Schloßkapelle gesehen, zu der die Mitglieder der Dorfgemeinde zum Gottesdienst und zu andern kirchlichen Handlungen Zutritt hatten.
Ein Hauptaugenmerk des edlen Ritters von Avenel war die Verbreitung des protestantischen Glaubens in dem Bezirke des Landes, der seiner Machtbefugnis unterstand. Heinrich Wardens Predigten waren hierzu von großem Belang und von großer Wirkung auf das Gemüt seines alten Schulfreundes, des Abtes Eustachius, der sich dadurch immer zu neuem Disput angespornt fühlte und mehr denn einmal schon gedroht hatte, diese sichre Zufluchtsstatt der Ketzerei und des Unglaubens auszurotten mit Stumpf und Stiel. Aber trotz dieses Ingrimms, ja trotz aller Abneigung in der Gegend gegen den neuen Glauben fuhr Heinrich Warden in der Ausübung seiner Lehre fort und gewann alle Wochen für die reformierte Kirche, deren Diener er jetzt war, neue Anhänger.
Unter diesen Proselyten befand sich auch die Greisin, und zwar gehörte sie zu den eifrigsten derselben. Schon wiederholt hatte die Schloßherrin sich erkundigen wollen, wer die große alte Frau mit dem vornehmen Wesen sei, wenn sie ihr unter den Mitgliedern der Kirchengemeinde aufgefallen war. Aber sie hatte immer nur gehört, es sei eine »Englische«, die sich seit einiger Zeit im Dorfe aufhalte, und weiter wußte niemand, über sie etwas zu sagen.
Jetzt fragte sie die Frau, wer sie denn eigentlich sei.
»Magdalene Gräme heiße ich,« erwiderte die Greisin, »und stamme von dem Grämen von Heathergill im Nikolswalde, einem Stamme sehr alter Herkunft.«
»Und was tut Ihr hier, so fern von Eurer Heimat?« fragte die Dame weiter.
»Ich habe keine Heimat,« versetzte Magdalene Gräme, »sie ist verwüstet worden durch Eure Grenzräuber, Mann und Sohn sind mir erschlagen worden, kein Tropfen Bluts ist gelassen worden in den Adern jemands von meiner Sippe.«
»Zu solchen Zeiten wie den unsrigen kein so ungewöhnlicher Fall,« erwiderte die Schloßdame, »und in solch unruhigem Lande wie dem unsrigen erst recht nicht! Englische Hände haben an unserm Blute sich genau so schlimm vergangen, wie schottische Hände an englischem.«
»Das dürft Ihr mit vollem Recht sagen, meine Dame,« erwiderte die Gräme, »erzählt man doch von einer Zeit, da dies Schloß nicht fest genug war, das Leben Eures Vaters zu retten oder Eurer Mutter und ihrem Kinde eine Zuflucht zu bieten. Warum fragt Ihr mich denn also, weshalb ich nicht in der eigenen Heimat und unter meinen Landsleuten lebe?«
»Freilich war's eine überflüssige Frage, Frau Gräme, da doch die Not so oft treibt zur Heimatsflucht. Doch warum nahmet Ihr Zuflucht im Feindeslande?«
»Meine Nachbarn waren Papisten und Meßkrämer, es hat aber dem Herrn im Himmel gefallen, mich zu erleuchten im Evangelium, und ich habe den Aufenthalt hier gesucht um des Predigers Warden willen, der zu so vieler armen Leute Trost das Wort Gottes lauter und wahr kündet.«
»Seid Ihr arm?« fragte die Dame von Avenel weiter.
»Ihr hört wohl nicht, daß ich um Almosen bäte?« versetzte die Engländerin.
Eine Pause trat ein. Das Benehmen der Frau war, wenn nicht unehrerbietig, doch nicht im geringsten entgegenkommend. Sie mochte, wie man sah, von eigentlichem Verkehr nichts wissen. Die Dame von Avenel knüpfte die Unterhaltung wieder an über einen andern Gegenstand.
»Ihr habt wohl gehört von der Gefahr, die Euer Knabe überstanden hat?«
»Allerdings, meine Dame, ebenso, wie er durch Gottes gnädige Fügung errettet worden ist. Möge der Himmel fügen, daß er und ich Euch dankbar sein können.«
»In welcher Verwandtschaft steht Ihr mit ihm?«
»Ich bin seine Großmutter, meine Dame, mit Verlaub, und die einzige Frau, die ihm geblieben ist, Sorge für ihn zu tragen.«
»Es muß doch für Euch eine große Sorge sein, den Knaben durchzubringen,« meinte die Dame.
»Ich habe hierüber zu niemand geklagt,« antwortete die Gräme mit demselben Gleichklange der Stimme, wie sie alle bisherigen Fragen beantwortet hatte.
»Wenn nun Euer Enkel Aufnahme finden könnte in einer vornehmen Familie, möchte das nicht von Vorteil sein für Euch und für ihn?«
»Aufnahme fände in einer vornehmen Familie?« wiederholte die Gräme, indem sie sich zu voller Höhe reckte und die Brauen zusammenzog, bis eine finstre Falte sich tief in ihre Stirn grub, »und wozu? wenn ich bitten darf. Um der Page der gnädigen Frau zu sein oder der Jockei des gnädigen Herrn? um mit dem übrigen Gesinde sich um den Abhub von der Herrentafel zu zanken? Oder soll er von dem Gesichte der Gnädigen die Fliegen scheuchen mit dem Wedel, wenn sie schläft, oder ihr die Schleppe tragen, wenn sie spazieren geht, ihr den Teller reichen, wenn sie ißt? vor ihr herreiten oder hinter ihr hergehen? soll er plärren, wenn sie ihn hören will, und schweigen, wenn sie es befiehlt? Gleichwie der Adler von Helwellyn sich aufhockt und dreht und seine Stellung ändert, um zu zeigen, woher der Wind streicht, soll auch Roland Gräme tun und lassen, wie 's Eurer Laune beliebt?«
Die Frau sprach so schnell und heftig, daß es war, als stände sie unter dem jähen Eindruck einer Furcht, daß dem Knaben eine größere Gefahr drohe, als wie er sie eben erst überstanden habe, und zwar gerade durch die Dame, in deren Obhut er sich befände.
»Ihr mißversteht mich, liebe Frau,« sagte sie in besänftigendem Tone, »ich will ja nicht sagen, der Knabe solle in meinen Dienst treten, sondern in den Dienst meines Gemahls, des edelsten unsrer Ritter. Und wäre er der Sohn eines Grafengeschlechts, liebe Frau, so könnte ihm kein bessrer Unterricht werden in allem was Ritterspflicht und Rittertugend ist, als durch Sir Halbert Glendinning.«
»Gewiß, gewiß,« rief die Greisin wieder in der gleichen Erregtheit wie vordem, nur noch mit bittrerem Hohne, »ich kenne solchen Dienstes Lohn, kenn ihn zur Genüge! glänzt der Harnisch nicht, wie er soll, setzt's ein Donnerwetter; ist der Gurt nicht straff gezogen, wie er gezogen sein soll, gibt's eine Dachtel; Prügel mit der Reitpeitsche, wenn die Jagdhunde nicht parieren wollen; Scheltworte, wenn die Jagd nicht gut ausfällt; wenn's der Herr befiehlt, soll der arme Kerl sich die Hände besudeln mit Tier- oder Menschenblut, soll das erste beste harmlose Wesen hinschlachten, soll Gottes Ebenbild austilgen, wenn's seinem Herrn ein Dorn im Auge ist, soll das Leben von Straßenräubern führen, von gemeinen Banditen, soll Hunger und Durst, Hitze und Kälte leiden, soll alle Entbehrungen eines Einsiedlers ertragen, nicht aus Liebe zu Gott, sondern im Dienste Satans; soll am Galgen verenden oder im ersten besten Winkeltreffen sich erschlagen lassen, soll das Leben verschlafen in bequemer Befriedigung der Fleischeslust, um zu erwachen in der ewigen Glut, die nimmer erlischt!«
»Aber so redet doch nicht dergleichen abscheuliche Dinge!« sagte die Schloßdame, »Euer Enkel soll hier der Gefahr solch verruchten Lebens nicht ausgesetzt werden! Mein Gemahl ist bekannt als gerecht und milde gegen alle, die unter seinem Banner leben; und daß junge Leute an unserm Kaplan einen wenn auch strengen, so doch gerechten Lehrer und Führer haben, wißt Ihr so gut wie ich.«
Die Greisin schien mit sich zu Rate zu gehen; wenigstens fuhr sie fort:
»Ihr habt des einzigen Umstands Erwähnung getan, der im stande sein könnte, bestimmend auf mich zu wirken. Denn ich muß bald von hinnen, so hat's die Erscheinung gekündet. Ich muß weg ... weg ... mein Verhängnis jagt mich ... Wollt Ihr schwören, Euch des Kindes anzunehmen wie Eures eignen, dann will ich drein willigen, mich auf eine gewisse Zeit von ihm zu trennen. Vor allem gelobt mir, daß er den Unterricht des frommen Mannes nicht missen soll, der die Wahrheit des Evangeliums so hoch erhoben hat über das armselige Wissen und Lehren jener armseligen Tröpfe, mit der Tonsur, jener Klosterbrüder und Mönche und Kuttenträger!«
»Beruhigt Euch, liebe Frau,« sagte die Schloßherrin, »es soll für den Knaben gesorgt werden, wie wenn er mein Fleisch und Blut wäre. Sagt, ob Ihr ihn nicht sehen wollt?«
»Nein,« versetzte die Gräme strengen Tones. »Es ist schon genug, wenn man scheiden muß. Ich ziehe fort, weil mein Beruf mich ruft. Ich mag das Herz nicht erweichen durch Wehklagen und Flennen, als sei ich eine von denen, die einen Ort verlassen, ohne daß die Pflicht sie ruft.«
»Wollt Ihr nicht eine Unterstützung annehmen, die Euch die Wanderschaft erleichtert?« fragte die Dame von Avenel, indem sie ihr zwei Sonnenkronen in die Hand drückte.
»Bin ich vom Stamme Kains, daß Ihr das eigne Fleisch und Blut abfeilschen wollt durch sündiges Gold, stolze Dame?« fragte die Gräme.
»So habe ich es nicht gemeint, Frau,« erwiderte freundlich die Dame, »auch bin ich die stolze Dame nicht, wie Ihr meint. Wäre mir Demut nicht angeboren, so hätt mich das eigne Schicksal sie wohl gelehrt.«
Es schien, wie wenn die Greisin von ihrem strengen Tone nachlassen wolle.
»Ihr seid von edlem Blute,« sagte sie, »sonst hätte unsre Zwiesprache so lange nicht gedauert. Für edles Blut,« setzte sie hinzu, und ihre hohe Gestalt reckte sich noch höher, »ist Stolz so schicklich wie für den Helm die Feder. Aber dieses Gold müßt Ihr schon wieder an Euch nehmen. Denn ich brauche es nicht .. Lebt wohl und haltet Wort. Laßt die Tore öffnen und die Brücken niedergehen. Ich will noch in dieser Nacht fort. Wenn ich wiederkehre, dann werde ich strenge Rechenschaft von Euch fordern, denn ich lasse das Kleinod meines Lebens in Euren Händen, und bis ich Roland Gräme wiedergesehen habe, wird der Schlaf mein Auge fliehen, wird Trank und Speise mich nicht erquicken, wird keine Ruhe meine Kraft erneuern ... und nun lebt nochmals wohl, ich scheide.«
»Verneigt Euch, Frau,« sagte die Zofe zu der Frau, als sie das Gemach verlassen wollte ohne alle Bezeigung von Höflichkeit, »verneigt Euch und bedankt Euch bei Euer Gnaden für die Güte, die sie Euch erweist, denn so gebührt es sich für Euch.«
Da drehte die Greisin sich plötzlich um und fuhr die aufdringliche Zofe an: »Mag sie sich verneigen vor mir, und dann will ich ihr dafür danken. Weshalb soll ich mich beugen vor ihr? Etwa weil sie ein seidnes Mieder anhat und ich eins aus Drillich? – Still, mein Persönchen, still! Der Rang des Mannes bestimmt den Rang des Weibes, und wer einen Bauernsohn heiratet, die bleibt eine Bauersfrau, und wär sie auch eines Königs Tochter.«
Die Zofe wollte der Greisin zornig antworten, aber die Schloßherrin legte ihr Stillschweigen auf und hieß sie die Greisin heil und gesund nach dem Festlande bringen.
»Die, und heil und gesund?« rief die Zofe, während die Gräme aus dem Gemache schritt, »in den See soll man sie schmeißen, dann wird sich ja zeigen, ob sie eine Hexe ist oder nicht! sagen tut's ja jeder drüben im Seedorf und beschwören würde es auch jeder. Wie Euer Gnaden sich den Hochmut von solchem Weibe so lange hat bieten lassen, muß mich wirklich wundern.«
Aber die Befehle der Schloßdame wurden pünktlich erfüllt, und die Greisin aus dem Schlosse geführt, dann aber ihrem Schicksal überlassen. Die Greisin hielt Wort; noch in derselben Nacht, in der dieses Gespräch stattgefunden hatte, verließ sie das Dörfchen, ohne daß jemand gefragt hätte, wohin sie des Wegs ziehe. Die Dame von Avenel ließ sich erkundigen, unter welchen Umständen sie ins Dorf gekommen sei, konnte aber weiter nichts in Erfahrung bringen, als daß sie die Witwe eines Mannes von Rang und Bedeutung unter den »Grämen« sein müsse, die zur damaligen Zeit »das bestrittene Land« bewohnten, unter welchem man einen Landstrich verstand, der zwischen Schottland und England häufig der Anlaß zu Streit und Fehde gewesen war, und daß sie bei einer solchen um Land und Mann gekommen sei. Wie sie ins Dörfchen gekommen sei, konnte niemand sagen, auch nicht, in welcher Absicht, einige hielten sie für eine Hexe, andre für eine versteckte Katholikin. Sie redete in einer geheimnisvollen Zunge und hatte eine Art und ein Benehmen an sich, das jedermann abstieß. Alles, was sich aus den Reden der Leute entnehmen ließ, schien darauf hinzudeuten, daß sie unter dem Einfluß eines Zaubers oder Gelübdes stand, denn sie redete oft, als handle sie nach einer starken, von außen auf sie einwirkenden Macht. Aber welcher Art dieselbe war, darüber konnte sich niemand eine Meinung bilden.
Das waren nun freilich nicht Auskünfte, die einen befriedigenden Schluß gestatteten. Aber weiteres in Erfahrung zu bringen, wollte, wie gesagt, nicht gelingen.
In den Grenzstrichen war damals zwischen den Bewohnern häufiger Wechsel, so daß der Anblick flüchtiger Leute nicht dazu angetan war, Verwunderung zu wecken. Man gab ihnen, was man entbehren konnte, wenn es auch nicht viel war, denn man hatte in der Regel selbst bloß so viel, wie man grade brauchte. Aber man stand unter dem Eindruck, daß man morgen, was man heute verweigere, selbst brauchen könne, und das war der eigentliche Trieb, der über Not und Elend am besten hinweghalf. So war Magdalene ins Dorf gekommen und so schied sie wieder aus dem Dorfe, ohne daß jemand hätte erfahren können wohin; wie ein Schattenbild war sie erschienen und wie ein Schattenbild verschwand sie wieder aus der Gegend des Schlosses.
Der Knabe, der auf so merkwürdige Weise der Schloßherrin zugeführt worden war, wurde mit einem Male ihr ausgesprochner Liebling. Und wie hätte es anders kommen sollen? Durch ihn schwand das düstre Einerlei, unter dessen Banne die Schloßherrin bisher gestanden hatte. Ihm in all den Dingen Unterweisung zu geben, die sie verstand, wurde ihr eine unsägliche Freude. Ueber seinen Spielen und andern Zerstreuungen zu wachen, bildete für sie eine Lieblingsbeschäftigung. Der junge Roland war für die Dame von Avenel, was dem unglücklichen Gefangnen in seinem Kerker die Blume ist, die einsam auf seinem Fenstersimse blüht, und die er hegt und pflegt sorgfältiger als sein Leben; sie besaß an ihm ein Wesen, das ihre Fürsorge nicht allein in Anspruch nahm, sondern auch vergalt und lohnte, so daß sie also, während sie ihm einerseits ihre Neigung zuwandte, anderseits sich ihm gewissermaßen zu Dank verpflichtet fühlte, weil er sie aus dem öden Einerlei erlöste, zu welchem sie verurteilt war, sobald ihr Mann nicht auf dem Schlosse sich aufhielt. –
Aber selbst die Anmut ihres neuen Lieblinges war nicht im stande, die Besorgnisse zu verscheuchen, die das Ausbleiben ihres Mannes in ihrem Herzen wachrief. Endlich, endlich kam ein Reitknecht, der die Meldung vom Schloßherrn brachte, daß er noch am Hofe von Holyrood aufgehalten sei, daß ihm so ernste Geschäfte oblägen, daß er noch einige Zeit von seinem Schlosse fernbleiben müsse; aber auch die Zeit, die er als äußerste Frist für sein Fernhalten bezeichnet hatte, verstrich, und er kam nicht und kam nicht. Und so folgte auf den Sommer der Herbst, und auf den Herbst der Winter, und Sir Halbert Glendinning hatte noch immer den Weg zum Schlosse nicht zurückgefunden.