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In der Nacht nach seiner Reise lag Flattich wach. Die Nacht war lang, doch ohne Grauen, eine schwäbische Nacht mit viel weißen Wolken, in der das Herz betet und wacht, wo die Seele im Innersten daheim und der Geist aus der leiblichen Natur heraustritt wie aus der Mutter. Am Morgen kam die Frau des Bauern Nothwang, die seiner Frau in ihrer schweren Stunde beigestanden hatte, an die Tür seiner Schlafkammer und sagte: »Steht auf, lieber Herr! Gott hat Euch eine Tochter geschenkt.«
Da war Flattich schnell auf den Beinen, dankte dem Himmel, daß alles so gut abgegangen war, und eilte ans Bett seiner lieben Margarete. Sie fühlte sich zwar schwach, ordnete aber ruhig an, was für den Tag zu tun war. In ihren stillen Augen war weder Schmachten noch Krankspielen, wie es die städtischen Mütter leicht in der Mode haben und damit den Mann wissen lassen, was sie Großes für ihn getan und wie dankbar er nun dafür sein müsse!
Ein zärtlicher Kuß, und mehr nicht! Flattich nahm das kleine Geschöpf in die Arme und fand es so vernünftig wie seine Mutter; es blinzelte mit anmutiger Neugier ein bißchen ins Licht und begehrte alsbald wieder zu schlafen, nachdem es einen Vorgeschmack von der Welt zu sich genommen hatte. Lassen wir nun die drei in ihrem zärtlichen Glück allein, das sich nicht dazu eignet, ausgestellt zu werden, und gehen wir gleich über zur Taufe, die nach wenigen Tagen in der Metterzimmerner Kirche stattfand und wozu nicht weniger als sieben Pfarrer der Umgegend eingeladen waren.
Der Taufschmaus, der im Pfarrhause gehalten wurde, vereinigte die Pfarrherren von Thamm, Möglingen, Markgröningen, Asperg, Großsachsenheim, Bissingen und Bietigheim zu einem festlichen Mahl in der großen Stube. Damit die Wöchnerin auch ihren Anteil habe an der Gesellschaft, machte man die Tür zur angrenzenden Schlafstube auf, wo Margarete in einem hübschen Negligé in ihrem Bette saß und die Glückwünschungen der Pfarrherren und ihrer Frauen, die sich abwechselnd an ihr Bett begaben, mit ungekünstelter Mutterfreude entgegennahm. Das Töchterchen wurde bei dieser Gelegenheit recht oft herumgezeigt, bemuttert, bevätert und mit seinem verheißungsvollen Namen angesprochen, worüber es sich auf seine Art erfreute und frühe genug einen Blick tun konnte in die Welt des geistlichen Standes, dem es als Pfarrerskind für immer angehören sollte.
Als auch Vater Flattich die üblichen Glückwünschungen entgegengenommen hatte, setzte man sich zu Tisch und ließ es an einem gesunden Appetit nicht fehlen. Nach der Sitte der Zeit wurde darnach ein türkischer Kaffee serviert, den die Gesellschaft teils sitzend, teils stehend schlürfte, wobei sich Gelegenheit gab, Flattichs kleine Habseligkeiten, die das Zimmer schmückten, in Augenschein zu nehmen. Da stand linkerhand, wenn man in die Stube eintrat, ein kleiner polierter Schrank, auf dem die Büste Vater Bengels thronte, ein geisterweißes Prophetengesicht, das gleichsam durch die Wände blickend die göttliche Ökonomie im Weltenraum zu ahnen verstand. Auf dem Gesimse an einem der Fenster stand ein kleiner Globus, in dessen Gestelle Flattich bisweilen mit lässiger Hand die kleine Welt bewegte, wenn ihm die Stunden des Lebens zu schwer wurden. Zwischen den beiden Fenstern, die einen weiten Blick aufs Tal der Enz gewährten, hingen die Bilder seiner Eltern, die dem Irdischen schon näher, auf die kleine Taufgesellschaft eben jetzt mit einer Milde und Freude herniederblickten, als verspürten sie das Glück der Stunde leibhaftig.
Erwähnen wir noch die offene Tür nach dem nebenliegenden Schlafgemach der Frau und eine halbaufgezogene spanische Wand davor, so sind wir, die kleinen Sitz- und Liegemöbel sowie einen großen bequemen Familientisch dazu genommen, rundherum gekommen und haben nichts Wichtiges unerwähnt gelassen!
Man war noch nicht viel über die landläufigen Bemerkungen über Wetter und Gesundheiten hinausgekommen, als sich die Tür öffnete und zwei hübsche Bauernmädchen in der kleidsamen Tracht ihrer Gegend mit Bänderhäubchen, Faltenrock und weißen Strümpfen die Stube betraten, um die Gesellschaft herumknicksten und zuletzt der freundlichen Wöchnerin in der Schlafstube ihre ländlichen Gaben, bestehend in Butter, Honig, Eiern und Speck, zum Geschenk auf das breite Bett legten. Der blinde Thammenser ließ sich ihre Anmut von Flattich aufs genaueste beschreiben, und da er des Augenlichtes entbehrend wenigstens ihre lieblichen Stimmen genoß, sagte er ihnen auf den Kopf zu, daß sie prächtig singen könnten, und erbat sich einen Zwiegesang, den die beiden für einen solchen Fall schon parat hatten und alsbald ein bäuerliches Duett miteinander zum besten gaben, das der herzoglichen Oper in Ludwigsburg alle Ehre gemacht hätte!
Als die Mädchen gegangen waren, kam der Schreinermeister Schlumpp, ein Metterzimmerner Gottesfreund, und stellte der glücklichen Mutter eine neugezimmerte, buntgestrichene Wiege neben das Bett. Er wünschte, daß sie noch viele Töchterchen und Söhnchen darin wiegen möge, machte der Gesellschaft seinen geziemenden Bückling und wurde zu einer Tasse Kaffee genötigt, den ihm die Pfarrersfrauen einzuschenken wetteiferten, denn jede wollte eine so hübsche Wiege ihr eigen nennen, woraus sich denn gleich ein anständiger Handel ganz von selbst entwickelte. Der Handwerksmeister ging, nachdem er versprochen hatte, in all den Pfarrhäusern, in denen sich alsbald neues Taufglück einstellen sollte, seinen Besuch zu machen. Nun war es an der Zeit, ein würdiges Gespräch in Gang zu bringen, und der Thammenser fragte den glücklichen Papa:
»Lieber Flattich, du hast deine Tochter auf den Namen Veronika getauft; ein Name, der bei uns in evangelischen Landen einigermaßen selten vorkommt. Was hat dich bewegt, dem lieben Kinde diesen holden und kostbaren Namen zu geben? Denn daß du ihn nur aufs Geradewohl gewählt hast, dürfen wir bei deiner findigen Art kaum annehmen! Willst du dich nicht ein wenig darüber hören lassen?«
Ei, das war nun eine Frage, die alle Anwesenden, die Frauen eingeschlossen, schon beschäftigt hatte, und der Thammenser erntete für seine Rede die allgemeine Zustimmung.
Flattich antwortete: »Veronika – ich darf wohl den Schulzipfel ein wenig herausgucken lassen – hat seinen Ursprung im griechischen Pherenike, das heißt Siegbringerin und hat mir, da ich an einen passenden Namen für das Kind dachte, von allen am besten gefallen!
Nun wird oder soll das Töchterchen ja keine Heldin auf dem Schlachtfelde, keine gewappnete Schäferstochter wie die berühmte Johanna von Orleans werden, Sieg aber darf sie allerwegen bringen, sich selber, ihrem Leben und ihrer annoch schlummernden, aber schon gottverschriebenen Seele!« –
»Ich will aber nicht verschweigen,« fuhr Flattich bescheiden fort, »daß ich den Namen auch in Hinsicht auf gewisse Nöte und Umstände in meinem und meiner Frau Leben gewählt habe; Nöte, die mit Gottes Hilfe überwunden worden sind in demselben Augenblick, als sich das Kind angemeldet hat. Ihr wißt, daß ich mir in meiner neuen Gemeinde am Anfang schwer getan habe, aber die Freundschaft einiger redlicher Männer von hier, die sich zu den vielfach gelästerten Pietisten zählen, hat mir allgemach den Boden bereitet für ein besseres und schöneres Wirken, so daß ich jetzt sagen kann: Sieg und wiederum Sieg!
Zum Andenken an die gute Wendung habe ich das Töchterchen so getauft – und ich vermeine, daß mir der reine Geist des lieben Kindes weiterhin ein Geleit und Trost sein wird, vom Kampf zum Sieg zu schreiten!«
»Wir danken dir, lieber Flattich,« erwiderte darauf der Thammenser tiefgerührt, »daß du uns Einblick gegeben hast in deine inneren Zustände, und wir wollen bei Gott hoffen, daß deine siegbringende Tochter Zeuge deiner guten Laufbahn bleiben wird bis zum endgültigen letzten Siege! Laß dich umarmen, alter Junge!«
Die beiden Freunde erhoben sich und gaben sich die Versicherung einer dauernden Freundschaft über den Tod hinaus, der sich die anderen Pfarrherren aufs herzlichste anschlossen, nicht zuletzt der Asperger, der sich's nicht nehmen ließ, seinem Freunde immer wieder zu versichern, daß er ihn nun ebenso sehr schätze und verehre, wie er ihn zuvor verkannt hatte, worauf die beiden ans Bett der Frau traten und sich ihre Freundschaft durch ihre Zustimmung besiegeln ließen. Ein edles Gespräch ging den Pfarrherren über alles, darum baten sie Flattich, als er wieder an den Tisch zurückkehrte, ihnen zu sagen, was er für das höchste Glück seiner Tochter erachte und was er ihr von Herzen für ihr Leben wünsche. Flattich erwiderte: »Ein fröhliches Herz macht die Hauptglückseligkeit unseres Lebens aus, und das wünsche ich meiner Tochter vor allem anderen!«
»Ein fröhliches Herz« murmelten die Pfarrherren reihum, einige nickten zustimmend, andere wiegten zweifelnd den Kopf, und da sich keine Einigkeit ergab, bat der Thammenser: »Begründe, Flattich, warum ein fröhliches Herz das höchste Glück auf Erden sein soll!«
Wir wollen nun im einzelnen Flattichs Begründungen und Ausführungen nicht wiederholen, nur die wichtigste Seite seiner Rede ›Wie kriege ich ein fröhliches Herz?‹ sei an dieser Stelle herausgehoben!
Er sagte: »Weil an der Frage ›Wie kriege ich ein fröhliches Herz?‹ beinahe alles gelegen ist, will ich die Antwort geben: Es kommt von Gott! – Manche glauben, durch Ergötzung und Vergnügen bekämen sie ein fröhliches Herz, sie bekommen aber nur den Katzenjammer davon. Auch wenn einer leidlich gesund ist oder eine gute Heirat macht, könnte man meinen, er müsse fröhlichen Herzens sein. Es ist aber leider so, daß sich mancher dann so sehr um Leib und Gut sorgt, daß die Fröhlichkeit bald über Feld pfeift und ein trauriger Griesgram zurückbleibt! Nur wenn Gott uns seinen Frieden ins Herz reicht und wir in der Furcht Gottes bleiben, werden wir ein fröhliches Herz empfangen. Dazu gehören noch einige Fähigkeiten im Kleinen und im Großen, das fröhliche Herz zu kriegen, und an diesen Punkten kann man selber etwas tun. Schon das friedliche Antlitz eines Menschen kann uns erheitern. Das unschuldige Spiel der Kinder oder der Kreatur kann uns zum höchsten Entzücken hinreißen. Noch weiter gehört zum Glück eines fröhlichen Herzens, daß man seine Zunge beherrscht. Ungutes Reden vom Nächsten, Kritisieren, Vergleichen und Neiden verdirbt den Herzenssaft, daß er schwarz wird wie Galle. Dann ist bald von der Fröhlichkeit nichts mehr zu spüren! Ein fröhliches Herz kritisiert nicht, sondern es singt, es plaudert, es jubiliert und psalmodiert, es redet vernünftig und doch nicht wichtig, es übertreibt nicht und schmälert nicht, es gibt sich redlich und ist guter Dinge, es wechselt nicht allzusehr, es sucht den Frieden und die Seligkeit. Es ist immerfort wach, ist wie ein Salz und düngt die andern, es schmeckt nicht fade und nicht pikant. Es hüpft bisweilen, aber es fackelt nicht und bleibt genau auf der Richtschnur der Wahrheit. Es seiltanzet nicht, sondern bleibt auf dem Boden, es vergnügt uns, wenn wir es bei andern spüren, und läßt uns keine Ruhe, bis wir es selber haben! Und das ist sein höchstes Glück, daß wir es anderen verleihen dürfen, denn allen will es gehören, alle will es glücklich machen!«
Flattich erntete lauten Beifall für sein ›fröhliches Herz‹, und die ansteckende Wirkung zeigte sich sogleich.
Die anwesenden Frauen blickten ihren Männern auf einmal viel freundlicher ins Gesicht, einige der Pfarrherren erhoben sich und wandelten in befiedertem Tanzschritt durch die Stube, als müßten sie probieren, ob sie das Herz schon in sich spürten, andere klopften Flattich auf Schultern und Rücken zum Dank für sein gutes Wort, und einer fuhr gar rittlings auf seinem Stuhl durch die Stube, so sehr war er davon angesteckt!
Lachen und Scherzen nahm kein Ende, bis die Pfarrherren bei anbrechender Nacht die Wagen einspannen ließen, um heimfahrend einen schönen Tag in freundlichem Nachdenken zu beenden.