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Von etlichen Briefen, die enthalten, wie es im Süden war, ist und sein wird. – Von allen Neumeyers in der alten Engelapotheke und sonst! – »Heut – Beste Zeit!«
Nun bliebe im ganzen nicht mehr viel weiteres zu erzählen, denn unsere Familiengeschichte nähert sich der Gegenwart. Immerhin aber liegt noch eine Anzahl Briefe vor mir, die, in der Neumeyerischen Familie gewechselt, uns über manches Aufschluß geben können, und wen's interessiert, der mag sie auch noch lesen.
Nach der fröhlichen Verlobung am Silvesterabend folgte das Jahr darauf eine ebenso fröhliche Hochzeit in der alten Engelapotheke, in der alle die uns bekannten Menschen versammelt waren, nur Hans nicht, der zu allgemeinem Bedauern telegraphiert hatte, er müsse heute früh einen Flug machen und könne somit leider erst nach dem Festmahl erscheinen.
»Hätte er da nicht auch ausnahmsweise einmal um Urlaub bitten können?« sagte die Mutter recht ärgerlich und wunderte sich, wie gleichgültig, ja fast mit einem kleinen Lächeln der Vater diese Nachricht aufnahm. Als aber die Trinksprüche ausgebracht wurden, und als der Herr Stadtrat gerade sein Glas erhob, um das junge Ehepaar hochleben zu lassen, da surrte und brummte es in den Lüften, und Rico war der erste, der rief:
»Kommt alle, das ist Hans!«
Wie sprang da jedes von seinem Sitze und eilte an die Fenster. Und am hellen, strahlenden Winterhimmel hob sich in größter Nähe ein Flugzeug ab, das langsam, fast die Dächer streifend, über den alten Marktplatz dahinschwebte, und in dem ein Mann saß, deutlich erkennbar, der Blumen über den Marktplatz flattern ließ und eine kleine Fahne schwenkte. Gleich darauf fand Jakob, der gerade in einem Kübel Eis zum Kühlen des Festweines holte, eine aus dem Flugzeug herabgeworfene Karte, auf der stand:
»Fliegerheil dem jungen Paar und allen Gästen!«
Und bald darauf trat auch Hans herein, vom Jubel der ganzen Gesellschaft empfangen. Sein noch vor ein paar Jahren ausgesprochener, damals unausführbar scheinender Wunsch war nun erfüllt, und niemand zweifelte mehr daran, daß auch Ricos Prophezeihung in Erfüllung gehen könne, den Schwager bald über Neapel schweben zu sehen.
Und nun zu den Briefen, die im folgenden Jahre gewechselt wurden, die vor mir, mit einem grünen Bändelein umwickelt, liegen.
Brief von Miezi Montane an die Eltern in L.
»Neapel, im Februar 19..
Geliebte Eltern!
Nun sind wir hier angekommen, und mein Herz ist voll Glück und Freude über das Herrliche, was wir alles erlebten und wie wir hier empfangen wurden! Von unserer Hochzeitsreise, von unserem kleinen Aufenthalt in Luzern, wo wir Mutter und Tochter Stadelmann begrüßten und dem Vreneli die Grüße von Rike brachten, ging es in kleinen Tagesreisen immer mehr dem Süden zu und damit auch dem Frühling entgegen. Mein Rico wurde immer lebhafter und bewegter, je mehr er sich seiner Heimat näherte, und auch ich konnte es kaum erwarten, mein geliebtes Neapel wiederzusehen. Das wäre mir entsetzlich gewesen, die Villa Gigina, in der wir für die ersten Tage abstiegen, da unsere Wohnung im Kinderheim noch nicht ganz vollendet ist, in fremden Händen zu sehen. Warf es doch auch so einen Schatten auf unser Glück, die liebe Tante nicht mehr wiederzufinden. Vater hat sich, nachdem ja leider der lieben Tante Möbel in der Kriegszeit verschwunden waren, einfach, aber behaglich wieder eingerichtet. Unten hat er sein Arbeitszimmer und seinen Salon und ein Empfangszimmer für etwaige Gäste, oben bewohnt nun unser Engele die Zimmer, welche die Mutter inne hatte. Sie ist vorerst wieder unter der Obhut ihrer Peppina. Ob das von ihr so gefürchtete Fräulein nötig ist, muß sich erst erweisen, denn vorderhand ist ja der Vater da, und wir auch. Und wir werden schon Sorge tragen, daß bei unserem Engele ihre deutsche Erziehung nicht wieder zunichte wird. Gleich am andern Tag gingen Rico und ich in unser neues Heim, das wohl ziemlich entfernt liegt, aber mit der Trambahn von Vaters Wohnung aus in ein paar Minuten zu erreichen ist.
O, wie wunderbar herrlich ist es da draußen, fast wie im Himmel! (Hans, der Schlimme, würde sagen: Warst du schon dort?) Und die lieben, dunklen Augen von meinem Rico leuchteten, als er das schöne, zweckmäßige Gebäude sah, in dem er künftig wird walten dürfen. Ein Saal und einige Zimmer sind schon belegt von kleinen und größeren Kindern, die erstaunt auf uns blickten, als wir sie herzlich begrüßten. Wie nett sahen sie aus in ihren weißen Nachthemden und Bettchen. An manche, in der weißen Umgebung noch dunkler erscheinende Gesichtchen werde ich mich noch gewöhnen müssen. Aber unsere Angela ist ja auch ein solches Kind, und ich bin das Fremdartige dadurch schon gewohnt. Nun will Rico weiter schreiben, drum nur schnell noch folgendes: Wir werden in den nächsten Tagen Besuche machen müssen bei allerlei früheren Bekannten des Hauses und auch bei etlichen Verwandten von Rico. Und ich bin so froh, daß Rico rühmt, von der Feindschaft während der Kriegszeit bemerke man nichts mehr, und er sei sicher, daß seine gutherzigen, leichtlebigen Landsleute es die junge Frau nicht entgelten lassen werden, daß sie eine Deutsche ist. Nur schnell das noch, Mutterle. Wenn ich nur wüßte, ob ich zum Besuchemachen mein Lindenblütenfarbenes oder mein Lila anziehen sollte? Ich bin halt noch gar nicht gewohnt, so selbständig zu handeln. Und wie manches sonst, Mutterle, möchte ich dich fragen können, aber …
Eure glückliche, dankbare
Miezi.«
(Andern Tags!) »Auch ich will nur ein paar Worte beifügen, denn zu mehr reicht es heute leider nicht. Liebe Eltern, das habe ich gar nicht gewußt, daß man so unbändig glücklich sein kann! Und daran seid Ihr schuld, denn Ihr habt mir Euer Liebstes gegeben, und dafür küsse ich Euch immer wieder die Hände. Wenn Ihr mein Miezikind hättet sehen können, wie reizend, so echt deutsch, sie gestern in ihrem »Lindenblütenfarbenen«, wie sie's nennt, bei den Besuchen ausgesehen hat, wie wacker sie sich benommen hat unter all den fremden Leuten, und wie drollig dabei ihr ja noch mangelhaftes Italienisch geklungen hat!
Vater ist so glücklich, nicht mehr allein zu sein, und unsere Angelina ist glückselig, daß wir alle vereint hier sind. Was Vater anbetrifft, so fällt es ihm freilich nicht leicht, jetzt nicht mehr obenan zu stehen, sondern, wenn auch auf ziemlich selbständigem Posten, Angestellter zu sein. Es ist aber großartig, wie er dies und ebenso den großen Verlust an seinem Vermögen trägt. Immerhin aber ist ihm soviel geblieben, daß er und vorerst wir zwei, wenn auch bescheiden, aber doch anständig leben können. Werd ich aber erst einmal ›Chef‹ sein – o, wie stolz das klingt – und meine kleine Frau die Vorsteherin, so bin ich am Ziel meiner Wünsche angelangt.
Euer dankbarer und getreuer Pflege- und Schwiegersohn
Rico Montane.
N. S. Den lieben Vater bitte ich, in seinem nächsten Brief mein ›Fraule‹ darüber beruhigen zu wollen, daß sie nicht noch das Apothekerinnenexamen machen konnte. Soweit, wie sie die Hilfe des Vaters war, wird sie auch die meinige sein in der kleinen Apotheke, die für alltägliche Fälle in der Klinik eingerichtet wird. Wer den guten Willen zu einer Sache hat, und wo auch noch die Liebe dazu kommt, da bedarf es meiner Ansicht nach nicht in allen Fällen eines Examens!«
Und zu den beiden Briefen des jungen Paares wurde auch noch ein kleines Briefchen von Angela eingeschoben. Das Briefpapier trug eine mit Palmen umränderte Abbildung des Vesuvs oben herüber, und die Kleine schrieb:
»Wenn alle schreiben, schreib ich auch, denn ich hab's Euch versprochen, und ich will es halten. Die Reise mit Papa war sehr lustig, nur hat er manchmal gesagt: ›Wenn du doch bloß einen Augenblick ruhig sein könntest!‹ Aber Ihr wißt, das kann ich eben schwer! In Luzern, von der lieben Ruth Stadelmann hab ich eine große Schokoladetafel erhalten mit einem Löwen darauf und ein Berner Püppchen. Das Vreneli, das noch bei ihnen ist, hat gleich gefragt: ›Bischt noch immer es bitzeli wild?‹ Beim Abschied aber hat sie mir ein Bildlein geschenkt, das, wenn man's anbläst, in die Höhe steigt und Menschenhaut heißt. Auf dem steht: ›Des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist!‹ Aber gelt Tantele, auf den Boden hinliegen und mit den Füßen strampeln, das tat ich doch nur, wie ich noch ganz klein war? Meine Peppina sagt, ich sei unheimlich brav geworden. Aber als ich neulich auf der Straße mit ihr ging, und ich gesehen habe, wie ein Mann seinen Hund, der an einem Karren zog, so schlug, daß er blutete, da hab ich doch wieder geschrien vor Zorn und habe selber den Karren ziehen wollen, was aber Peppina nicht litt. Emmanuele, der Mann von Peppina, ist nicht so, er singt wunderschön Santa Lucia, und ich habe schon mitgesungen. Daß die Kinder von meiner Peppina, sie hat jetzt vier, so gar arg schmutzig und auch unartig sind, das habe ich nicht gewußt. Und sie will deshalb gar nicht, daß ich viel zu ihnen und zur Nonna Rosalia gehe, aber manchmal tu ich's doch, denn ich habe sie gern. Rico sagt, wir nehmen sie auch einmal zu uns und lehren sie brav sein, aber ich fürchte, sie sind dann nicht mehr so nett. Tante Maria, hast Du nicht Heimweh nach uns? Ich nach Dir und dem Onkel schon, aber der Putzi und die Inge brauchen mich nicht, die haben mich doch zuletzt gar nimmer mitspielen lassen. Meinen Mädels in der Schule aber viele Grüße, und ich schicke ihnen italienische Briefmarken, und an Fräulein Hermann auch so ein Bildchen vom Vesuv. Mein Vater meint, ich soll Euch, so wie ihm damals, in kleinen Abschnitten schreiben, die hätten ihn damals so gefreut. Aber das kann man hier nicht, weil immer schönes Wetter ist, und weil man doch auch nicht ewig fortmachen kann. Der Rike schreibe ich aber bald einen eigenen Brief.
Euer Euch heiß liebendes
Engele.«
Diesem Sammelbrief aus der ersten Zeit folgten noch regelmäßig manche andere, die wir beiseite liegen lassen. Aber die letzten Briefe, die nach dem ersten Jahr des Aufenthalts in Italien zwischen dem jungen Paar und den Angehörigen in L. gewechselt wurden, die dünken mich wichtig, und ich möchte sie noch in diesem Buch haben.
Brief von Vater Neumeyer an das junge Paar in Neapel.
»Liebe Kinder!
August 19..
Alles, was Eure Briefe enthalten, ist uns so wichtig, und gottlob ist es auch immer Gutes! Mit welcher Besorgnis verfolgten wir einst Eure Übersiedlung, und wie glücklich macht es Mutter und mich, daß Euch Euer schöner Wirkungskreis befriedigt. Ihr beschreibt so hübsch Euren Tageslauf, und wie Du, mein Miezel, Deinem Manne helfen kannst nicht nur bei den kranken sondern auch bei den ungezogenen Kindern, deren es in Eurer Waisenabteilung scheint's viele gibt. Nett ist's, daß Du, Herzenskind, Dir zwei von Nonna Rosalias Enkelein als Deine Helferinnen anlernst. Aber leicht mag's nicht sein, sie von den belebten Struwwelköpfen an bis zum Begriff von Seife und frischer Wäsche zu belehren. Ich weiß noch wie heute, mit welchem Graus unsere Rike damals an solche Arbeit ging, obgleich die Peppina scheint's ein weißer Rabe unter ihrer Familie war und noch ist.
In der Apotheke vermisse ich Dich, liebes Kind, am meisten, denn mit dem Putzi kann ich eben noch gar nicht rechnen, denn vorderhand ist ihm noch Fußballspielen, Boxen und anderer Sport vorne dran. Und die Überraschung, die er mir zu meinem Geburtstag veranstaltete, war freilich groß, aber leider nicht erfreulich. Er experimentiert für sein Leben gern in der Stube, die einst Hans und Rico gehörte, aber ich hab's ihm doch vorderhand ernstlich untersagen müssen. Denn der Knall, mit dem er mich überraschen wollte, war derart stark, daß Mutter beinahe eine Ohnmacht bekam, und daß es mich einen meiner schönsten Kolben kostete. Der Drang zu Chemie und Experimenten ist ja in ihm, und da heißt's halt Geduld haben. Hans nennt ihn, wenn er kommt, einen Lausbuben, aber im Grund des Herzens hat er den Schlingel, wie wir alle, doch furchtbar gern. Und er ist seinem Bruder ganz besonders dankbar, daß er ihn von dem Druck des Apothekerseinmüssens erlöst hat, denn Apotheker werden will der Putzi, das steht fest.
Ich werde hinuntergerufen, darum lebt wohl!
Euer getreuer Vater.«
Brief von Miezi an ihre Eltern.
»Neapel, im November 19..
Liebste, beste Eltern!
Nun seid Ihr, will's Gott, glücklich wieder in L. angelangt und habt alles wohl und in Ordnung angetroffen. Wie herrlich war's doch, Euch hier zu haben, Euch alles zeigen zu können, wieder Eure lieben, lieben Gesichter zu sehen und Eure Stimmen zu hören!
Eben kam Rico noch geschwind von der Station herüber, sah mir über die Schulter, und als er die Flecken auf dem Papier sah (leider hat's beim Radieren ein Loch gegeben), da sagte er so lieb und gut: ›Wirst Heimweh haben, mein Miezele, aber mir geht's auch so, denn Deine Eltern sind eben auch meine Eltern, und es ist leer geworden, seit sie fort sind.‹ Nebenbei gesagt, geweint habe ich nicht, ich will's nicht tun, denn ich hab's ja so furchtbar gut, nur ein bißle ein paar Tropfen sind heruntergefallen.
Ist unsere Inge wirklich eine brauchbare, kleine Hausfrau gewesen, liebs Mutterle, während Deiner Abwesenheit? Ich trau's ihr zu und hoffe nur, sie hat Dein Haushaltungsbuch doch ein wenig pünktlicher geführt als ich einst. Und der Putzi? Ich hoffe, er hat keine Streiche gemacht und ist mit der Rike gut ausgekommen! Daß der Herr Schachtelhuber ihn manchmal in der Apotheke mithelfen läßt, das laß ich ihm danken. Aber allzuviel Zutrauen, glaube ich, wird man ihm noch nicht schenken dürfen, damit's ihm nicht geht wie mir einstens mit dem Gottlobele aus Weihingen.
In der Anstalt ist seither nicht viel neues vorgefallen. Die Schwester Veronika ist mir eine treue Stütze, und täglich habe ich meine Freude, wie nett sich die zwei Ältesten von Peppina machen. Sie sollen sich immer ihre Mutter zum Beispiel nehmen, die treu und brav ist, wenn auch, wie bei ihren zwei Töchterlein, der Begriff Ordnung nicht so vorhanden ist. Und das ist wohl allen dreien nicht beizubringen, denn sie sind eben anders wie wir.
Vaterle, nun nimm Dich nur in acht, daß Du nicht einen Schnupfen bekommst, denn Du kommst jetzt aus einem warmen Klima plötzlich in den deutschen Winter hinein. Vergiß Dein Halstuch nicht und nimm Dir auch selber manchmal ein Päckchen Brustbonbons aus der Apotheke mit! Und sorg Dich nicht zu sehr um Hansens Zukunft! Das ist großartig, daß der brave Bub jetzt, wo die militärische Flugsache zu Grunde gerichtet ist, sich rasch in einer Motorenfabrik angemeldet hat und dort arbeitet. Wie Ihr mir neulich erzähltet, er habe gesagt: ›Es ist hart, von der freien Luft wieder herab auf die Erde zu müssen!‹ da hat er mich jämmerlich gedauert.
Bin so glücklich, daß mein Rico so volles Genüge in seinem Beruf findet und so anerkannt wird – trotz seines vielfach unterbrochenen Studiums – es ist eine Gnade vom lieben Gott. Und daß er diesen, den treuen Gott, den so mancher gelehrte Mann über Bord werfen zu dürfen meint, sich zu dem Leiter seines Lebens gemacht hat, das ist auch für mich der größte Halt. Was habe ich doch an ihm! Wie könnt' ich mit dem großen Haushalt und mit all den uns anvertrauten Kindern zustande kommen, wenn er nicht seinem einstigen ›Fräulein Nur-noch‹ eine genaue, fast übergenaue Zeiteinteilung gemacht hätte. Immer mehr erkenne ich den großen Wert der Zeit, die uns von Gott anvertraut ist, und aus der wir, bei richtiger Selbstzucht, erstaunlich viel herausbringen können. Ich habe mich gefreut, als ich neulich las, daß Schiller gesagt hat: ›Das erste und hauptsächlichste bei allen irdischen Dingen ist Zeit und Stunde!‹ Jetzt aber heißt's schließen. Ich gehe noch durch die Säle der Kleinen und sehe, ob alles in Ordnung ist. Noch fünf Minuten sind's. O, wie wonnig ist's, daß Ihr nun alles wißt und gesehen habt! Über die Sorge, die wir haben, wegen der mangelhaften Erziehung unseres lieben Engele durch Peppina, haben wir ja gesprochen, ebenso über Vaters Alleinsein. Da muß ja irgendwie eine Änderung getroffen werden. Aber es ist merkwürdig, wie ungern der Vater auf dieses Gespräch eingeht. Er hat eben auch den Kopf so voll von anderem, nachdem die Herren des Ausschusses ihn einstimmig wieder zum Direktor gewählt haben, und sie hoffen, daß dies der einzig richtige Ausweg sei, um das Geschäft nach und nach wieder auf die einstige Höhe zu bringen.
Tausendmal gute Nacht, felicissima notte, Ihr lieben, guten Eltern, und alle in der fernen Heimat! Das Glöcklein für die Kinder zum Schlafengehen läutet! Es hat und behält Euch lieb
Euer getreues
Miezele.«
Und nun nehmen wir aus dem Rest des Briefpäckchens den letzten. Der ist von Angela, und diesmal ist er auf etliche, aus einem Heft herausgerissene Blätter gesudelt, mit einer sehr erregten Handschrift, trotzdem die Kleine in letzter Zeit entschieden Fortschritte in der Schule gemacht hatte.
»Neapel, den 1. März 19..
Tante Maria, Onkel Karl und Rike!
(Inge und Putzi verstehen so etwas noch nicht.)
Ich bekomme eine neue Mama!
Was sagt Ihr dazu? Vater kam vor einigen Tagen eilends vom Büro und sagte: ›Ich muß verreisen, Angela, auf wie lange weiß ich noch nicht. Es ist in einer geschäftlichen Angelegenheit, und es bezieht sich auch auf dich.‹ Da wurde ich kreideweiß, wie nachher Peppina sagte, die eben hereinkam. Und es durchfuhr mich wie ein Blitz: Das ist das schon so lange gefürchtete Fräulein, das Vater nun sucht und mitbringt, und mit dem mir immer gedroht wird, und vor dem ich gräßlich Angst hatte, denn Fräuleins können oft unausstehlich sein! Es wurde mir klar, daß es so ist, als Vater beim Fortgehen mich noch so zärtlich in die Arme nahm – wißt Ihr, noch viel zärtlicher als sonst – und als er sagte: ›Ich hoffe, dir etwas mitbringen zu können, was uns beiden zur Freude wird.‹ Peppina und ich haben lange nachher darüber gesprochen, sie hatte auch Angst, aber dann sagte sie: ›Nun ja, solch ein Fräulein wäre ja immer noch einigermaßen besser als eine Stiefmutter!‹ und sie sah ganz verächtlich drein. ›Was ist das?‹ fragte ich, und da sagte sie mir, das wäre, wenn der Vater an Stelle der süßen Mammina eine andere Frau nehmen würde, und die hätte mich dann gar nicht lieb, sondern allein den Vater, und sie würde dann abends bei ihm sitzen auf unserem lieben, schönen Balkon, und ich müßte dann ins Bett. Da war ich nun ganz außer mir, und ich wurde wieder einmal zornig und strampelte mit den Füßen und sagte: ›Das will ich nicht!‹ Aber jetzt hört, wie es gegangen ist: Ich dachte noch gar nicht, daß Vater das unausstehliche Fräulein gefunden haben würde, als er schon nach fünf Tagen plötzlich wieder in die Stube trat, aber gottlob allein. Ich fiel ihm um den Hals vor lauter Glück, aber dann war ich wieder gar nicht glücklich, als er aus seiner Brusttasche eine Photographie zog, und, sie noch in die Höhe haltend, ganz vergnügt und laut sagte: ›Mein Kind, (so sagt Vater nur, wenn es etwas Wichtiges ist) mein Kind, ich habe dir etwas mitgebracht, hier, sieh dir's an im Bild, und in ganz kurzer Zeit wird es selbst zu dir kommen, und wird dich gerade so lieb haben wie jetzt deinen Vater!‹ Und er gab mir's, und wer war's? Ruth Stadelmann, Ihr wißt, die Ruth aus Luzern, die mir damals die große Schokoladetafel gab und das Püppchen und so gut für mich sorgte. Ein Fräulein, eine Erzieherin, konnte sie ja nicht sein, so sieht sie gar nicht aus, denn die haben gescheitelte Haare und eine Brille, und das hat sie nicht. Aber was war das, daß Vater sagte, sie werde zu uns kommen und bei uns bleiben, und sie habe Vater so lieb wie mich? Da ist mir plötzlich das eingefallen, was Peppina gesagt, und ich bin zu ihr hinausgelaufen, und ich glaube, ich habe geschrien, wie ich gesagt habe: ›Peppina, ich will nicht, und es darf nicht sein, daß ich eine Stiefmutter bekomme, die mich plagt, und die mich des Abends ins Bett schickt, wenn's am allerschönsten ist!‹ Und, Tante Maria, schimpf mich nicht, ich glaube, ich habe zum Schreien auch noch wiedereinmal mit den Füßen gestampft. Da kam Vater heraus und holte mich zu sich herein und er sagte: ›Ist das mein Kind, das sich so gebärdet?‹ Und dann nahm er mich auf die Knie, ich aber habe noch ärger geschluchzt und gesagt: ›Die Peppina hat gesagt …!‹ Da ist der Vater böse geworden und hat nachher lange mit ihr gesprochen. Vorher aber hat er mir das Bild nochmals gezeigt und gesagt: ›Sieh dir sie nocheinmal genau an, ob die bös aussieht! Und jetzt wollen wir einmal zusammen zuerst zu Miezi und Rico gehen und mit denen über die Sache reden.‹ Und die haben sich so furchtbar gefreut, und Miezi hat gesagt: ›Die Ruth ist einer der liebsten Menschen, die ich kenne, und ihr dürft Gott danken, daß sie zu euch kommt.‹ Der Rico aber hat ganz ärgerlich gesagt: ›Peppina ist eine Gans!‹
Tantele, Onkel, und jetzt war sie da, die Ruth, für ein paar Tage bei Montanes, und sie hat gesagt, ich dürfe ganz ruhig des Abends auf dem Balkon bei ihnen bleiben, und ihr Heinrich – so sagt sie zu Papa – habe keine von uns beiden lieber als die andere, sondern wir beide zusammen wollten ihn furchtbar lieb haben. Und so ist's jetzt auch. Und die Peppina hat am Anfang gleich fort wollen, aber dann ist sie doch geblieben, und jetzt bleibt sie für ganz, wenn die Ruth in sechs Wochen für immer zu uns zieht. Denn Vater sagt, sie dürfe nicht von uns weggehen, wo sie doch schon so viele Jahre für uns gesorgt hat, auch für die Mammina. Eins, das tue ich nicht, ich werde nie Mammina zu ihr sagen können, denn das ist so etwas ganz anders, so daß man solch einen Namen nur einem einzigen Menschen gibt. Aber sie ist gar nicht beleidigt darüber, sondern sagt: ›Dann heiß mich halt, wie du willst, am liebsten: Müeti, wie man bei uns in der Schweiz sagt!‹ Und die Tränen liefen ihr dabei herunter, denn ihr Müeti ist ja erst vor einem halben Jahr gestorben. Und deshalb weinte sie.
Nun wißt Ihr alles, und ich schließe, weil mir die Nase auf das Papier fällt, und weil die Peppina schimpft, und mich schon ein paarmal hat holen wollen.
Gruß allen, kann's nimmer aufzählen.
Eure Angela.
N. S. Ihr könnt Inge und Putzi doch das alles erzählen, wenn Ihr wollt.«
Und mit diesem inhaltsreichen Brief endet unsere Familiengeschichte, denn über all meinem Erzählen ist's Gegenwart geworden, und wie's in der Zukunft mit der Familie Neumeyer werden wird, das kann euch eure alte Tony Schumacher nicht erzählen, denn sie weiß es selber nicht. Nur das noch, daß gleich nach Ankunft von Angelas Brief ein Telegramm für die Mitglieder der Neumeyerischen Familie in Neapel ankam, worin stand:
»Hurra, der Hans kann wieder fliegen! Soeben bleibende Anstellung bekommen als Flieger eines großen Industriewerks. Hoffe, von den Lüften aus an Onkels Hochzeit teilnehmen zu dürfen!
Hans.«
»Wo bleibt denn aber diesmal das Nachwort?« höre ich meine Leser sagen. Und das bringt mich ein wenig in Verlegenheit, denn dieses – bei dem mir immer ist, als wären meine lieben Leser zum Schluß um mich her versammelt, und ich dürfte noch mit ihnen sprechen – soll frisch und anregend sein, und das ist schwer nach dem so frischen und ursprünglichen Briefchen von Angela, dem Italienerkind.
Es liegen aber um mich herum, außer den Euch mitgeteilten Briefen, noch eine große Anzahl von an mich selber gerichteten Kinderbriefen, und auch welche von Erwachsenen, die mir ausdrücklich sagen, daß sie gerade meine Nachworte gerne lesen, auch wenn sie mitunter jetzt recht ernst seien, so daß ich halt nocheinmal die Feder nehme, sie eintauche und schreibe: